Deutscher Auschwitz-Seelsorger: Im Dialog bleiben, aber Werte wahren

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Der deutsche Pfarrer Manfred Deselaers kennt jeden Winkel des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz. Seit 35 Jahren lebt er als Seelsorger an der Schwelle dieses Ortes, dessen schreckliche Vergangenheit für ihn bis heute unerträglich ist. Seit Beginn des Krieges in der Ukraine vor drei Jahren hat sein Einsatz für Versöhnung neue Aktualität gewonnen. Im Interview spricht er darüber, was uns die Vergangenheit angesichts von Rechtsruck und Abschottung, Ukraine- und Gaza-Krieg lehrt.
Frage: Sie kennen im Lager nach 35 Jahren wirklich jeden Winkel. Und sie wissen von Überlebenden, was Ihnen wo passiert ist. Welche Geschehnisse erzählen Sie bei Führungen, um sie zum Beispiel an Schülergruppen weiterzugeben?
Deselaers: Ich habe oft von Maximilian Kolbe erzählt. Der ist bekannt und Leute fragen danach. An seinem Beispiel erzähle ich dann auch ein bisschen, wie die Situation im Lager war. Maximilian Kolbe war vor dem Krieg schon berühmt. Im Lager gibt es Zeugnisse von anderen Häftlingen, die über ihn erzählen. Einer, der am Ende dabei war, hat uns mal erzählt, wie das war, als aus dem Lager wieder ein Häftling geflüchtet war. Dann war Lagerappell am Abend nach der Arbeit, als sie zurückgekommen sind. Die Fluchten sind meistens vom Arbeitsplatz aus geschehen. Es wurde dann durchgezählt und es war klar, dass jemand fehlt. Dann wurde gesucht, wer das ist. Und der Block, in dem jemand fehlte, musste dann stehen bleiben und alle anderen mussten auch stehen bleiben und zugucken.
Dann war die Strafe, dass aus dem Block, wo jemand geflohen war, zehn ausgesucht wurden. Die gingen in eine kleine Gefängniszelle, in den sogenannten Hungerbunker, ohne Essen und Trinken und warten, bis der Flüchtige wiederkommt. Normalerweise war das ein Todesurteil, weil nicht damit zu rechnen war, dass er wiederkommt.
Da wurden dann zehn ausgesucht und der Lagerleiter Fritzsch, der damals zuständig war, ging da sehr langsam durch die Reihen, um möglichst viel Angst zu wecken. Das hat ein Zeitzeuge erzählt, der dabei war. Der hat gesagt, in so einem Moment steht jeder nur da und zittert und denkt: "Ich bitte nicht", "bitte nicht ich", "ich will überleben" und "ich will hier rauskommen." Bei diesem Durchzählen trifft es dann einen, der ausgesucht wird. Und der schreit auf: "Meine Frau, meine Kinder!" Er wollte nach Hause zurück. In dem Moment geht von hinten jemand vor und sagt, "Ich bin katholischer Priester, kann ich für den gehen?" Und der Zeitzeuge hat gesagt: Das war für uns etwas völlig Unvorstellbares und Überraschendes. Es waren viele Wunder auf einmal. Erst mal war es verboten, ungefragt vorzutreten. Er hätte also sofort von den Wachtürmen aus erschossen werden können. Das zweite Wunder war, dass Fritzsch den (Pater Kolbe) angehört hat und ihn nicht nur angebrüllt hat. Das dritte Wunder war, dass er auf diesen Austausch einging. Der Häftling, der da aufgeschrien hatte, Gajowniczek, konnte zurück in die Reihen und hat sogar überlebt und Maximilian Kolbe hat den Platz eingenommen.
Frage: Eine übermenschliche Reaktion und dann auch noch an so einem Ort…
Deselaers: Ja, er hat dann weitererzählt, dass das eigentliche Wunder für sie war, dass es in dieser Zeit und in dieser Situation überhaupt noch jemanden unter ihnen gab, der nicht nur an sich dachte. Jemanden, der das Leid und die Verzweiflung von jemandem anderen überhaupt noch wahrnahm und nicht nur wahrnahm, sondern darauf reagierte. Und das mit seinem ganzen Leben. Das ist die eigentliche Tat von Maximilian Kolbe, und deswegen ist er zum Symbol des Sieges der Liebe in der Welt des Hasses geworden. Johannes Paul II. hat seine Seligsprechung und dann Heiligsprechung betrieben. Er war ja, bevor er Papst wurde, Ortsbischof von Krakau. Dazu gehörte auch Auschwitz. Der hat oft gesagt: Das ist der Sieg der Menschlichkeit im System der Unmenschlichkeit – nach dem Vorbild Christi.
Frage: Das hat Ihre Sicht auf die SS-Leute verändert, oder?
Deselaers: Als ich das so erzählte, überfiel mich auf einmal eine große Trauer in Bezug auf diese SS-Leute. Und ich dachte: Wie leer sind die? Die hatten zwar die Macht, aber die hatten ja keine Menschlichkeit mehr. Die waren innerlich ganz leer. Und ich habe mich auf einmal unendlich erschüttert gefühlt in Bezug auf dieses Elend der Täter. Ich erzähle das jetzt hier, weil dieses Thema für mich wichtiger geworden ist, weil es auch hochaktuell ist. Was bedeutet für uns heute die Erinnerung an die Täter? Nicht nur an die Opfer. Die Erinnerung an die Opfer ist der Ausgangspunkt, aber verantwortlich waren die Täter, und das ist eigentlich in Deutschland das Hauptthema. Das hängt damit zusammen, was es ist, was wir in uns tragen, an Werten, an Kraftquellen, an Überzeugungen. Was macht das Leben lebenswert? Und sind wir bereit, Opfer zu bringen, wenn es um die Konsequenz der Liebe und wenn es um Solidarität geht?

"Maximilian Kolbe war vor dem Krieg schon berühmt. Im Lager gibt es Zeugnisse von anderen Häftlingen, die über ihn erzählen", so Pfarrer Manfred Deselaers.
Frage: Sie haben sich ja sehr ausgiebig mit der Täterseite beschäftigt, mit dem Lagerkommandanten Rudolf Höß zum Beispiel. Ist das, was Sie über Radikalisierung und auch bis hin zum Handeln eines solchen Menschen wissen, denn für Sie in irgendeiner Weise nachvollziehbar geworden?
Deselaers: Es gibt immer den Rest, der nicht zu verstehen ist, aber vieles habe ich besser verstanden. Ein bisschen spielt die Erziehung eine Rolle, aber zum Schlüssel ist für mich die Ideologie geworden, die nationalsozialistische Ideologie. Es gibt in Deutschland schon so eine Berührungsangst, darüber nachzudenken. Also manchmal empfinde ich das so, weil man, wenn man anfängt, die anzunehmen, dann hat man Angst, davon angezogen zu werden. Aber ohne kritische Auseinandersetzung mit dem Denken, das zu Auschwitz geführt hat, kommen wir gar nicht weiter. Es nutzt nichts, nur zu sagen, es ist schlecht und da wollen wir nichts mit zu tun haben.
Diese Rassenideologie baut auf der Macht des Stärkeren auf, denn so wäre es in der Natur. Sie teilt die Menschen in verschiedene Rassen ein und geht nicht mehr von der gleichen Würde aller Menschen aus und dass der Sinn des Lebens darin besteht, die anderen ernst zu nehmen, die das Geheimnis Gottes in sich tragen, dass wir Brüder und Schwestern im globalen Dorf sind, wobei wir denselben Vater, dieselbe Mutter haben. Das sind völlig verschiedene Anthropologien, völlig verschiedene Menschenbilder, völlig verschiedene, wie die damals sagten, Weltanschauungen. Und diese Frage: Was ist uns eigentlich wichtig? Was haben wir eigentlich heute für eine Welt? Das ist, finde ich, eine entscheidende Frage.
Frage: Erkennen Sie denn Parallelen wieder? Ich meine, wir sind ja heute politisch auch sehr in diese Richtung unterwegs, dass Leute die Schotten dicht machen wollen und sich nur noch selbst der Nächste sein wollen. Wir erleben das in Europa gerade überall.
Deselaers: Grundsätzlich finde ich es wichtig, klar zu haben, dass nicht alles dasselbe ist. Die Geschichte wiederholt sich nie genau. Es gibt gewisse Grundstrukturen, die urmenschlich sind, nämlich dass ich meine Ruhe für mich haben will und die anderen, die stören, weg haben will. Das ist einfach erst mal so. Auch in meinem Leben. Und ich muss lernen, dass ich mich öffnen muss. Und das bedeutet auch, dass mich diese Offenheit eventuell etwas kostet, aber dass das ein Schatz ist, mit dem anderen eine neue gemeinsame Welt aufzubauen. Das ist aber eine Erfahrung, die wir machen müssen. Das ist sehr wichtig, und das ist etwas grundlegend Menschliches.
Als ich anfing, im Zentrum für Dialog und Gebet zu arbeiten, war das damals in den 90er-Jahren eine neue Einrichtung. Da sagte der Kardinal Macharski aus Krakau: Wir wissen, dass wir so etwas brauchen, aber wir wissen nicht, wie wir das machen können und wie das geht, so ein Haus am Rande der Gedenkstätte Auschwitz, zur Reflexion, zur Begegnung usw. Weil, als Auschwitz geschah, war niemand darauf vorbereitet. Wir hatten sozusagen keine fertigen Modelle im Kopf, wo wir zu Beginn sehen können, wie das wird. Deswegen haben wir, sagte er, auch keine fertigen Modelle für die Antwort. Das können wir nicht abgucken, wie man so was macht. Wir müssen unseren Weg erst finden. Und deswegen sind wir unseren Weg gegangen und sind mit sehr viel Wachsamkeit vorgegangen und haben geschaut, "Was läuft hier?" und "Was sind die Prozesse?" Und das geschah ohne fertige Antworten.
„Wir müssen sehr aufmerksam einander zuhören, Prozesse verstehen und versuchen, im Dialog zu bleiben, aber gleichzeitig auch tief klar haben, was unsere Werte sind und begreifen, was es bedeutet, dass wir zusammen mit Gott diese Menschen lieben.“
Frage: Was sagt Ihnen das in Bezug auf heutige Konflikte?
Deselaers: In den heutigen Konflikten und Auseinandersetzungen muss man auch aufpassen, dass wir nicht zu schnell sagen: Das sind die Nazis. Als wüssten wir schon, was da abläuft. Wir müssen sehr aufmerksam einander zuhören, Prozesse verstehen und versuchen, im Dialog zu bleiben, aber gleichzeitig auch tief klar haben, was unsere Werte sind und begreifen, was es bedeutet, dass wir zusammen mit Gott diese Menschen lieben. Mit so einer Perspektive gilt es, in diese Konflikte und Auseinandersetzungen reinzugehen.
Im Blick auf diese Konflikte mit der AfD und Trump und Putin und so weiter ist die wichtigste Frage, was für Menschen das sind: Wie gehen wir miteinander um als Menschen zu Menschen? Hören wir auf, uns gegenseitig als Mitmenschen zu behandeln? Wenn wir dann, weil es praktische Probleme gibt, auch praktische Lösungen suchen, aber die Grundwerte nicht in Frage gestellt sind, dann ist alles halb so schlimm. Aber das Dumme ist, wenn die anderen aufhören, für uns Mitmenschen zu sein.
Frage: Nicht leicht das umzusetzen, aber Sie versuchen es: Und beten für Russland.
Deselaers: Ja, denn ich glaube, dass Gott alle Menschen liebt. Ich glaube auch, dass Gott die Ideen nicht ausgehen. Und wenn ich nicht mehr weiß, was ich tun kann, dann heißt das nicht, dass Gott nicht weiß, was zu tun wäre. Dann muss ich still werden und zuhören. Dann finden wir schon Wege. Aber weder die Russen, noch die Ukrainer, noch die Palästinenser, noch sonst wer sind Unmenschen. Es sind Mitmenschen.