Angriffe aus allen Richtungen: Die Kritik an Glaubenspräfekt Fernandez
Die Risse sind nicht neu, sie sind nur sichtbar geworden. So lautet ein Satz, mit dem der Chefdogmatiker des Papstes, Kardinal Victor Fernandez, auf die nicht enden wollende Kritik an seiner Erklärung "Fiducia supplicans" reagiert. Am 18. Dezember veröffentlichte die vatikanische Glaubensbehörde das von Papst Franziskus genehmigten Dokument, das erstmals katholischen Priestern gestattet, unverheiratete, wiederverheiratete und homosexuelle Paare zu segnen. Unter bestimmten Voraussetzungen allerdings: Der Segen darf nicht wie eine Trauungsfeier wirken, und er muss außerhalb von Gottesdiensten stattfinden.
Zwar stellen sich unter anderem deutsche, schweizerische, belgische und französische Bischöfe hinter die unerwartete Öffnung und interpretieren sie als Bestätigung für eigene, mitunter auch schon weiter gehende Vorstöße in diese Richtung. Sehr viel lauter ist jedoch die Kritik an "Fiducia supplicans". Früh gingen afrikanische Bischöfe auf Konfrontationskurs, ebenso einige Bischöfe in Asien, Osteuropa und Lateinamerika. Auch zahlreiche Priester im Erzbistum Madrid bekundeten, dass sie sich weigern würden, derartige Segnungen durchzuführen.
Auffällig kurz äußerte sich die Portugiesische Bischofskonferenz. In nur einem Satz teilte sie mit, dass "Fiducia supplicans" an der kirchlichen Ehelehre nichts ändere und die Bischöfe in "voller Gemeinschaft mit dem Heiligen Vater" stünden. Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin – einer von Franziskus engsten Mitarbeitern im Vatikan – betonte, die Kirche müsse dem Evangelium, der Tradition und ihrem Erbe treu sein. Ganz anders äußerten sich die Kurienkardinäle Gerhard Ludwig Müller und Robert Sarah. Sie sprachen von Gotteslästerung beziehungsweise Häresie.
Nicht einmal ein Monat nach "Fiducia supplicans" Streit um Orgasmus-Buch
Kritik äußerten aber auch Theologinnen und Theologen aus Deutschland – wenn auch aus ganz anderen Gründen. "Fiducia supplicans" sei keine angemessene Antwort auf die Vertrauensfrage der Katholiken, schrieb die Dogmatikerin Julia Knop. Es reiche nicht aus, homosexuelle Paare nebenbei zu segnen. Liturgiewissenschaftler Benedikt Kranemann bemängelte die Fixierung auf Paare in "irregulären Situationen". Das Dokument sei der Kirche und der Menschen unwürdig. Von einer Mogelpackung sprach Moraltheologe Franz-Josef Bormann. Es fehlten die notwendigen normativen Korrekturen, um "Fiducia supplicans" zu legitimieren. So bestehe die Gefahr, dass die Kirche weiteres Vertrauen verspiele.
Nicht einmal einen Monat nach Erscheinen der Erklärung berichtete der konservative Kirchen-Blog "Messa in Latino" über ein rund 25 Jahre altes Buch, in dem der spätere Kardinal und damalige Jugendseelsorger Fernandez in expliziter Weise über Orgasmen schrieb. "Die Mystische Passion – Spiritualität und Sinnlichkeit" erschien 1998 in einem mexikanischen Verlag. Kurz darauf untersagte Fernandez den weiteren Abdruck des Werkes. Er habe befürchtet, es könnte falsch interpretiert werden, sagte er dem amerikanischen Online-Portal Crux.
Doch kein Skandal: Das "Orgasmus-Buch" von Kardinal Fernández
Ein Glaubenspräfekt, der als junger Seelsorger offen über den Orgasmus von Mann und Frau geschrieben hat – dieser Umstand besitzt das Potenzial zum Aufreger. Das hatten sich jedenfalls die Kritiker des Kurses von Kardinal Fernández erhofft. Ein Blick in die kleine Schrift zeigt jedoch anderes.
In einem Interview mit der spanischen Agentur EFE berichtete er, dass er vor vielen Jahren wegen des Buches schon einmal im Vatikan angezeigt jedoch nicht abgestraft worden sei. "Ich bin bereits bis in die Haarspitzen untersucht worden", sagte der Glaubenspräfekt.
Dass ein konservatives Medium das Buch mitten im Wirbel um "Fiducia supplicans" ausgegraben hat, wird von manchen Vatikanbeobachtern als Angriff auf den argentinischen Kardinal und Papst-Vertrauten gedeutet. Es gibt einen Präzedenzfall: Bereits kurz nach der Ernennung Fernandez' zum Glaubenspräfekten empörten sich konservative US-Medien über eine alte Veröffentlichung aus seiner Feder zum Thema Küssen.
Orgasmus-Buch hat andere Dimension, als Kuss-Buch
In beiden Fällen – beim Küssen- und beim Orgasmus-Buch – erklärte Fernandez, er habe als Seelsorger mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen über Sexualität und Spiritualität ins Gespräch kommen wollen. "Die Mystische Passion" hat allerdings eine andere Dimension als "Heile mich mit deinem Mund" zum Thema Küssen. In dem Orgasmus-Buch beschreibt Fernandez auch die spirituell-exstatische Erfahrung eines minderjährigen Mädchens.
Der Geistliche gibt das Liebesgedicht der 16-Jährigen beim Anblick Jesu Christi wieder. Fernandez paraphrasiert: "Ich streichle deine Hände, Herr, ich verschlinge deine Finger mit meinen, ich spüre die Wärme und Zartheit deiner Haut." Die Textstelle geht mit der Liebkosung weiterer Körperteile weiter.
Vor dem Hintergrund des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche haben diese Passagen im Vatikan und darüber hinaus Kopfschütteln hervorgerufen – zumal der Autor heute die Vatikanbehörde leitet, die für die Verfolgung von Missbrauchstaten zuständig ist. Zwar hat der Papst persönlich Fernandez bei dessen Ernennung versichert, dass er sich um die Abteilung Missbrauch im Glaubensdikasterium nicht kümmern müsse. Er solle sich auf den "Hauptzweck" konzentrieren: dir Glaubenslehre. Missbrauchsbetroffene fordern Fernandez' Rücktritt vor allem deshalb, weil er in seiner Zeit als Erzbischof in Argentinien einen mutmaßlichen klerikalen Missbrauchstäter nicht verurteilt hatte.
Die Kritik der Konservativen zielt in eine ganz andere Richtung. Der "Catholic Herald" sah die "exotische" und "sinnliche" Theologie des neuen Chefdogmatikers im Vatikan in der Nähe von Esoterik und Schwarzer Magie. Sowohl Fernandez als auch Esoterik-Anhänger begriffen Sex als Mittel, um übersinnliche Erfahrungen zu machen, so das Argument.
So sieht sich der Kardinal von allen Richtungen unter Beschuss – sei es wegen "Fiducia supplicans", sei es wegen Büchern, die er vor mehr als 25 Jahren schrieb. Die Frage ist, wie Papst Franziskus den Wirbel um seinen Landsmann aufnimmt. Bislang scheint er hinter Fernandez zu stehen.
Richtungsweisend für künftiges Konklave?
Zumindest verteidigte der Papst am Wochenende in der italienischen Fernseh-Talkshow "Che Tempo Che Fa" das bislang wichtigste Dokument seines Glaubenspräfekten. "Der Herr segnet alle", sagte er. Es komme dann aber darauf an, was die Menschen mit diesem Segen anfingen. Die Aufgabe der Kirche sei es, sie an die Hand zu nehmen und sie nicht von vornherein zu verurteilen.
Unter konservativen Franziskus-Kritikern im Kardinalskollegium werden die jüngsten Turbulenzen um Franziskus und Fernandez mit einer Portion Schadenfreude registriert: Nun müsse auch den gemäßigt-kritischen, bislang noch loyalen Anhängern der Öffnungslinie des Papstes deutlich geworden sein, welches Spaltungspotenzial von dessen Öffnungsversuchen ausgehe.
Für ein in den kommenden Jahren anstehendes Konklave habe Fernandez allen gezeigt, wie es auf keinen Fall weitergehen sollte, heißt es in diesen Kreisen. Und den Namen des kongolesischen Kardinals Fridolin Ambongo Besungu solle man sich merken. Immerhin habe er innerhalb von zwei Wochen die Kritik und den Widerstand aller afrikanischen Bischofskonferenzen gegen das Fernandez-Papier abgefragt, die Gegenposition klar und dogmatisch sauber auf den Punkt gebracht und gleichzeitig mögliche Spaltungstendenzen abgewehrt.