Synodalitätsexperte: Befinden uns in einem ekklesiologischen Übergang
Rafael Luciani ist Theologieprofessor an der Katholischen Universität Andrés Bello in Caracas, der Hauptstadt seines Heimatlandes Venezuela. Doch Luciani berät auch den lateinamerikanischen Bischofsrat CELAM und ist Berater der Theologischen Kommission der Weltsynode. Im Interview mit katholisch.de erklärt Luciani sein Verständnis von Synodalität. Der Theologe hält hierbei das Bild der Kirche als Volk Gottes angesichts der anstehenden Veränderungen in der Kirche für zentral.
Frage: Herr Luciani, das Instrumentum laboris für die zweite Sitzung der Synode im Oktober ist inzwischen veröffentlicht. Damit ist klar, womit sich die Mitglieder der Kirchenversammlung befassen werden. Sind damit auch endgültig die Themen vom Tisch, für die Papst Franziskus im März beschlossen hat, dass sich Expertenkommissionen mit ihnen beschäftigen?
Luciani: In diesem Zusammenhang gab und gibt es einiges an Unklarheit. Wenn wir auf die Themen der zehn Studiengruppen schauen, etwa auf den Punkt "Das Hören auf den Schrei der Armen", sind das Fragestellungen, die mehrere Bereiche berühren. Sie kommen in den Rückmeldungen der Bischofskonferenzen vor, die in das Instrumentum laboris eingeflossen sind, werden aber auch von den einschlägigen Studiengruppen bearbeitet. Bei vielen dieser Themen, zum Beispiel beim Frauendiakonat, gibt es unterschiedliche Positionen, die sich auch im Synthesebericht der letzten Sitzungsperiode im vergangenen Oktober niedergeschlagen haben. Meiner Meinung nach ist hierbei aber die entscheidende Frage, wie die Lehren des Zweiten Vatikanischen Konzils auf den verschiedenen Kontinenten rezipiert wurden. Denn das erleichtert oder erschwert die Diskussion darüber.
Frage: Könnten Sie das näher erläutern?
Luciani: Ein Beispiel: In Lateinamerika erleichterten die Konzepte Volk Gottes und Option für die Armen die Rezeption des Konzils. Aber das war nicht auf allen Kontinenten so. Wenn der Papst jetzt eine Studiengruppe zum Thema der Armen eingesetzt hat, macht er das nicht nur auf Lateinamerika bezogen, sondern auch auf die oftmalige Nicht-Rezeption der Option für die Armen in der Weltkirche hin. Mit Blick auf das Diakonat der Frau ist es ähnlich. Wenn nicht in allen Ortskirchen weltweit eine Ekklesiologie des Volkes Gottes rezipiert wurde, ist es sehr schwierig, den Horizont auf die Weiheämter zu öffnen und sie nicht nur isoliert als einzelne Themen zu verstehen. Es muss eine gemeinsame Vision der Kirche von Ämtern, Charismen, Diensten und anderen Formen des Wirkens in der Gemeinschaft der Glaubenden geben. Deshalb ist es hier nicht gut, von einzelnen Themen zu sprechen, sondern von einer Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils, die die Diskussion und den Konsens in bestimmten Punkten erleichtert oder erschwert. Das war das, was der Papst wollte als er die Studiengruppen eingesetzt hat. Er wollte die zehn Themen nicht von der Agenda der Synode nehmen, sondern sie an Experten übergeben, die auch nach der Synode daran weiterarbeiten werden. Zudem ist es leider so, dass nicht bei allen Mitgliedern der Synode das notwendige theologische Wissen vorhanden ist, um in knapp drei Wochen Diskussion derart wichtige Themen für die Kirche zu behandeln.
Frage: Diese Entscheidung des Papstes, Studiengruppen zu offensichtlich kontroversen Themen zu schaffen, wurde mitunter stark kritisiert. Viele sehen darin einen Versuch, "heiße Eisen" von der Tagesordnung der Synode zu schaffen. Sie sehen das also nicht so?
Luciani: Der Kontext jeder Ortskirche seit dem Zweiten Vatikanum ist anders, die Rezeption der Beschlüsse des Konzils sehr unterschiedlich. Vor allem in Deutschland, Österreich und der Schweiz gab es Synoden der jeweiligen Ortskirchen, in Italien und Spanien gab es einen eigenen Weg des Nachdenkens über das Amt und in Lateinamerika wurde der kontinentale Bischofsrat CELAM gegründet. Aber das sind alles lokale oder regionale Ausnahmen auf die gesamte Weltkirche gesehen. Wer nach Afrika, Asien oder Nordamerika blickt, erkennt, dass die Rezeption des Konzils nicht mittels der Ekklesiologie des Bildes vom Volk Gottes geschehen ist. Deshalb kann man sagen, dass die jetzt stattfindende Weltsynode zur Synodalität die ganze Weltkirche vorangebracht hat.
Frage: Es geht also im Kern um die Umsetzung des Zweiten Vatikanischen Konzils?
Luciani: Derzeit befinden wir uns in einem ekklesiologischen Übergang: Wir kommen von einem universalistischen Verständnis der Kirche, das in den 80er- und 90er-Jahren während des Pontifikats von Johannes Paul II. verfestigt wurde. Benedikt XVI. hat dieses Kirchenbild fortgeführt. Die Konsequenz war, dass das Verständnis der Kirche als Ortskirche gelitten hat. Der Papst und der Vatikan wurden hingegen zu stark gewichtet. Franziskus hat die Theologie der Ortskirchen wieder hervorgeholt und vertieft sie nun. Aber das alles geschieht in einem Kontext, in dem die große Mehrheit der Ortskirchen nicht genau versteht, was das bedeutet. Zum Beispiel was Autorität in Bezug auf die Dienste bedeutet, in Bezug auf die Lehre, auch mit Blick auf die Ortskirchen und ihre Bischofskonferenzen. Deshalb befinden wir uns derzeit in einer Situation, in der die Beschlüsse der Synode nicht auf gleiche Weise in den unterschiedlichen Ortskirchen verstanden, rezipiert und umgesetzt werden können. Wenn der ekklesiologische Übergang vollendet ist, werden die Ortskirchen eine eigene Autorität haben.
Frage: Inwiefern werden Sie eine eigene Autorität haben?
Luciani: Als Beispiel lässt sich das der Bischofskonferenzen nehmen: In seinem Schreiben "Evangelii gaudium" von 2013 zitierte Franziskus als erster Papst überhaupt Bischofskonferenzen und würdigte sie damit. Das war eine Neuerung, die anerkennt, dass eine Bischofskonferenz, also eine Einrichtung auf einer Stufe zwischen Bischöfen und Papst, lehramtlich wirken kann. Der Papst hat das in seinem Lehramt zitiert. Viele der Ortskirchen und lokalen Bischofskonferenzen haben noch nicht verstanden, welche Veränderung es hier gegeben hat.
Frage: Das bedeutet im Umkehrschluss, dass wir viele Ortskirchen in der Weltkirche haben, die in ganz unterschiedlichen Geschwindigkeiten vorangehen.
Luciani: Wenn wir die Weltkirche im Übergang zu einer Kirche der Ortskirchen sehen, gibt es ganz natürlich eine Unterschiedlichkeit der Formen und der Geschwindigkeit. In Lateinamerika besteht seit 1955 der schon erwähnte Bischofsrat CELAM. Dieses Gremium ist eine gemeinschaftliche Einrichtung verschiedener Ortskirchen. In Europa gibt es mit COMECE und CCEE zwar ähnlich Institutionen, aber dort haben die europäischen Bischöfe nie derart eng zusammengearbeitet wie in Lateinamerika. Die aktuelle Synode ist deshalb wichtig, da sie auf vielen Kontinenten die einzelnen Ortskirchen zum ersten Mal in einer wirklichen Gemeinschaft zusammengeführt hat. Das trägt zu einer größeren Reife der Ortskirchen bei und wird auf lange Sicht dazu führen, dass sie sich bewusst werden, welche Autorität sie in der Lehre und mit Blick auf die Dienste haben. Außerdem lenkt die Synode den Blick auf bestimmte Ortskirchen, wie etwa in den deutschsprachigen Ländern, in denen große Entwicklungen nach dem Konzil gemacht wurden. Zu diesem Zeitpunkt sind es die Kirchen in diesen Ländern sowie in Lateinamerika, die nach vorne drängen.
Frage: Der Kirche in Deutschland wird oft vorgeworfen, mit dem Synodalen Weg einen Sonderweg zu gehen. Teilen Sie diese Meinung?
Luciani: Der Synodale Weg in Deutschland ist sehr wichtig, besonders auch die Form, die gewählt wurde, um ihn umzusetzen. Man kann den Synodalen Weg nicht von der Entwicklung der Kirche in Deutschland nach dem Zweiten Vatikanum trennen. Aber nicht in allen Teilen der Welt versteht man Kirche so wie in Deutschland, da muss Erklärungsarbeit geleistet werden. Es braucht etwa eine umfassende Übersetzung der Beschlüsse des Synodalen Wegs in sehr viele Sprachen. Ein anderes Beispiel hierfür ist CELAM: Dieser Rat steht nicht nur für die Gemeinschaft der Ortskirchen, sondern hat auch eine kirchliche Versammlung eingerichtet, in der sich Laien, Priester, Ordensleute und Bischöfe treffen, um gemeinsam nach Entscheidungen zu suchen. Das bischöfliche Prinzip steht dort nicht über dem synodalen Prinzip, sondern das bischöfliche Amt befindet sich mitten in der Synodalität des gesamten Volkes Gottes. Das kannte man auf Ebene der Weltkirche nicht, bis der weltweite synodale Prozess von Franziskus angestoßen wurde. In Afrika oder im Nahen Osten ist das Konzept der kirchlichen Versammlung, in der die Stimme der Laien der Stimme der Bischöfe gleichberechtigt ist, unbekannt. Deshalb ist die Rezeption dieses Konzepts dort schwierig. Das gleiche gilt übrigens auch für Nordamerika: In den USA ist die Kirche im Grunde dysfunktional und leider scheint es dort keine richtige Gemeinschaft unter den Bischöfen zu geben. Wenn der deutsche Synodale Weg und das Konzept der kirchlichen Versammlung aus Lateinamerika nicht in den Dialog mit der ganzen Kirche kommen, bleiben es isolierte Erfahrungen.
Frage: In der Vergangenheit gab es immer wieder Kritik am Synodalen Weg aus Rom, aber nicht an den kirchlichen Versammlungen in Lateinamerika, wie der Amazonas-Kirchenkonferenz. Warum?
Luciani: In Lateinamerika wurde schon in den 50er-Jahren, also vor dem Zweiten Vatikanum, mit der Zusammenarbeit zwischen den Ortskirchen begonnen. Es gibt zudem auch den CLAR, den Lateinamerikanischen Rat der Ordensleute, der auf kontinentaler Ebene zusammenarbeitet und die einzelnen Ortskirchen verbindet. Franziskus stammt aus Argentinien und ist Jesuit, er versteht dieses Konzept also sehr gut und lebt es. Die Ortskirchen in Lateinamerika sprechen mit einer Stimme, in Europa hat die Kirche in den verschiedenen Ländern jedoch unterschiedliche Stimmen – aus denen die Kirche in Deutschland besonders hervorsticht. Das kann eine Schwierigkeit darstellen. Besonders für alle, die nicht mit der Geschichte der deutschen Kirche vertraut sind, und denen etwa die Würzburger Synode kein Begriff ist.
Frage: Wie wird eine synodale Kirche aussehen?
Luciani: Die Zukunft wird sehr komplex sein und langsam voranschreiten. Denn ein solcher Reformprozess wird nicht in einer Generation abgeschlossen. Nach dem Konzil von Trient dauerte es 100 Jahre, bis seine Beschlüsse umgesetzt und die von ihm geschaffenen Institutionen wie das Priesterseminar und die Pfarrei, in der ganzen Kirche etabliert waren. Wir haben gerade erst einmal sechs Jahrzehnte seit dem Zweiten Vatikanum hinter uns und sind mitten in dem beschriebenen ekklesiologischen Übergang, der uns lediglich dabei hilft zu verstehen, dass dieses Konzil nicht vollständig rezipiert wurde. Wenn wir Synodalität in der Kirche wollen, aber die Ekklesiologie des Konzils, das Volk Gottes, nicht angenommen wurde, wird es keine synodale Kirche geben. Und wenn wir in die Weltkirche schauen, ist klar, dass es in der Mehrheit der Ortskirchen keine Rezeption der Kirche als Volk Gottes gegeben hat.
Frage: In welchen Ortskirchen beispielsweise?
Luciani: Die Kirche in Afrika sagt etwa, dass das Bild der Kirche als Volk Gottes oder Zelt Gottes unter den Menschen nicht ihr Kirchenbild repräsentiert. Sie ziehen das Bild der Familie vor. Auch in Australien und Ozeanien, die vom Meer umgeben sind, hat die Kirche dieses Bild abgelehnt. Die große Bedeutung des Pontifikats von Franziskus ist, dass es eine Änderung eingeläutet hat, hin zu einer Weltkirche, die sich als Volk Gottes versteht. Aber der Papst hat eine doppelte Aufgabe zu leisten: er muss die Änderung im Kirchenverständnis voranbringen und zudem sicherstellen, dass diese Neuerung in allen Ortskirchen ankommt. Wenn wir zum Ende der Synode ein Dokument haben, das diesen ekklesiologischen Sprung macht und das Verständnis der Kirche als Volk Gottes konstitutiv festschreibt, wird es danach weitere Entwicklungen im Bereich der Ämter und der Lehre geben.
Frage: Lassen diese Reformen auch so lange auf sich warten, weil der Begriff Synodalität für die katholische Kirche neu ist und jeder darunter das versteht, was er gerne möchte?
Luciani: Wenn der Papst sagt, die Kirche ist konstitutiv synodal, wird das nicht in allen Ortskirchen gleich aufgenommen. Die Kirche ist in ihrem Sein und Tun synodal. Synodalität ist deshalb keine Methode, sondern sie definiert die Kirche. Aber wenn viele Ortskirchen nicht klar haben, was die Kirche eigentlich ist, sehen sie Synodalität weiterhin als eine Methode. Das ist eine große Schwierigkeit für die Weltkirche. Hinzu kommt, dass einige Ortskirchen sich fragen, wie die Synodalität die Entscheidungsfindung in der Kirche berührt. Auch bei der Entstehung der Amazonas-Kirchenkonferenz war es eine Kernfrage, wie Bischöfe und Laien gemeinsam Entscheidungen treffen. Aber das trifft nur auf ganz wenige Ortskirchen zu. Deshalb ist es auch gut, dass die Synode nicht im Oktober enden wird. Als Franziskus die Bischofssynode reformiert hat, hat er drei große Phasen festgelegt: die Vorbereitungsphase, die Durchführungsphase – in der wir uns jetzt befinden – und die letzte Phase, die Rezeption. Das ist etwas Neues. Deshalb wird man das Abschlussdokument der Synode nicht als Schluss bezeichnen können. Hier kommt den zehn Studiengruppen, die Franziskus eingesetzt hat, eine wichtige Aufgabe zu. Sie werden sich mit ihren Themen beschäftigen, sie vertiefen und einen inhaltlichen Konsens dazu finden. Danach müssen die einzelnen Ortskirchen die Vorschläge umsetzen. Letztlich geht es um einen Mentalitätswechsel: Es sollte nicht darum gehen, von allem anzuhängen, was an Äußerungen aus Rom kommt. Franziskus hat von der kirchlichen Dezentralisierung gesprochen.