Saint-Nicolas-du-Chardonnet ist ein Brennglas kirchlicher Bruchpunkte

Eine belagerte Kirche rangiert zwischen Tradition und Extremismus

Veröffentlicht am 10.09.2024 um 00:01 Uhr – Von Christoph Paul Hartmann – Lesedauer: 

Paris ‐ Die Kirche Saint-Nicolas-du-Chardonnet liegt mitten in Paris – und ist seit 1977 von den Piusbrüdern besetzt. Vor jahrhundertealten Gemälden begegnen sich Religion und Politik, vorkonziliare Messe und Rechtsextremismus.

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Eigentlich könnte die Pariser Kirche Saint-Nicolas-du-Chardonnet eine wie so viele andere in der französischen Hauptstadt sein: Reizend gelegen im 5. Arrondissement zwischen Notre-Dame und dem Panthéon, gebaut in strahlendem Barock und vollgestopft mit Kunstwerken. Doch die auf einem früher mal nach Disteln (frz. chardons) benannten Territorium gebaute Kirche hat eine bewegte Geschichte: Hier treffen Bomben, Besetzung, Traditionalismus und Politik zusammen.

Eine Kirche gibt es an diesem Ort seit dem 13. Jahrhundert. Nicht umsonst wurde der Bau nach dem heiligen Nikolaus von Myra benannt, denn mit dem Patron der Seefahrer und Studenten konnte man in der Stadt an der Seine etwas anfangen. Zwischen Mitte des 17. und Mitte des 18. Jahrhunderts (das Geld wurde immer wieder knapp und Lotterien mussten aushelfen) entstand der heutige Bau, unter anderem der bekannte Künstler Charles Le Brun aus der Zeit Ludwigs XIV. arbeitete daran mit.

Mit der Zeit wurde das Gebäude immer wieder verändert: Kurz vor der Französischen Revolution lagerte man die Kunstgegenstände aus, alles andere fiel den Revolutionären zum Opfer, die unter anderem das Silber einschmolzen. Im 19. Jahrhundert wurde die Apsis einer geänderten Straßenführung angepasst, die heutige Fassade entstand sogar erst 1934.

Bild: ©picture alliance/dpa/MAXPPP/Olivier Boitet

Die heutige Fassade stammt erst aus dem 20. Jahrhundert.

Die größte Veränderung ereilte die Kirche aber im Jahr 1977, was das Gebäude an sich aber nicht betraf. Das hatte mit dem Priester François Ducaud-Bourget (1897-1984) zu tun, einer Figur des französischen Traditionalismus nach der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-65). Ducaud-Bourget war während des Zweiten Weltkriegs Widerstandskämpfer und half Juden bei der Flucht. In seinen letzten Lebensjahren hatte er Traditionalisten um sich geschart und feierte – er war Krankenhausseelsorger – in der Kapelle des mittlerweile nicht mehr existierenden Laennec-Krankenhauses vorkonziliare Messen. Damit sollte 1971 Schluss sein, Anhänger mutmaßen, weil die Teilnehmerzahl zu groß wurde. Der Priester mietete sich also an unterschiedlichen Orten ein, um dort nach den Messbüchern von 1962 die Eucharistie zu feiern. Anfragen an das Erzbistum Paris, ob ihm Räume zur Verfügung gestellt würden, zeitigen kein Ergebnis. Er vernetzte sich mit dem Gründer der traditionalistischen Piusbruderschaft, Marcel Lefebvre, die 1977 bereits seit zwei Jahren keinen kanonischen Status mehr hatte. 1988 sollte Lefebvre wegen unerlaubter Bischofsweihen exkommuniziert werden. Auf die Frage von Ducaud-Bourget an ihn, was er in seiner Situation tun solle, soll Lefebvre geantwortet haben: "Dann nimm dir eine Kirche." Genau das tat Ducaud-Bourget mit Piusbruderschafts-Anhängern am 27. Februar 1977.

Er hatte sich an diesem Tag eigentlich in der nahegelegenen Maison de la mutualité, einem Mehrzweckgebäude mit mehreren Sälen, eingemietet. Als aber die Messbesucher an diesem Tag kamen, wurden sie umgeleitet in Richtung von Saint-Nicolas-du-Chardonnet. Dort war die reguläre Messfeier mit Pfarrer Pierre Bellégo fast an ihrem Ende angelangt, als die Traditionalisten in das Gotteshaus einzogen. Der Volksaltar wurde zur Seite gerückt und Ducaud-Bourget begann die vorkonziliare Messe zu feiern. Sichtlich erschrocken zog sich Bellégo zunächst in die Sakristei zurück, auch viele Gemeindemitglieder verließen die Kirche. Doch die irreguläre Messfeier hörte nicht auf, sie sollte den ganzen Tag andauern. Irgendwann traute sich Bellégo nach draußen und sagte den Eindringlingen, dass sie die Kirche illegal besetzten, doch die Traditionalisten überstimmten ihn mit einem Kirchenlied. Die Polizei wurde benachrichtigt, schritt bei den Messfeiernden aber nicht ein. Auch als der Strom mehrere Tage abgestellt wurde, blieben die Menschen in der Kirche. Einige Tage nach Beginn der Besetzung erstürmten sie auch die Sakristei und vertrieben Bellégo und die eigentlichen Gemeindemitglieder der Kirche. Diese brachten sogar eine Zeitung heraus und demonstrierten vor der Kirche, blieben jedoch außen vor.

Es passierte: wenig

Was nun passierte, ist das eigentlich Spannende der Geschichte: Denn es passierte sehr wenig. Zwar erwirkte das Erzbistum Paris als rechtmäßige Nutzerin der Kirche (an sich gehören alle vor 1905 gebauten Kirchen durch das Laizitätsgesetz dem Staat) einen Räumungsbefehl, der jedoch nie umgesetzt wurde. Stattdessen setzte man zunächst auf eine Vermittlung, die die Besetzenden jedoch torpedierten. Insgesamt schienen weder der Staat noch die Kirche allzu großes Interesse an der Durchsetzung der Räumung zu haben.

Warum das so war, darüber kursierten schnell Gerüchte. So soll etwa die Ehefrau des gerade erst zum Pariser Bürgermeister gewählten Jacques Chirac (er sollte es noch bis 1995 bleiben und dann bis 2007 französischer Präsident werden), Bernadette, den Traditionalisten nahestehen. Doch das ist eher eine bunte Legende. Vielmehr wollte Chirac wohl keine Machtprobe. In seiner Zeit als Ministerpräsident vor seinem Amtsantritt als Bürgermeister hatte es Spannungen und Unstimmigkeiten mit den Bischöfen gegeben, weswegen er die Stimmung mit der Kirche so ruhig wie möglich halten wollte. Die Kirche wiederum, vor allem in Gestalt des Pariser Erzbischofs, Kardinal François Marty, hatte Angst vor Ausschreitungen bei einer Räumung. Denn die Besatzer inszenierten sich als friedlich Betende, die Medienbilder einer Räumung durch die Polizei würden niemandem nützen. Zudem konnte man die Traditionalisten in St-Nicolas gut beobachten und hatte sie in gewisser Weise unter Kontrolle.

Bild: ©picture alliance/abaca/Fourmy Mario

Bis heute wird in der Kirche die vorkonziliare Liturgie gefeiert.

Wobei von Ruhe keine Rede sein konnte: 1978 explodierte in der Kirche eine Bombe, glücklicherweise entstand nur geringer Schaden. 1993 versuchten die Traditionalisten, mit einer ähnlichen Aktion noch eine weitere Pariser Kirche, Saint-Germein-l'Auxerrois, zu besetzen. Nach einem Nachmittag schritten dieses Mal aber die Ordnungskräfte ein. 2003 besetzten Migranten ohne Aufenthaltserlaubnis einige Stunden die Kirche.

Es sollten noch einige Initiativen zur Räumung und zur Bereinigung des Belagerungszustands von Saint-Nicolas-du-Chardonnet kommen, doch alle verliefen ins Leere. Eigentlich hatte Ducaud-Bourget wohl auch zugesagt, die Kirche nach seinem Tod zurückzugeben, er gab sie dann aber an die Piusbruderschaft weiter. Seitdem ist der Belagerungszustand ein eingefrorener Status quo. Zudem entwickelte sich die Kirche durch die dort wirkenden Piusbrüder zu einem Bindeglied zwischen katholischem Traditionalismus und der politischen Rechten.

Schein von Normalität im festgefahrenen Belagerungszustand

So fand hier unter anderem der Beerdigungsgottesdienst für Paul Touvier statt. Der Polizist hatte während des Zweiten Weltkriegs mit den Deutschen kollaboriert und war wegen seiner Beteiligung an der Judenverfolgung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt worden. Ebenfalls mit einer Messe gedacht wurde dem neofaschistischen Vordenker Maurice Bardèche. Diesen nannte der damalige Vorsitzende der rechtsextremen Partei "Front National", Jean-Marie Le Pen, während der Feier einen "Historiker der Avantgarde" und einen "Propheten einer europäischen Renaissance". Seine Tochter Marine Le Pen, langjährige Vorsitzende der mittlerweile in "Rassemblement National" umbenannten Partei, ließ hier ihre Kinder taufen. Ansonsten fiel die Kirche durch die Ehrung anderer Nazi-Kollaborateure oder auch des französischen Algerienfeldzugs auf. Ebenso geehrt wurde dort schon Jean Bastien-Thiry, der 1962 ein Attentat auf Präsident Charles de Gaulle organisierte und dafür zum Tode verurteilt wurde.

Auf der Internetseite von Saint-Nicolas-du-Chardonnet ist davon nichts zu lesen. Viel lieber verweist man darauf, dass schon die heiligen Vinzenz von Paul und Franz von Sales hier gebetet haben sollen. Jeweils sonntags um 15.30 Uhr kann die Kirche auch im Rahmen einer Führung besichtigt werden. Etwas Schein von Normalität im festgefahrenen Belagerungszustand an diesem Ort, wo die Bruch- und Verbindungsstellen innerhalb der Kirche und von kirchlichem wie politischem Illiberalismus zusammenkommen.

Von Christoph Paul Hartmann