Politikwissenschaftler: Vatikan kann im Krieg keine Farbe bekennen
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Ralph Rotte von der RWTH Aachen ist Professor für internationale Beziehungen an der RWTH Aachen und hat sich auf die Diplomatie des Heiligen Stuhls spezialisiert. Ist es gut oder schlecht, dass der Vatikan im Ukraine-Krieg keine Stellung bezieht? Warum handelt er in Gaza anders? Rotte sagt: Der Vatikan hat keine eigenen Interessen, sondern Überzeugungen und wird deshalb auch in der UNO ernst genommen.
Frage: Der Vatikan versucht sich im Ukraine-Konflikt als Vermittler darzustellen. Kardinal Zuppi wird nach Kiew, Moskau und Washington geschickt, um eine Vermittlerrolle einzunehmen, aber irgendwie kommt dieses Engagement nicht so wirklich an. Es gibt verschiedene Stimmen, die dem Heiligen Stuhl vorwerfen, dass er sich nicht klar auf die Seite der Angegriffenen stellen würde und man in so einer Position auch nicht ernst genommen wird als Verhandlungsmacht. Vor zwei Jahren hat der "vatikanische Außenminister", Erzbischof Paul Gallagher, im Himmelklar Podcast gesagt, der Vatikan sehe das Leid, wer Angreifer und wer Angegriffener ist, aber würde nichts dadurch besser machen, das zu benennen. Es sei vielmehr wichtig, dass es auch Völkerrechtssubjekte gebe, die über dieser Ebene stehen. Wie beurteilen Sie diese Gemengelage? Ist es intelligent, dass der Vatikan versucht, sich da herauszuhalten, oder macht er alles nur noch schlimmer, dass er nicht klar Farbe bekennt?
Rotte: Ich glaube, vom Selbstverständnis her kann der Vatikan gar nicht wirklich klar Farbe bekennen, weil die Priorität eher die humanitäre Ausrichtung ist. Das Kämpfen und Morden soll aufhören – und da ist es dann zweitrangig, wer der Aggressor war und wer sich "bloß verteidigt". Wenn Sie sich die Reden von Kardinalstaatssekretär Parolin anschauen, betont er auch immer wieder das Recht auf Selbstverteidigung, selbst wenn der Vatikan mittlerweile in dieser Hinsicht verhältnismäßig skeptisch ist im Vergleich zur Vergangenheit.
Das heißt, der Vatikan wird in gewisser Weise im Zeitverlauf, d.h. gerade unter Franziskus, eher pazifistischer. Die Priorität ist, der Kampf möge bitte aufhören und den Konflikt durch Verhandlungen beilegen. Dann kann man sich im Kontext dieser Verhandlungen, bei denen nicht mehr geschossen wird, über die Ungerechtigkeiten, Aggression etc. auseinandersetzen. Wichtig ist aber, erst mal Menschenleben zu retten und das Leiden zu beenden.
Dass das nicht unbedingt gut ankommt, ist auch klar. Diejenigen, die sich angegriffen fühlen oder angegriffen sind, wie die Ukrainer, sagen natürlich: Das reicht uns nicht, das ist gerade von der moralischen Autorität her eine unzureichende Positionierung.
Frage: Ist das nicht ein bisschen naiv, einfach so heranzugehen und zu fordern "hört auf zu schießen, vertragt euch, dann wird alles gut"?
Rotte: Ja, so kann man das interpretieren. Auf der anderen Seite: Was wäre dann noch das Besondere am Heiligen Stuhl, wenn er sich genauso verhalten würde, wie jeder beliebige andere westliche Staat und nur sagen würde, man wolle, dass die Ukraine sich verteidigen kann – und dafür ist mehr oder weniger auch ein großer Umfang von Opfern akzeptabel.
Auf der anderen Seite gibt es teilweise von russischer Seite auch den Verdacht vatikanischer Eigeninteressen, etwa dass man der katholischen Kirche und dem Heiligen Stuhl immer irgendwas unterstellt in Bezug auf Konkurrenz zur orthodoxen Kirche zum Beispiel. Da gibt es immer noch ein paar materielle Konflikte um irgendwelche Klöster, Kirchenbesitztümer, Diözesen etc. im Osten. Das wird dann teilweise auch von russischer Seite sehr kritisch gesehen, auch wenn das aus der ukrainischen Perspektive fast prorussisch ist, was der Vatikan an Diplomatie anbietet. Man denke an die "weiße Flagge".
Frage: Unterm Strich würden Sie also sagen, dass der Vatikan eigentlich gar keine andere Wahl hat, als sich so zu verhalten, wie er es im Moment tut?
Rotte: Eigentlich nicht. So wie er jetzt seit mindestens 100-150 Jahren aufgestellt ist, gehört das zu seinem Wesen dazu. Es passt zum Selbstverständnis. Die Priorität ist der Mensch und nicht rechtliche Aspekte oder völkerrechtliche Probleme.
Frage: Kann man das analog genauso auf den Krieg in Gaza, auf den Nahostkonflikt beziehen oder spielen da noch mal ganz andere Faktoren eine Rolle?
Rotte: Im Prinzip gilt wahrscheinlich das gleiche, wobei man auch da sagen könnte – Sie haben es bei verschiedenen Äußerungen des Papstes auch gesehen –, dass vielleicht eine gewisse Gefahr besteht, dass die Wahrnehmung des Heiligen Stuhls propalästinensisch ist.
Noch viel stärker als im ukrainischen Fall sind das in der Wahrnehmung die Opfer, weil es seit dem Ende des ersten Nahostkrieges quasi ein besonderes propalästinensisches päpstliches Engagement im Nahen Osten gibt. Der Papst äußert sich vor dem Hintergrund der Aussagen oder der Erlebnisse, die ihm von verschiedenen palästinensischen Familien geschildert wurden, auch aus menschlicher Regung heraus vielleicht nicht immer so wahnsinnig geschickt.
„Dann äußert [der Papst] sich spontan und verwendet angeblich problematische Begriffe wie "Terrorismus" oder "Genozid". Man bemerkt dann immer auch, dass ein oder zwei Tage später der offizielle diplomatische Apparat versucht, gegenzusteuern und umzuinterpretieren.“
Frage: Er ruft ja angeblich jeden Abend beim letzten verbliebenen Pfarrer in Gaza an.
Rotte: Oder er lässt sich beeindrucken von persönlichen Geschichten, die ihm erzählt werden, von Opfern von Bombenangriffen etc. Dann äußert er sich spontan und verwendet angeblich problematische Begriffe wie "Terrorismus" oder "Genozid". Man bemerkt dann immer auch, dass ein oder zwei Tage später der offizielle diplomatische Apparat versucht, gegenzusteuern und umzuinterpretieren. Das ist allerdings mehr und mehr ein bisschen schwierig.
Ich glaube, die grundsätzliche Position ist tatsächlich immer die gleiche. Man möchte gerne humanitär Prioritäten setzen und möchte, dass das Schießen aufhört und die Konflikte, die da sind, durch Verhandlungen beigelegt werden.
Aber da stellt sich gerade in so einem hochkomplexen Konflikt wie im Nahen Osten das Problem, dass man sich möglicherweise doch implizit auf eine Seite schlägt. Dann kommen auch althergebrachte Klischees oder Vorurteile hoch, etwa in Bezug auf das Verhältnis der katholischen Kirche zum Judentum und die Frage der Anerkennung des Staates Israel, was von Seiten des Heiligen Stuhls ewig lang gedauert hat. Das ist alles eine Gemengelage, die für die Glaubwürdigkeit des Heiligen Stuhls nicht unbedingt positiv ist.
Frage: Wen interessiert denn, was das Oberhaupt des kleinsten Staates der Welt zu einem internationalen Konflikt zu sagen hat? Der Papst und der Heilige Stuhl hat zwar mehr Bedeutung, weil er für eine Religionsgemeinschaft spricht. Warum aber spielt er überhaupt eine Rolle bei diesen ganzen internationalen Konflikten?
Rotte: Das liegt einerseits tatsächlich daran, dass er das Oberhaupt einer der größten Religionsgemeinschaften der Welt ist und entsprechend ein gewisses moralisches und theologisch begründetes Gewicht hat. Zum anderen ist es auch ein Erbe des besonderen Status des Heiligen Stuhls, der ein anerkanntes Völkerrechtssubjekt, obwohl kein Staat im engeren Sinn ist und eine gewisse privilegierte Position im Vergleich zu anderen Religionsgemeinschaften hat.
Frage: Der Heilige Stuhl hat einen Beobachterstatus bei der UNO. Die einzige zweite Gruppierung, die das hat, sind die Palästinenser.
Rotte: Der Heilige Stuhl, also die Kurie mit dem Papst an der Spitze, ist ein Völkerrechtssubjekt, das genauso behandelt wird wie ein Staat. Das ist einzigartig in der Welt. Was den Beobachterstatus angeht, da ist es im Unterschied zu den Palästinensern auch so, dass der Heilige Stuhl gar nicht Mitglied der Vereinten Nationen werden will. Er dürfte das. Er könnte das, er würde wohl sofort aufgenommen werden, aber er würde sich natürlich dann auch den Regeln der Vereinten Nationen inklusive der Rechtsverbindlichkeit von Sicherheitsratsbeschlüssen unterwerfen. Das ist natürlich vom Selbstbild einer Vertretung einer höheren Macht auf Erden so nicht akzeptabel.
Entsprechend ist man, glaube ich, ganz froh, diesen Beobachterstatus zu haben und wie ein Staat behandelt zu werden, überall mitreden zu können, überall seinen Standpunkt und seine moralische Autorität unter Beweis stellen zu können, ohne in das Kleinklein und die machtpolitischen Konflikte des Staatswesens verwickelt zu werden.
Die besondere Rolle des Papstes oder des Heiligen Stuhls liegt natürlich auch darin, dass er keine oder kaum weltliche Macht im engeren Sinn hat und entsprechend ohne Eigeninteressen oder zumindest ohne Machtinteressen aufgestellt ist. Das verleiht auch wieder ein besonderes Gewicht oder zumindest ein besonderes Interesse.
Frage: Das heißt, es liegt auch im Selbstverständnis des Heiligen Stuhls, dass man auch im größeren Kontext nicht Teil von solchen Organisationen ist. Der Vatikan ist ja zum Beispiel auch kein EU-Mitglied, weil die EU von ihren Mitgliedern verlangt, eine Demokratie zu sein, was man vom Vatikan nicht behaupten kann.
Rotte: Das ist richtig. Man schwebt über den weltlichen Belangen, versucht aber tatsächlich auf der Basis der religiösen, sozialen, karitativen und pastoralen Grundüberzeugungen doch Einfluss zu nehmen – und wird dann mal gehört und mal nicht gehört.
Es hängt sehr viel auch von der konkreten aktuellen Position und dem Ruf der katholischen Kirche und vielleicht auch von der Persönlichkeit des Papstes ab, ob dieser gehört oder mehr oder weniger ignoriert wird. Die institutionelle Position des Heiligen Stuhls und damit der katholischen Weltkirche ist so, dass sie im Prinzip überall mitreden können, wenn sie wollen. Ob sie dann gehört werden, das hängt vom konkreten Konflikt oder der Konstellation ab.
Frage: Aber wird denn der Heilige Stuhl als neutral wahrgenommen? Ich würde mir vorstellen, wenn ich mir zum Beispiel die Dokumente aus dem Vatikan angucke, die sich zum Beispiel mit dem Thema Abtreibung befassen, dann geht das ja, wenn man das bei der UNO debattieren würde, ganz klar in eine Richtung, die nicht als neutral gesehen würde.
Rotte: Da gibt es zwei Aspekte. Zum einen wird er in dem Sinne als neutral angesehen, dass er keine eigenen Machtinteressen hat, weil einfach die Frage wie viele Divisionen der Papst hat, heutzutage nicht mehr relevant ist. Auf der anderen Seite, das kennen wir auch aus der Friedens- und Konfliktforschung relativ gut, ist durchaus relevant, dass man sich nicht verstellt und sagt, wofür man letztlich steht und für welche Werte man steht.
Das macht einen auch glaubwürdig, selbst wenn diejenigen, die in einem Konflikt gegeneinander stehen, andere Weltanschauungen haben. Man wird automatisch in dem Sinne als seriös wahrgenommen, wenn man gleichzeitig sagt: Ich habe hier keine massiven eigenen Interessen, aber ich habe Überzeugungen, die ich hiermit vertrete. Damit kann auch jemand, der andere Überzeugungen hat, teilweise ganz gut leben.