Wegen Corona-Pandemie hätten manche Gruppierungen Mitglieder gewonnen

Autor: Durch Austritte werden Traditionalisten einflussreicher

Veröffentlicht am 04.09.2023 um 00:01 Uhr – Von Christoph Paul Hartmann – Lesedauer: 

Wien ‐ Der katholische Traditionalismus ist eine kleine Sonderströmung am Rand oder sogar außerhalb der Kirche – noch. Der Wiener Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger hat die Szene beleuchtet und erzählt, was manche Gruppierungen mit Rechtsextremen verbindet.

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Viele von ihnen feiern die vorkonziliare Messe, manche sind aber auch antisemitisch. Der katholische Traditionalismus ist eine zersplitterte Szene – die aber an Einfluss gewinnt. Der Wiener Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger hat sich die Szene aus der Nähe angesehen. Im Interview spricht er über kirchenpolitische Ambitionen und gemeinsame Feindbilder.

Frage: Herr Schmidinger, wie ist der katholische Traditionalismus in Mitteleuropa aufgestellt?

Schmidinger: Das ist in jedem Land sehr unterschiedlich. In der Schweiz ist er relativ stark vertreten, ebenso in Frankreich. In Deutschland ist es regional sehr unterschiedlich. Aber die Szene ist sehr zersplittert. Es gibt sehr verschiedene Strömungen mit einer unterschiedlichen Nähe und Distanz zur offiziellen katholischen Kirche. Die größte dieser Strömungen ist sicher immer noch die Piusbruderschaft, deren Verhältnis zur katholischen Kirche bis heute ungeklärt ist. Gefolgt von der Petrusbruderschaft, die eine papsttreue Abspaltung der Piusbruderschaft ist. Dann gibt es eine ganze Reihe von Splittergruppen, die teilweise extremistischer sind als die Piusbruderschaft und sich zum Beispiel abgespalten haben, als es unter Papst Benedikt XVI. diesen Versöhnungsprozess zwischen Piusbruderschaft und dem Vatikan gegeben hat. Dazu kommen Gruppen, die sich auch schon früher von der Amtskirche abgespalten haben, sogenannte sedisprivationistische und sedisvakantistische Strömungen, laut denen der Stuhl Petri von einem Usurpator besetzt ist (sedisprivationistisch) beziehungsweise verwaist ist (sedisvakatistisch). Das geht bis hin zu Konklavisten, die einen modernen Gegenpapst gewählt haben.

Frage: Wie ist es dazu gekommen, dass es da so viele kleine Splittergruppen gibt?

Schmidinger: Gruppierungen, die sehr ideologisch sind und sehr davon überzeugt sind, die einzig wahren Vertreter der wahren und reinen Lehre zu sein, neigen dazu, sich an kleinsten Details zu zersplittern. Da ist es völlig egal, ob wir von Maoisten oder katholischen Traditionalisten reden. Je dogmatischer und ideologischer eine Strömung, desto mehr neigt sie auch dazu, sich anhand der Frage zu spalten, wer jetzt die absolute Wahrheit vertritt.

Frage: Aber sie teilen ihre Herkunft als Opposition zum Zweiten Vatikanischen Konzil.

Schmidinger: Die allermeisten. Es hat kleinere Gruppen gegeben, die sich auch schon vorher entwickelt haben. Es gab zum Beispiel mit Michel Collin beziehungsweise Clemens XV. schon vor dem zweiten Vaticanum einen Gegenpapst in Frankreich, der sich zuerst bizarrerweise nicht als einziger Papst, sondern quasi als Parallelpapst verstanden hat. Da gibt es noch ein paar kleinere Gruppen in Frankreich und in Kanada, die in dieser Tradition stehen. Aber das Gros der traditionalistischen Gruppen arbeitet sich am Zweiten Vatikanischen Konzil ab und hat sich gewissermaßen wegen der Frage der "Neuen Messe", aber auch den gesellschaftspolitischen Neupositionierungen in der katholischen Kirche wie der Akzeptanz der Menschenrechte, Versöhnung mit der Demokratie, Ökumene, interreligiöser Dialog vom Vatikan abgewandt.

Bild: ©Privat

Der Wiener Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger.

Frage: Also gibt es auch Einstellungen, die diese Gruppen über alle Abgrenzungen teilen?

Schmidinger: Die Ablehnung des Zweiten Vatikanischen Konzils, liturgisch wie gesellschaftspolitisch. Alle diese Gruppen beanspruchen für sich, die einzig wahre Form der katholischen Lehre und damit auch die einzige religiöse Wahrheit zu repräsentieren. Sie lehnen den interreligiösen Dialog, aber auch die Ökumene ab. Sie sind also auch ganz strikt gegen die Kirchen der Reformation gerichtet. Zudem haben sie eine sehr stark verschwörungstheoretische Interpretation dessen, was zu dem von ihnen diagnostizierten Glaubensabfall des Vatikan geführt hat. Alle diese Gruppierungen haben mehr oder weniger explizit die Vorstellung, dass es mit Beginn des 19. Jahrhunderts eine Unterwanderung des Vatikans und der katholischen Kirche durch eine freimaurerische, möglicherweise auch freimaurerisch-jüdische Verschwörung gegeben hat, die zum Zweiten Vatikanischen Konzil und zum Glaubensabfall der römisch-katholischen Kirche geführt hätte. Man muss sich ja irgendwie erklären, warum die Kirche, die über 1.900 Jahre die einzig wahre war, plötzlich vom Glauben abgefallen sein soll.

Frage: Es geht also um Abgrenzung.

Schmidinger: In zweierlei Hinsicht: Das zeigt sich auch innerhalb der Gruppen. Diese Strukturen sind sehr geschlossen. Wer in so eine Familie hineingeboren wird, hat als Kind kaum eine Chance, wieder herauszukommen. Man versucht etwa, die Kinder von öffentlichen Schulen fernzuhalten, damit sie mit Evolutionstheorie oder Sexualerziehung nicht in Berührung kommen. In Deutschland und der Schweiz betreibt die Piusbruderschaft mehrere Internate mit Schulen. Also man versucht, die Kinder und Jugendlichen vom Rest der Gesellschaft abzuschotten. Das engt die Freiheit massiv ein, später zu entscheiden, welche Form von Religion man praktiziert, und das Ausscheiden aus so einer Gruppe ist oft mit dem Bruch mit der gesamten Familie verbunden. Das kann man als psychischen Missbrauch bezeichnen.

Es geht aber auch um Abgrenzung gegenüber anderen religiösen Traditionen. Sie setzen die Idee fort, die es in der katholischen Kirche bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil gegeben hat, dass die Juden verantwortlich für den Gottesmord wären, also eine religiös-antisemitische Positionierung. Was sie auch eint, ist ein ganz strikter Antimodernismus. Dazu gehört ein strikter Antiliberalismus, aber auch ein Antisozialismus und Antikommunismus, eine Ablehnung der Geschlechtergleichheit oder von Rechten für Homo- oder Bisexuelle.

Bild: ©picture alliance/ROPI/Antonio Pisacreta

Eine Anti-Abtreibungs-Demonstration der Piusbruderschaft 2013 in Freiburg.

Frage: Verschwörungserzählungen, Ablehnung moderner Errungenschaften wie Demokratie und Liberalismus – das klingt, als gäbe es da auch Schnittmengen zur Neuen Rechten.

Schmidinger: In einigen Ländern, vor allem in Frankreich zum Beispiel, gibt es eine sehr große Nähe. Die Familie Le Pen hat zum Beispiel engen Kontakt zur Piusbruderschaft. In Österreich ist es so, dass der Mainstream des Rechtsextremismus, basierend auf dem klassischen Deutschnationalismus, immer eher antiklerikal war. Damit gibt es zur FPÖ weniger Berührungspunkte als etwa zu rechten Kreisen innerhalb der ÖVP. In Deutschland ist es so, dass es in der AfD eher Leute aus dem evangelikalen Fundamentalismus als aus dem katholischen Traditionalismus gibt. Aber natürlich haben sehr viele Werthaltungen, die von katholischen Traditionalisten verfolgt werden, Schnittmengen mit der extremen Rechten, ganz besonders natürlich die antiislamischen und antijüdischen Positionen.

Frage: Werden denn diese traditionalistischen Gruppen auch gesellschaftlich wirkmächtig?

Schmidinger: Wenig, dafür sind sie zu klein. Alle Kandidatur-Projekte rechter christlicher Splittergruppen sind bei unterschiedlichen Wahlen eigentlich immer gescheitert. Was allerdings nicht gescheitert ist, ist zum Beispiel in Österreich der Versuch, innerhalb der ÖVP, also der klassisch christlich-sozialen Partei, am rechten Rand einzelne Kandidaten oder Kandidatinnen als Kompromisskandidaten zwischen sehr konservativen und traditionalistischen Strömungen, teilweise mit Hilfe evangelikal-fundamentalistischen Gruppen, in Gemeinderäte oder Parlamente zu bringen. Das sind aber punktuelle Zusammenarbeiten unterschiedlicher rechter christlicher Strömungen, die sich zum Beispiel bei der Abtreibungsfrage zusammentun. Wie nachhaltig diese Kooperationen sind, ist fraglich. Denn aus Sicht des klassischen katholischen Traditionalismus ist eine längerfristige Zusammenarbeit mit evangelikalen Fundamentalisten eigentlich allein schon deshalb unmöglich, weil die Kirchen der Reformation aus Sicht des katholischen Traditionalismus Häretiker sind.

„Durch die vielen Kirchenaustritte, vor allem der Liberalen, wird das relative Gewicht der Konservativen, aber auch der Traditionalisten, damit größer.“

—  Zitat: Thomas Schmidinger

Frage: Wie sieht es denn mit dem Einfluss innerhalb der Kirche aus?

Schmidinger: Ich würde etwa bei der Petrusbruderschaft nicht sagen, dass das eine sehr einflussreiche Gruppierung ist, aber sie stellen durchaus Gemeindepriester. Sie sind aber nicht so einflussreich wie große konservative – aber nicht traditionalistische – Strömungen wie das Opus Dei. Punktuell gibt es Zusammenarbeiten, zum Beispiel in der Abtreibungsfrage oder in der Ablehnung von Gendermainstreaming oder die Feindschaft gegenüber sexueller Vielfalt. In Wien gibt es zum Beispiel immer wieder Demonstrationen gegen die Pride-Parade aus diesem traditionalistischen Spektrum, wo sich manchmal auch konservative Gruppierungen anschließen.

Aber die Strategie dieser Traditionalisten, ganz besonders jener innerhalb der katholischen Kirche, ist eher eine langfristige. Man rechnet damit, dass die liberalen Katholiken sowieso irgendwann das Weite suchen und die Kirche verlassen und dass sie als die treuesten Katholiken irgendwann die Mehrheit innerhalb der Kirche haben und sie sozusagen übernehmen können.

Frage: Wie ist denn die Entwicklung der Mitgliederzahlen dieser traditionalistischen Gruppen?

Schmidinger: Aussagen zu den Mitgliederzahlen sind in dieser Szene schwierig, weil die größten Organisationen ausschließlich Priestervereinigungen sind. Mitglieder der Piusbrüder sind nur die Priester, die Laien zählen offiziell nicht mit. Aber tendenziell sind die Piusbrüder, aber auch die Petrusbrüder und einige der anderen Gruppierungen im Wachstum begriffen. Das gilt aber nicht für alle. Je extremer die Strömungen sind, desto kleiner sind sie. Oft scharen sie sich um eine charismatische Führungsfigur. Wenn die nicht mehr da ist, verschwinden manche Gruppen auch wieder. Aber gerade in der Corona-Krise hat die Szene insgesamt und dabei ganz besonders die Piusbruderschaft eher an Zulauf gewonnen. Das liegt auch daran, dass die Mainstream-Gemeinden der katholischen Kirche sich an alle Auflagen des Staates gehalten haben und eine Zeit lang ihre Gottesdienste eingestellt haben. Da sind Leute, die ohnehin schon am konservativen Rand dieser Mainstream-Gemeinden waren, teilweise bei der Piusbruderschaft gelandet. Sie haben sich explizit gegen die staatlichen Maßnahmen gerichtet und sich gegen die Impfung und ganz besonders natürlich gegen die Impfpflicht gewandt. Das hat auch einen Teil des Wachstums ausgemacht.

Frage: Ist angesichts dessen denn die Vorstellung, nach und nach die Kirche zu übernehmen, realistisch?

Schmidinger: Kurzfristig nicht, aber diese Gruppierungen denken zum Teil in Jahrhunderten. Was zutrifft ist, dass in allen Volkskirchen die liberalen Gläubigen weniger werden. Zudem sind liberale oder progressive Christen viel weniger organisiert und deutlich weniger machtorientiert als die großen konservativen oder gar traditionalistischen Organisationen. Die Liberalen engagieren sich eher in Mainstream-Pfarrgemeinden und nicht in machtbewussten Kaderorganisationen. Durch die vielen Kirchenaustritte, vor allem der Liberalen, wird das relative Gewicht der Konservativen, aber auch der Traditionalisten, damit größer. Zwar sprechen wir etwa mit Blick auf Österreich bei den Traditionalisten insgesamt vielleicht von 2-3.000 Personen. Das ist noch lange keine Mehrheit. Aber diese Personen sind in sehr machtbewussten Kaderorganisationen organisiert. Insofern sehe ich zwar nicht für die nächsten Jahrzehnte eine Gefahr der Übernahme der katholischen Kirche durch diese Kräfte. Aber die Tendenz, dass diese Gruppierungen in Relation zu den schwächer werdenden Liberalen stärker werden, die würde ich schon sehen.

Von Christoph Paul Hartmann

Buchtipp

Thomas Schmidinger: "Wenn der Herrgott das Wichtigste auf der Welt ist", Wien, Mandelbaum-Verlag, 2023