Erzbischof Koch: Für Lebensschutz, aber gegen zentrale Inhalte der AfD
An diesem Samstag findet der jährliche "Marsch für das Leben" statt – diesmal zum ersten Mal nicht nur in Berlin, sondern parallel auch in Köln. Der Marsch als zentrale Veranstaltung der deutschen Lebensschutz-Bewegung war und ist umstritten. Kritiker werfen Organisatoren und Teilnehmern seit Jahren vor, rechtsoffen zu sein und sich gegen das Selbstbestimmungsrecht von Frauen zu richten. Wie blickt der Berliner Erzbischof Heiner Koch auf den Marsch? Warum lief auch er schon bei der Demonstration mit, obwohl dort immer wieder auch AfD-Politiker und -Sympathisanten gesichtet werden? Und wie blickt er auf die aktuellen politischen Entwicklungen in Sachen Lebensschutz? Diese und weitere Fragen beantwortet Koch, der auch Vorsitzender der Kommission für Ehe und Familie der Deutschen Bischofskonferenz ist, im Interview mit katholisch.de.
Frage: Erzbischof Koch, an diesem Wochenende findet in Berlin erneut der "Marsch für das Leben" statt. Einerseits hat die Veranstaltung in der Vergangenheit lange steigende Teilnehmerzahlen verzeichnet, andererseits war sie immer und ist sie bis heute stark umstritten. Kritiker werfen den Organisatoren und Teilnehmern vor allem vor, rechtsoffen zu sein. Als Beleg dafür wird unter anderem angeführt, dass immer wieder auch AfD-Politiker und -Sympathisanten mitgelaufen sind. Wie blicken Sie auf den "Marsch für das Leben"?
Koch: Ich bin vor allem dankbar, dass Menschen – und hier vor allem Christen – bei dieser Veranstaltung – das Wort "Marsch" gefällt mir, ehrlich gesagt, nicht besonders – den Schritt in die Öffentlichkeit wagen, um mit ihrem Gesicht und ihrer Stimme für den Schutz des Lebens einzutreten. Ich halte dies vor allem deshalb für wichtig, weil das Bewusstsein für den Wert des Lebens von seinem Anfang bis zu seinem Ende nach meinem Eindruck seit einiger Zeit schwindet. Sei es aufgrund gesellschaftlicher und politischer Veränderungsprozesse, sei es aufgrund des medizinischen Fortschritts: Die Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens wird mehr und mehr in Frage gestellt. Dem müssen gerade wir Christen uns mit aller Macht entgegenstellen.
Frage: Und die Kritik am Marsch? Sie selbst haben in den vergangenen Jahren ja auch ein paar Mal teilgenommen und dadurch in den Augen der Kritiker durchaus gemeinsame Sache mit Leuten wie der AfD-Politikerin Beatrix von Storch gemacht ...
Koch: Ich nehme immer wieder an Demonstrationen zu ganz unterschiedlichen Themen teil. Und natürlich sind da immer auch Menschen dabei, mit deren Verhalten ich mich schwertue und deren sonstige Positionen ich nicht teile. Wenn ich nur zu Demonstrationen gehen wollte, bei denen alle anderen Teilnehmenden zu einhundert Prozent meine Überzeugungen teilen, müsste ich zu Hause bleiben. Ich möchte mir aber nicht die Chance nehmen lassen, auch im Rahmen einer Demonstration öffentlich für das menschliche Leben einzutreten. Aber, auch das möchte ich betonen: Meine Haltung zur AfD ist ganz klar. Ich habe immer wieder gesagt, dass ich die zentralen Inhalte dieser Partei und ihrer führenden Vertreter ablehne. Daran kann es keinen Zweifel geben.
Frage: Was sagen Sie denn zu der ebenfalls häufig geäußerten Kritik, dass einige Teilnehmer des Marsches mit Blick auf schützenswertes Leben eine eher selektive Sichtweise haben? Das Leben von Menschen auf der Flucht oder von queeren Menschen scheint, so der Vorwurf, für manche Teilnehmer jedenfalls nicht sonderlich schützenswert zu sein.
Koch: In der Tat war das vor allem in den frühen Jahren dieser Veranstaltung ein Problem. Für mich und unsere Kirche aber ist klar: Wir müssen uns gegen alle Gefährdungen des menschlichen Lebens einsetzen. Ob am Lebensanfang, am Lebensende, auf der Flucht oder mit Blick auf die Vielfalt sexueller Orientierungen und der entsprechenden Lebensentwürfe: Menschliches Leben ist immer unantastbar! Dies ist auch ein zentraler Gradmesser für die Glaubwürdigkeit des "Marsches für das Leben". Es muss eindeutig klar sein, dass das Leben immer und unter allen Umständen schützenswert ist. Ich nehme aber durchaus wahr, dass diese Grundüberzeugung dort immer stärker zum Ausdruck kommt.
„Der Schutz des menschlichen Lebens ist für die gesamte Bischofskonferenz ein zentrales Thema, gerade auch angesichts der aktuellen politischen Situation.“
Frage: Dennoch: Was wäre für Sie ein Punkt, ab dem Sie eine Teilnahme an dem Marsch mit Ihrem Gewissen nicht mehr vereinbaren könnten?
Koch: Wenn klar rechte Personen oder Gruppen eine führende Rolle bei der Veranstaltung übernehmen oder gar in der Trägerschaft tätig werden würden. Das kann ich derzeit aber nicht erkennen. Im Gegenteil: Ich nehme eher wahr, dass man von Seiten der Veranstalter heute auf eine größere Distanz zu entsprechenden Leuten achtet.
Frage: Die deutschen Bischöfe – so zumindest der Eindruck vieler Beobachter – tun sich mit dem Marsch mehrheitlich schwer. Zwar mögen sie das inhaltliche Anliegen teilen, doch zu sehr will man sich mit der Demonstration offenbar nicht gemeinmachen. Immerhin nehmen immer nur wenige Bischöfe daran teil, andere senden eher pflichtschuldig klingende Grußworte. Was hören Sie von Ihren Mitbrüdern zu diesem Thema?
Koch: Der Schutz des menschlichen Lebens ist für die gesamte Bischofskonferenz ein zentrales Thema, gerade auch angesichts der aktuellen politischen Situation. Mit Blick auf den Marsch denke ich aber, dass es für viele Mitbrüder vor allem eine zeitliche und logistische Frage ist, ob sie sich auf den oftmals weiten Weg nach Berlin machen oder nicht. Ein Desinteresse an der Demonstration oder gar eine grundsätzliche Ablehnung kann ich in der Konferenz jedenfalls nicht erkennen. In diesem Jahr findet der Marsch ja erstmals nicht nur in Berlin, sondern parallel auch in Köln statt. Vielleicht ist diese "Regionalisierung" der Veranstaltung, die man ja durchaus noch weiterdenken könnte, eine Chance, dass auch mehr Bischöfe eine Teilnahme ins Auge fassen.
Frage: Denken Sie, dass der Marsch dem Anliegen des Lebensschutzes in Deutschland nützt – oder schadet er angesichts der jährlich wiederkehrenden Kontroversen eher?
Koch: Auf jeden Fall hält er das Thema im Gespräch – und das finde ich wichtig. Zugleich darf sich der Einsatz für das Leben nicht in dieser einen Demonstration erschöpfen. Gerade als katholische Kirche müssen wir uns immer wieder fragen, ob wir genug für den Schutz des Lebens tun. Sind unsere Beratungsstellen für Familien, Frauen und Kinder gut genug ausgestattet, um wirklich für diese Menschen da zu sein und ihnen in Notlagen zur Seite zu stehen? Finden schwangere Frauen, die sich in seelischer Not befinden, oder Frauen, die sich – aus welchen Gründen auch immer – für eine Abtreibung entschieden haben, in unseren Pfarrgemeinden Heimat und Unterstützung? Das sind Fragen, die uns ebenfalls umtreiben müssen.
Frage: Haben Sie schon Antworten auf diese Fragen?
Koch: Unsere Beratungsstellen leisten herausragende Arbeit, da brauchen wir uns sicher nicht zu verstecken. Was die Pfarrgemeinden angeht, so sagt mir mein Gefühl jedoch, dass wir noch sehr viel offener werden müssen. Das gilt übrigens auch für die Unterstützung von Alleinerziehenden und im Umgang mit Menschen, die in ihren Lebensumständen und ihrer Lebensweise nicht vollständig mit einem "katholischen Ideal" übereinstimmen.
Frage: Halten Sie das seit Jahren nahezu unveränderte Format des Marsches – eine Kundgebung und ein anschließender Gang durch das Berliner Stadtzentrum – noch für gut und zeitgemäß oder könnten Sie sich auch mal etwas anderes vorstellen?
Koch: Es gibt ja bereits andere Formate wie die "Woche für das Leben", die wir weiter entwickeln sollten. Ich denke eher an ein "Fest für das Leben", zu dem wir einladen. In jedem Fall warne ich davor, in Ritualen zu erstarren. Denn Routine darf der Lebensschutz nie werden!
Frage: Schauen wir mal auf die Politik, denn das inhaltliche Anliegen des Marsches hat in der aktuellen Legislaturperiode des Bundestages ja noch einmal an Relevanz gewonnen. Die Ampelkoalition war und ist seit ihrem Start mit mehreren Vorhaben beschäftigt, die sowohl den Anfang als auch das Ende des Lebens betreffen. Wie bewerten Sie bei diesen ethischen Fragen die Politik der Koalition und die entsprechenden Debatten im Parlament?
Koch: Ich nehme mit Respekt wahr, dass der Bundestag mit einer hohen Ernsthaftigkeit über diese Themen diskutiert. Das manchmal zu hörende Vorurteil, dass manche Abgeordnete es sich bei ethischen Fragen zu leicht machen würden oder gar nicht daran interessiert seien, kann ich jedenfalls nicht nachvollziehen. Auch in den Gesprächen, die ich mit den verschiedenen Parteien führe, erlebe ich in aller Regel gut informiert, nachdenkliche und an der Sache orientierte Politiker.
„Natürlich ist es für jeden Christen schmerzhaft, wenn der Lebensschutz durch Entscheidungen der Politik in Frage gestellt oder sogar ausgehöhlt wird. In einer Demokratie wird man die eigenen Überzeugungen aber nie zu einhundert Prozent verwirklicht sehen.“
Frage: Mitunter beklagen vor allem konservative Christen, dass christliche Grundüberzeugungen gerade im Bereich des Lebensschutzes unter der Ampelkoalition keine Rolle mehr spielten und man als Christ in diesen Fragen inzwischen politisch heimatlos sei. Können Sie das nachvollziehen?
Koch: Nur teilweise. Natürlich ist es für jeden Christen schmerzhaft, wenn der Lebensschutz durch Entscheidungen der Politik in Frage gestellt oder sogar ausgehöhlt wird. In einer Demokratie wird man die eigenen Überzeugungen aber nie zu einhundert Prozent verwirklicht sehen. Deshalb sollte man auch als Christ strategisch denken und sich bei Gesetzesvorlagen zum Lebensschutz immer fragen, mit welcher Vorlage am meisten für den Lebensschutz erreicht werden kann – auch wenn das mitunter zur Folge hat, dass man schmerzhafte Kompromisse eingehen muss. Nehmen Sie nur die aktuelle Debatte um die mögliche Streichung von Paragraf 218: Unter den gegebenen Umständen bin ich eher für eine Beibehaltung des Paragrafen und damit für eine Regelung, mit der ich mich nach wie vor schwertue.
Frage: Sie sprechen es an: In der Koalition – konkret vor allem bei Bundesfamilienministerin Lisa Paus – gibt es in der Tat Bestrebungen, nach Paragraf 219a – dem Werbeverbot für Abtreibungen – auch Paragraf 218 aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Wie blicken Sie auf die aktuelle Diskussion?
Koch: Die Streichung von Paragraf 218 wäre ein dramatischer Angriff auf den Schutz ungeborener Kinder. Wir dürfen nicht hinnehmen, dass der in den 1990er Jahren mühsam erreichte Kompromiss beim Abtreibungsstrafrecht immer weiter ausgehöhlt wird. Meine große Sorge ist, dass bei einer Streichung von Paragraf 218 das Bewusstsein für den Wert des ungeborenen Lebens weiter sinkt und Abtreibungen immer mehr zu einer normalen medizinischen Leistung werden. Das aber darf nie passieren.
Frage: Die Kirchen sind nicht an einer Ende März eingerichteten Kommission beteiligt, die im Auftrag der Bundesregierung eine Regelung des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des Strafrechts prüfen soll. Das legt nahe, dass die kirchliche Stimme bei diesem Thema aus Sicht der Regierung nicht relevant ist, oder?
Koch: Mir wurde auf entsprechende Nachfragen, warum die Kirchen nicht beteiligt wurden, wiederholt erklärt, dass die Kommission ganz bewusst nur mit Wissenschaftlern besetzt worden sei, um sachlich und neutral verschiedene Optionen für eine künftige Neuregelung zu erörtern. Diese Argumentation kann ich nicht nachvollziehen. Zum einen kann man eine hochemotionale Frage wie den Abbruch einer Schwangerschaft nie rein sachlich behandeln. Und zum anderen: Warum sollten Kirchenvertreter nicht in der Lage sein, sich in der Kommission angemessen an den dortigen Debatten zu beteiligen und ihre Sichtweise einzubringen? Inzwischen heißt es nun, dass zu einem späteren Zeitpunkt eine breitere Debatte geführt werden soll, an der dann auch die Kirchen beteiligt werden sollen. Darauf hoffe ich, und dafür werde mich auch einsetzen.