Bewegungen und Netzwerke: So tickt Europas christliche Rechte
Nach der Europawahl im Mai behält die politische Mitte zwar nach wie vor die Mehrheit im EU-Parlament. In vielen europäischen Ländern verzeichneten aber auch rechtsradikale und nationalistische Parteien enorme Erfolge. Die Bischofskonferenzen in der EU beklagten daher eine geringe Teilnahme und ein anhaltendes Desinteresse der Bürger an den Wahlen. In Verbindung mit dem Erstarken nationalistischer und euroskeptischer Parteien zeuge dies von einer "starken Unzufriedenheit mit der Leistung der EU". Die Bischöfe verstehen die Wahlergebnisse als Appell, die Distanz zwischen der EU und ihren Bürgern zu verringern und auf deren Sorgen einzugehen. Ein Faktor für den Erfolg der Parteien des rechten Spektrums: das Christentum.
Trotz des Rückgangs der Kirchenmitgliedschaft gewinnt die christliche Religion als Identitätsmerkmal an Bedeutung, insbesondere in den Debatten um Einwanderung, Familienpolitik, Gender und LGBTQ. Es erweist sich als ein effektives Mittel zur Mobilisierung von Wählern, wie ein kürzlich erschienener Sammelband mit dem Titel "Die christliche Rechte in Europa – Bewegungen, Netzwerke und Denominationen" zeigt. Herausgegeben vom Politologen Gionathan Lo Mascolo (Foto oben), untersucht es durch verschiedene Aufsätze die christliche Rechte in Europa. Zu den Autoren gehören unter anderem die deutschen Theologinnen Sonja Angelika Strube und Regina Elsner. Insgesamt bieten die Aufsätze Einblicke in die Akteure und die komplexen Netzwerke, die im Hintergrund arbeiten, um zunehmenden Einfluss auf die europäische Politik und Gesellschaft zu nehmen.
USA als Inspiration
Eine der Kern-Erkenntnisse des Buches: Obwohl die europäische christliche Rechte von ihrem bekannteren und älteren Pendant in den USA inspiriert ist, agiert sie anders. Die Themen sind ähnlich, doch die Rechte musste sich den europäischen Normen und Traditionen anpassen, erklärt Lo Mascolo im Gespräch mit katholisch.de. Rechte Parteien interessieren sich zwar wenig für religiöse Fragen und behandeln sie vorsichtig, um nicht die nicht-religiösen Wähler zu verschrecken. Dennoch greifen sie auf das Christentum zurück, da es in den derzeit aktuellen Themen wie LGBTQ, Gender, Familienpolitik, Einwanderung und Nationalität Überschneidungen gibt, die zur Mobilisierung und Radikalisierung genutzt werden können.
Dazu setze man, wie Theologin Strube in ihrem Aufsatz schreibt, auf "alternative Fakten", die durch soziale Netzwerke, rechte Blogs und Foren, verbreitet werden. Ebenso versuche man neue, alternative Medien zu etablieren, die die eigenen Erzählungen verbreiteten. So beschreiben es Anja Hennig für Polen und Armin Langer, Zoltán Ádám und András Bozóki für Ungarn. Dazu gehören auch pseudowissenschaftliche Parallelstrukturen zu Bildungseinrichtungen, um die eigenen Positionen zu intellektualisieren. Auch diese Strategie kam aus den USA, wo unter dem damaligen Präsidenten Donald Trump, dessen Chefstratege Steve Bannon mit seinem Mediennetzwerk der Rechten und ihren Erzählungen eine Plattform gab.
Auf diese Weise versuche man nun auch in Europa mit Anti-Gender-Narrativen LGBTQ+- Themen und jene, die die reproduktiven Rechte von Frauen betreffen, die europäische Politik zu beeinflussen. Diese Themen stellen eine Bedrohung für die "Heiligkeit der 'natürlichen' Familienstruktur" dar, so die Argumentation. Damit legt man großen Wert auf die Bewahrung und Verteidigung dessen, was unter traditionellen Werten und Rollenbildern verstanden wird, sagt Lo Mascolo. Aufgrund der vorherrschenden Narrative von Säkularisierung und Pluralisierung begrüßten Kirchenvertreter zunächst jene Ideen, die den eigenen ähnelten, in der Hoffnung, dass dies zu einer Erneuerung ihrer eigenen christlichen Gemeinschaften führen würde. Deshalb sei in vielen Teilen Europas die Versuchung groß, Bündnisse mit der rechten Politik zu schließen, um eine religiöse Erneuerung herbeizuführen – "auch wenn diese Erneuerung nicht wie erwartet stattgefunden hat", so der Politologe.
Verteidiger traditioneller Werte und Rollenbilder
Kleriker, die erkannt haben, dass rechte Parteien viele gemeinsame Positionen mit der katholischen Kirche teilen, seien dennoch zurückhaltend. Sie befürchten schlechte Presse und innerkirchliche Disziplinarverfahren, wenn sie sich öffentlich zu diesen Parteien und dessen Programmen bekennen. In Europa rufen Kirchenvertreter daher äußerst selten offen zur Wahl rechter Politiker oder Parteien auf – im Gegensatz zu den USA. Dort zeigen Kleriker ihre Unterstützung für Donald Trump offen. Insgesamt ist ihr diskretes und im Hintergrund wirkendes Handeln ein charakteristisches Merkmal der christlichen Rechten in Europa. Dadurch bleibt sie oft unbemerkt und unverstanden. Laut Lo Mascolo stellt das ein erhebliches Problem dar.
Im Sammelband untersuchen die Autorinnen und Autoren diese Frage in über 20 europäischen Ländern. Das Ergebnis: Seit über 20 Jahren agieren Anti-Gender-Organisationen in Europa und werden als Vehikel genutzt, um die Zusammenarbeit zwischen Religionsvertretern und Rechten hinter verschlossenen Türen voranzubringen. Denn Anti-Gender-Aktivismus und Aktivismus gegen LGBTQ-Themen und Personen habe viel mehr Mobilisierungspotential und rufe letztlich keinen großen Widerstand hervor – anders als das beispielsweise bei antimuslimischem Rassismus und Flüchtlingsfeindlichkeit der Fall sein könne. Und dennoch arbeite man auch an diesen Themen mit religiösen Argumenten, indem auf das sogenannte "christliche Abendland" verwiesen wird. Die Rede ist hier vom Religiösen Nationalismus: Einwanderung wird auf diese Weise nicht nur als Einwanderung dargestellt, sondern als "muslimische Einwanderung": Ein arabischer Flüchtling werde nicht nur wegen seiner Nationalität, sondern vor allem wegen seiner Religion abgelehnt.
Ähnlich wie in der Familienpolitik und bei LGBTQ-Themen werden die daraus resultierenden Bedrohungen betont, um sich als "Retter" zu präsentieren – sei es als Retter des Abendlandes, des Christentums oder als Verteidiger traditioneller Werte und Rollenbilder, wie es Donald Trump in den USA getan hat. Trump etwa habe sich öffentlich als Verteidiger religiöser Werte gezeigt, privat aber oft "mit Zynismus und Verachtung" über Gläubige gesprochen, berichteten ehemalige Mitarbeiter; er habe sich "comicartiger Stereotypen" bedient, um verschiedene Religionsgemeinschaften zu beschreiben und sich über bestimmte Riten und Glaubenslehren lustig zu machen. Dies scheint die These des Sammelbandes zu bestätigen, dass rechte Parteien kein Interesse an Religion haben, diese aber für ihre politischen Ziele nutzen. Vor allem nach dem Trump-Attentat kam es wieder zu einer religiös aufgeladenen Rhetorik: Gott selbst habe das Attentat vereitelt, hieß es, andere brachten die Muttergottes ins Spiel – in den Augen vieler wurde er zum Märtyrer.
Gegenwind kommt von den Kirchen – aber nicht immer
Laut Experten gehöre zum Hauptziel der Rechten, Europa mittels der erwähnten Diskurse und Debatten "kontroverser Themen" sowohl außen- als auch innenpolitisch zu destabilisieren. Letztlich versuche man auf diese Weise die liberale Demokratie abzuschaffen, um autokratischen Regierungen den Weg zu bereiten. Gegenwind von Katholiken und Protestanten kommt meist aus Ländern wie Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Skandinavien, wo Kirchenvertreter sich klar gegen rechte Bewegungen positioniert haben. Jüngstes Beispiel sind etwa die deutschen Bischöfe mit ihrer Erklärung gegen völkischen Nationalismus und rechte Parteien wie der AfD. In vielen süd- und osteuropäischen Ländern dagegen begrüßen und unterstützen Bischöfe und Priester den Aufstieg solcher Parteien. Es stellt sich daher die Frage, wie die christlichen Kirchen in Europa in Zukunft besser zusammenarbeiten können, um vor gefährlichen Ideen zu warnen, die gegen Demokratie und Menschenrechte gerichtet sind.
Politologe Lo Mascolo sieht eine transnationale Perspektive als möglichen Lösungsansatz: "Es geht nicht nur darum, was die Bischofskonferenz oder die EKD tun müssen, um die AfD zu stoppen, sondern wie Kirchen sich international unterstützen können, um Religiösen Nationalismus aufzuhalten und die Demokratie gemeinsam gerettet werden kann." Dies sei umso wichtiger, da die Ideen der christlichen Rechten eine globale Vision hätten. Wie Lo Mascolo abschließend hervorhebt, habe die Forschung gezeigt, dass rechte Gruppierungen finanzielle Unterstützung von transnationalen Verbindungen, wohlhabenden Sponsoren und Stiftungen erhielten. Ein erheblicher Teil komme unter anderem von Organisationen der christlichen Rechten in den USA. Auch der Einfluss des Kremls und der russisch-orthodoxen Kirche deute auf eine globale Vision bei der Förderung des Gedankenguts hin. Es bleibt abzuwarten, ob und wie die europäischen Kirchen diese Erkenntnisse nutzen werden, um dagegen anzugehen.
Buchtipp
Gionathan Lo Mascolo (Herausgeber): The Christian Right in Europe Movements, Networks, and Denominations. Transscript Verlag, 2023, 388 Seiten, 45 Euro. ISBN: 978-3-8376-6038-8