"Wichtiger Lernprozess" durch den Ukraine-Krieg

Sozialethiker Vogt: Christliche Friedensethik muss konfliktfähig sein

Veröffentlicht am 24.02.2024 um 12:00 Uhr – Von Matthias Altmann – Lesedauer: 

Bonn/München ‐ Nicht nur Europa muss sich durch den Ukraine-Krieg von scheinbaren Gewissheiten verabschieden – er stellt auch eine Zäsur für manche friedensethische Überlegungen dar. Im katholisch.de-Interview erklärt der Sozialethiker Markus Vogt, warum es eine "konfliktfähige" christliche Friedensethik braucht.

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Vor zwei Jahren, am 24. Februar 2022, begann der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Dieser stellt nicht nur die internationale Gemeinschaft vor große Herausforderungen, sondern richtet auch Anfragen an die christliche Friedensethik. Diese ist einer der Arbeitsschwerpunkte von Markus Vogt, Professor für Christliche Sozialethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Im Interview spricht er von einem Lernprozess angesichts aktueller globaler Konflikte und ruft zu einer Revision von Teilen der christlichen Friedensethik auf. Außerdem wirft er einen kritischen Blick auf die vatikanische Diplomatie im Ukraine-Krieg.

Frage: "Frieden schaffen ohne Waffen" ist ein hehres Ziel – klingt aber angesichts der vielen weltweiten Bedrohungslagen wie des Ukraine-Kriegs ziemlich utopisch. Inwiefern gilt dieser Satz heute noch, Herr Vogt?

Vogt: Wir müssen uns von diesem Satz nicht verabschieden, ihn aber differenzierter betrachten. Gegenwärtig ist es notwendig, die Freiheit, Menschenrechte und Demokratie wehrhaft zu verteidigen. Der Satz behält aber insofern Gültigkeit, als es für Frieden natürlich auch weiterhin diplomatische Bemühungen und verstärkt Analysen sozialer Konflikte braucht. Frieden hat nicht nur die Dimension, der Gewalt Einhalt zu gebieten. Man muss ebenso die kulturellen Faktoren ernst nehmen: Gerade in der Ukraine handelt es sich ja auch um einen Identitätskonflikt, der verstanden werden muss. Hier sind die Kirchen gefragt, aktiv zu werden und etwa das Recht der Ukraine auf eine kulturelle, religiöse und nationale Autonomie auch mit "geistigen Waffen" zu verteidigen.

Frage: Welche Ansätze hat die kirchliche – oder weiter gefasst christliche – Friedensethik bei den aktuellen Krisen, deren Besonderheiten Sie gerade beschrieben haben?

Vogt: Die wichtigste Aufgabe bleibt, im Dialog mit den Menschen deren Erfahrungen zu hören. Die Menschen in der Ukraine etwa haben jetzt zwei Jahre Kriegserfahrung. Es ist für die christliche Friedensethik enorm wichtig, Solidarität mit der angegriffenen Nation auszuüben – und nicht, eine Scheinneutralität zu bewahren, die dem Aggressor freie Hand lässt.

Frage: Wird im Ukraine-Krieg die Stimme der christlichen Friedensethik denn überhaupt wahrgenommen?

Vogt: Auf jeden Fall. Ich denke da vor allen an die Solidaritätsaktion von Renovabis. Das Hilfswerk ist eine wichtige Stimme und hat gerade zusammen mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken eine hervorragende Reflexion unter dem Titel "Kämpfen für den Frieden" veröffentlicht. Aber auf der Ebene der hohen Diplomatie ist die Kirche bis jetzt leider nicht besonders wirksam.

Markus Vogt
Bild: ©privat

"Teile der christlichen Friedensethik brauchen vor dem Hintergrund der veränderten Form von Kriegsführung und geopolitischen Machtkonflikten auf jeden Fall eine Revision", sagt der Münchner Sozialethiker und Friedensethik-Experte Markus Vogt.

Frage: Wenn man aktuell auf die christliche Friedensbewegung schaut: Viele kritisieren, dass ihre Vorschläge aus der Zeit gefallen seien und deren Vokabular im Kalten Krieg hängen geblieben wäre. Wie sehen Sie das?

Vogt: Das sehe ich durchaus ähnlich. Deutschland durchlebt gerade einen wichtigen Lernprozess: Wir haben eine starke pazifistische Tradition, die aus einer Komfortzone kommt. Uns wurde über Jahrzehnte die Sicherheit von den USA garantiert. Sollte Donald Trump nochmal US-Präsident werden, ist keineswegs garantiert, dass wir weiter unter diesem Sicherheitsschirm leben können. Und wenn die Ukraine den Krieg verlieren würde, wäre auch die Sicherheit in Europa gefährdet. Wir müssen also aus dieser Komfortzone herauskommen und erkennen: Die christliche Friedensethik muss konfliktfähig sein, muss die Realität des Bösen, der Aggression, der destruktive Energien ernst nehmen und bereit sein, auch mit Leib und Leben für die Verteidigung der Freiheit, der Menschenwürde und der Solidarität mit den Angegriffenen einzustehen. Da findet gerade ein Realismus-Check für die christliche Friedensethik statt.

Frage: Was verstehen Sie ganz konkret unter einer konfliktfähigen Friedensethik – vielleicht auch mit Blick auf das Thema Aufrüstung und Waffenlieferungen?

Vogt: Eine Konsequenz konfliktfähiger Friedensethik ist die Bereitschaft, die Ukraine nicht einfach der brutalen Aggression des gegenwärtigen russischen Regimes auszuliefern, sondern sie im europäischen und weltweiten Verbund so mit Waffen zu unterstützen, dass sie sich verteidigen kann. Ziel ist es aber nicht, Russland zu besiegen, sondern das Regime an den Verhandlungstisch zu zwingen. Wir brauchen auch eine handlungsfähige Bundeswehr, wozu es erheblichen Nachholbedarf gibt.

Frage: Es gibt eine lange Tradition kirchlicher Lehrschreiben zur Friedensethik. Inwiefern funktionieren deren Ansätze noch?

Vogt: Die Enzyklika "Pacem in terris" (1963) von Papst Johannes XXIII. ist die wichtigste Friedensschrift der katholischen Kirche. Sie wurde veröffentlicht, nachdem die Welt in der Kubakrise vor einem drohenden Atomkrieg gestanden war. Damals war die Vision die Überwindung der Institution des Krieges durch die Institutionen des Rechts. Man hat sehr auf die Vereinten Nationen (UN) gehofft. Das Desaster heute besteht darin, dass Russland Mitglied des UN-Sicherheitsrats ist und das internationale Recht auf absolut krasse Weise bricht. Das heißt, die Glaubwürdigkeit des Weltsicherheitsrates ist radikal dahin. Damit funktioniert das Modell nicht mehr, das die Vision von "Pacem in terris" war. Jetzt müssen wir also mit dem Vakuum eines unglaubwürdig gewordenen Sicherheitsrats zu Friedenssicherungsmaßnahmen greifen. Jenseits der institutionellen Blockaden brauchen wir eine inhaltliche Auseinandersetzung darüber, wie die Schutzverantwortung der internationalen Staatengemeinschaft genau zu definieren, abzugrenzen und praktisch umzusetzen ist. Teile der christlichen Friedensethik brauchen vor dem Hintergrund der veränderten Form von Kriegsführung und geopolitischen Machtkonflikten auf jeden Fall eine Revision.

Frage: Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang das neue Friedenswort der deutschen Bischöfe?

Vogt: Das Friedenswort trägt der veränderten Weltlage mit der akuten Gefahr einer weltweiten Eskalation der Kriege in nüchterner Weise Rechnung. Prägend ist die integrale Sichtweise des Friedens, also der Zusammengehörigkeit von Frieden, Gerechtigkeit, Menschenrechten, Energie- und Cybersicherheit sowie Migrationspolitik und Nachhaltigkeit. Damit wird das Paradigma des gerechten Friedens weiterentwickelt. Die Bischöfe sehen gegenwärtige Rüstungsanstrengungen als unverzichtbares Element einer verantwortlichen Politik, formulieren aber auch Grenzen legitimer Gegengewalt. Und der Titel "Frieden diesem Haus" knüpft an den Untertitel der Enzyklika "Laudato si'. Über die Sorge für das gemeinsame Haus" (2015) von Papst Franziskus an. So wird die weltweite Dimension betont: Nur das Bewusstsein der Schicksalsgemeinschaft als Menschheitsfamilie kann die Menschheit davor bewahren, sich selbst in Konflikten zu zerfleischen.

Zerstörung in der Kathedrale von Odessa nach Raketenangriff
Bild: ©picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Jae C. Hong (Symbolbild)

Im Blick auf den Ukraine-Krieg fordert Markus Vogt "einen Dialog zwischen westlichem und östlichem Christentum als Wegbereiter des Friedens".

Frage: Religiöse Anführer wären ja eigentlich die perfekten Friedensvermittler. Wenn man auf globale Konflikte blickt, sind Religionen vielfach aber eher Teil des Problems als der Lösung. Wie kann ein Weg aus dieser Ambivalenz gelingen?

Vogt: Die Religionen sind genauso Teil des Problems wie Teil der Lösung. Oftmals sind sie vielleicht nicht die Ursache, aber ein Eskalationsfaktor für Gewalt und feindselige Abgrenzung. Dem gilt es, entgegenzuwirken. Deshalb ist es besonders wichtig, die Ambivalenz der religiösen Tradition anzuschauen: Wo wird Religion als Legitimation für den Krieg missbraucht? Derzeit vor allem durch den russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill. Hier braucht es Allianzen der Kritik. Im Christentum und im Grunde in allen Weltreligionen ist klar, dass sich die Versöhnung mit Gott immer konkret an der Versöhnung mit Menschen, der Bereitschaft zur Verständigung festmacht. In der Ukraine ist im Blick auf die Orthodoxie die ökumenische Dimension vorrangig: Wir brauchen dringend einen Dialog zwischen westlichem und östlichem Christentum als Wegbereiter des Friedens. In der Friedens- und Dialogenzyklika "Fratelli tutti" aus dem Jahr 2020 betont Papst Franziskus aber auch besonders die Versöhnung mit dem Islam.

Frage: Gibt es aus Ihrer Sicht Ansätze, wie man an einer interreligiösen Friedensethik arbeiten kann?

Vogt: Auch das ist ein Lernprozess. Es kommt darauf an, wie man den interreligiösen Dialog führt. Die traditionelle Form, dass man sich einfach auf den kleinsten gemeinsamen Nenner verständigt und harmonisierend die Differenzen außen vorlässt, hilft nicht weiter. Ein wirksamer interreligiöser Dialog muss auch die Differenzen auf den Tisch legen und sich darüber austauschen. Eine konfliktfähige Friedensethik kann man auch auf diesen Bereich übertragen. Aus ihrer Unterschiedlichkeit heraus können Religionen voneinander lernen. Es braucht keine Konsenspapiere im klassischen Format, sondern Vertrauensbildung über zum Teil tiefe kulturelle Gräben hinweg.

Frage: Der Vatikan ist aufgrund seiner internationalen Sonderstellung prädestiniert, um in internationalen Konflikten zu vermitteln – und tut das immer wieder. Aber gerade im Ukraine-Krieg scheint der Heilige Stuhl eine besonders unglückliche Figur zu machen. Wie sehen Sie das?

Vogt: Die bisherige Friedensdiplomatie des Vatikans ist hier ein ziemliches Desaster. Die Gespräche, unter anderem die von Kardinal Matteo Zuppi, sind im Grunde gescheitert. Zuerst war die Rede von einer Friedensmission, danach lediglich von einer humanitären Mission. Zudem hat die russische Propaganda diese Gespräche für ihre Zwecke missbraucht. Der Versuch, auf gleicher Ebene irgendwie neutral zu sein, indem man sagt, Russland und die Ukraine müssten sich versöhnen, ist deutlich misslungen. Frieden kann nicht erlangt werden, indem man die Unterscheidung zwischen Angreifer und dem Angegriffenen unterlässt. Da sind massive Fehler gemacht worden. Man hat nicht durchschaut, dass die russisch-orthodoxe Kirche Teil des russischen Kriegsmanipulations-Systems ist.

Frage: Sehen Sie einen Weg, den Ukraine-Krieg zu beenden? Und welche kirchlichen Akteure könnten vermitteln?

Vogt: Der Vatikan hätte schon eine Chance, zu vermitteln, weil er eben nicht nur ein staatlicher Akteur ist. In dieser Position und mit seiner geistlichen Autorität könnte er durchaus sagen, dass Frieden mit Kompromissen verbunden sein muss. Aber Recht und Unrecht müssen klar beim Namen genannt werden. Es muss zudem ein wichtiges Element einer christlichen Friedensdiplomatie sein, den Missbrauch der Religion für die Legitimation des Krieges und für Feindbilder abzuwehren. Im Augenblick scheint es von russischer Seite keine Anzeichen für eine Verhandlungsbereitschaft zu geben. Aber wenn irgendwann Gespräche doch möglich sind, müssen die vorbereitet sein. Und Erfahrung, wie Kriege beendet werden können, gibt es in der Kirche ja durchaus. Ich denke da an die Gemeinschaft Sant'Egidio, die viel Erfahrung auf dem diplomatischen Parkett hat. Deren Strategie ist es aber, nicht vorzeitig an die Öffentlichkeit zu treten. Ich glaube, dass die katholische Kirche nach wie vor ein wichtiger Faktor sein kann.

Von Matthias Altmann