Welskop-Deffaa: "Corona-Folgen größer als wir uns eingestehen"
Vor genau fünf Jahren begann die weltweite Corona-Pandemie. Mit Besuchsverboten in Altenheimen, monatelangen Schulschließungen – und psychischen Belastungen bis heute. Die Präsidentin des Deutschen Caritasverbands, Eva Maria Welskop-Deffaa, zieht im Interview eine Bilanz der Corona-Pandemie. Und sie sagt, was nötig ist, um die nächste Krise zu bestehen.
Frage: Frau Welskop-Deffaa, vor fünf Jahren schauten wir gebannt nach Wuhan, wo China in Rekordzeit ein Spezialkrankenhaus errichtete. Wann haben Sie das erste Mal gedacht: Da kommt etwas Schlimmes auch auf uns in Deutschland und Europa zu?
Welskop-Deffaa: Als mein Bruder, der als Intensivmediziner immer der personifizierte Ruhepol inmitten des Sturms ist, mir sagte, dass ihm die ersten Covid-Krankheitsverläufe in seiner Klinik in Duisburg große Angst machen. Es war ein bis dahin nie gekanntes Phänomen, dass so viele Patienten wochenlang intensivmedizinische Therapie benötigten.
Frage: Die Pandemie veränderte dann alles. Millionen Menschen erkrankten, sehr viele und vor allem alte Menschen starben. Alle gingen auf Abstand, weil es noch keine Impfung gab. Welche Folgen dieser Zäsur wirken aus Sicht der Caritas bis heute nach?
Welskop-Deffaa: Ich denke, die Folgen der Pandemie sind heute politisch und gesellschaftlich viel stärker spürbar, als wir uns das zugestehen möchten. Ein Beispiel ist, wie wir heute über Migration, Grenzen und Nationalstaaten reden. Corona war hier ein Wendepunkt. Grenzen wurden wiederentdeckt als etwas, das es zu befestigen und zu schützen gilt, etwas, mit dem man Böses außen vor halten kann. Die aktuellen Debatten in der Migrationspolitik, die Anziehungskraft der Vorstellung, wir müssten äußere Bedrohungen mit neuen Grenzmauern von uns fernhalten, scheint mir ohne die Corona-Erfahrungen kaum erklärlich. Ich empfinde das als äußerst gefährlich, weil es Türen öffnet für populistische Politik, die Ängste missbraucht, indem sie sie schürt.
Frage: Viele kritisieren, dass besonders Kinder und Jugendliche unverhältnismäßig strikt in ihren Freiheiten und Rechten eingeschränkt wurden.
Welskop-Deffaa: Die Pandemie hat sicher dazu beigetragen, dass wir neu – und hoffentlich gründlicher – über die Beziehungen, die gegenseitigen Verantwortlichkeiten zwischen den Generationen nachdenken. Das wird im Blick auf das Altern unserer Gesellschaft bei den großen sozialen Themen der Zukunft – Stichwort Rente und Pflege – entscheidend werden.
Wir müssen uns bewusst machen, dass wir die Interessen der Generationen nicht gegeneinander ausspielen dürfen. Die Jungen sind nicht automatisch verpflichtet, immer mehr für die Renten- und Pflegeversicherung der Babyboomer einzuzahlen. Und noch etwas hat uns Corona gelehrt: Regeln, die als Antwort auf die akute Krise richtig und wichtig waren, müssen periodisch immer wieder auf ihre Gerechtigkeit überprüft werden. Wenn sich die Rahmenbedingungen ändern, muss die Politik darauf reagieren.
Frage: Waren die sehr strengen Besuchsverbote im Altenheim richtig? Ist sichergestellt, dass bei einer neuen Pandemie niemand alleine sterben müsste?
Welskop-Deffaa: Ich sehe es im Rückblick als große gesellschaftliche Leistung, dass die besondere Gefahr so ernst genommen wurde, die das damals ganz unbekannte Virus offenkundig für ältere Menschen darstellte. Niemand wollte den Tod der Großeltern fahrlässig in Kauf nehmen.
Die andere Frage ist, ob es uns immer gelungen ist, die Einschränkungen für die Jungen schnell genug wieder zurückzufahren, etwa die Schulen wieder zu öffnen oder auch die Besuchsverbote in den Altenheimen zu lockern.
Frage: Welche Folgen hatten die monatelang geschlossenen Schulen?
Welskop-Deffaa: Ich maße mir nicht an, hier abschließend zu urteilen. Die offenkundige psychische Belastung vieler junger Menschen heute ist sicher nicht losgelöst von den Corona-Erfahrungen zu sehen. Mein Eindruck ist, dass die Corona-Politik insgesamt sehr gut an fortschreitende Erkenntnisse der Wissenschaft rückgekoppelt wurde. Wahrscheinlich war es aber ein Versäumnis, dass neben Medizinern und Infektiologen Psychologinnen oder Pädagoginnen zu wenig in die Politikberatung einbezogen waren. Es würde sich lohnen, das noch einmal genauer zu untersuchen.
Frage: Der Anspruch der Caritas ist es, nah bei den Menschen zu sein. Wer leidet bis heute besonders unter den Folgen der Pandemie?
Welskop-Deffaa: Corona hat Spuren in allen Bevölkerungskreisen hinterlassen, keineswegs nur bei jungen Menschen. In den Kliniken und Altenhilfeeinrichtungen ist die fortwirkende Erschöpfung bei den Mitarbeitenden noch immer sehr spürbar.
Frage: Was waren die größten politischen Fehler der Corona-Zeit?
Welskop-Deffaa: Ich glaube, es bringt uns nicht weiter, wenn wir uns nur gegenseitig Fehler vorwerfen. Wenn wir eine solche Debatte befeuern, können wir sicher sein, dass in der nächsten Krise mehr Versagen entsteht. In einem Klima ängstlicher Vorsicht, bloß nichts falsch zu machen, ist niemand bereit, mutig Verantwortung zu übernehmen.
Frage: Aber man könnte aus Fehlern für die nächste Krise lernen?
Welskop-Deffaa: Die vorausgegangene Pandemie wird nie die genaue Schablone für die nächste Krise sein. Es wird immer anders kommen als wir jetzt denken. Deshalb brauchen wir vor allem Verantwortungsbereitschaft und Tatkraft, um auf neue Situationen angemessen zu reagieren.
Frage: Was hat die Caritas vor Ort und auch als Dachverband aus der Pandemie gelernt?
Welskop-Deffaa: Ich räume ein, wir hätten die Erfahrungen intensiver auswerten können. Eine Herausforderung bestand darin, dass wir nach Corona gleich in die nächsten Krisen geschlittert sind: Es kamen der Ukraine-Krieg, die Energie-Gas-Krise und die Inflation. Dennoch erlebe ich in der Caritas an vielen Orten eine engagierte Reflexion der Ereignisse mit dem Wunsch, aus Corona zu lernen.
„Ich habe den Eindruck, dass wir das Thema Einsamkeit anfangs nicht genügend auf dem Schirm hatten. Bei alten Menschen in Pflegeeinrichtungen genauso wenig wie bei Kindern, die nicht mehr in die Schulen oder in die Sportvereine gehen durften.“
Frage: Mit welchen Ergebnissen?
Welskop-Deffaa: Deutlich ist, dass die digitale Kompetenz für die Erreichbarkeit in der Krise einen Unterschied gemacht hat. Wir waren verlässlicher für die Menschen da als manche staatlichen Stellen. Wir haben Neues einfach ausprobiert. Das müssen wir weiterentwickeln.
Frage: Das klingt sehr positiv. Gab es keine Fehler?
Welskop-Deffaa: Doch natürlich. Ich habe den Eindruck, dass wir das Thema Einsamkeit anfangs nicht genügend auf dem Schirm hatten. Bei alten Menschen in Pflegeeinrichtungen genauso wenig wie bei Kindern, die nicht mehr in die Schulen oder in die Sportvereine gehen durften.
Frage: Sind die sozialen Einrichtungen von Caritas, aber auch die Kliniken auf die nächste Krise gut vorbereitet?
Welskop-Deffaa: Eine Lehre muss sein, dass es nicht funktionieren kann, wenn wir in Medizin und Pflege bereits im Normalbetrieb am Limit arbeiten, was Finanzen, Personal und Ressourcen angeht. Dann können wir eine Krise nicht meistern. Wir brauchen Puffer und Spielräume. Und die müssen wir auch finanzieren können. Das gilt auf der Kinderintensivstation genauso wie in den Altenpflegeeinrichtungen.
Frage: Warum hat der Bundestag keine umfassende Corona-Aufarbeitung angepackt?
Welskop-Deffaa: Eine Enquete-Kommission hätte, so stand zu befürchten, Querdenkern und Populisten aus dem Umfeld der AfD eine allzu breite Bühne für krude Theorien geboten.
Frage: Haben die Kirchen ihre Corona-Hausaufgaben gemacht? Es gab ja viel Kritik an abgesagten Gottesdiensten und dem Ausweichen auf Online-Formate.
Welskop-Deffaa: Vielleicht hat das vorsichtige Agieren in den Kirchengemeinden auch mit den Erfahrungen der Missbrauchskrise zu tun – Kirche hat erlebt, wie es ist, am Pranger zu stehen. So ist womöglich der Wunsch zu verstehen, in der Pandemie um keinen Preis etwas falsch zu machen. Was wäre gewesen, wenn die Kirchen sich systematisch über die staatlichen Abstandsregeln hinweggesetzt hätten? Wenn der Freiburger Erzbischof im voll besetzten Münster einen Gottesdienst gefeiert hätte, der dann zum Super-Spreader-Ereignis mit Todesfällen geworden wäre? Das gesellschaftliche Verständnis wäre wohl nicht sehr groß gewesen.