Sozialethiker: Kirchen haben den Auftrag, sich politisch zu engagieren
Kann man in der aktuellen Migrationsdebatte, ob in Deutschland oder in den Vereinigten Staaten, mit einem theologischen Begriff wie dem augustinischen "Ordo amoris", der Ordnung der Liebe, argumentieren? Nein, meint Thomas Eggensperger, Professor für Sozialethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Münster, im Interview mit katholisch.de. Schon gar nicht, wenn historische Zitate aus den klassischen Schriften von Augustinus oder Thomas von Aquin aus dem Zusammenhang gerissen werden, wie es etwa US-Vizepräsident J. D. Vance getan hat. Vor wenigen Wochen hatte Vance den Begriff aufgegriffen und die Auffassung vertreten, zuerst die eigene Familie zu lieben, dann den Nachbarn, dann die lokale Gemeinschaft, dann die Mitbürger und erst dann den Rest der Welt. Hierzulande hatte der Alttestamentler Ludger Schwienhorst-Schönberger ebenfalls den augustinischen Begriff aufgegriffen, um zu argumentieren, dass es keine moralische Pflicht zu einem Altruismus gebe, der über die eigenen Möglichkeiten hinausgehe.
Frage: Pater Eggensperger, in den letzten Tagen und Wochen gab es viele hitzige Debatten über die Migrationspolitik. Dabei fiel auch der theologische Begriff "ordo amoris" (Ordnung der Liebe). Können Sie erklären, was es damit auf sich hat?
Eggensperger: Es gibt einen Unterschied zwischen der Idee und der Interpretation, wie sie heute zum Teil gemacht wird. Augustinus spricht in seinem Werk "De doctrina christiana" (Über die christliche Lehre) unter anderem von der Ordnung der Liebe, in der Reihenfolge, wen man jeweils am meisten lieben soll – von Gott angefangen. Aber Thomas von Aquin hat das, wie ich finde, sehr viel differenzierter aufgegriffen mit dem Begriff "ordo caritatis". Denn Caritas ist mehr als Amor. Da geht es um mehr als nur um die reine Liebe. Der heilige Augustinus hat in diesem Zusammenhang angemerkt, dass es darum geht, nicht alle Menschen gleich lieben zu können. Ich wundere mich, in welcher Weise das jetzt interpretiert wird, auch in einem kürzlich erschienenen Beitrag des Kollegen Schwienhorst-Schönberger, der die Stelle in einer Weise deutet, die mit dem eigentlichen Sinne wenig zu tun hat.
Frage: Wie wird das denn verstanden?
Eggensperger: Augustinus schreibt zwar, dass man denjenigen eher Gutes tun solle, die uns näher stehen, wie etwa den Hausgenossen. Er meint damit aber nicht – wie Schwienhorst Schönberger behauptet – eine sozial gestaffelte Rangordnung, in der auf heute übertragen, Migranten weiter unten in der Leiter stehen, sondern dass es eine sinnvolle Ordnung gibt. So habe man einen Sünder weniger zu lieben als den Gottesfürchtigen, aber man habe einen Bedürftigen eher zu lieben als den im Überfluss Lebenden. Damit steht der Schutzsuchende in der Ordnung allerdings weit oben, da er sich in der Defensive befindet. Es ist schon interessant zu sehen, wie sehr Schriften klassischer Autoren bausteinartig herausgenommen und dann quasi verdreht an falscher Stelle als Autoritätsargument zitiert werden.
Frage: Wie es auch US-Vizepräsident J. D. Vance in der dortigen Migrationsdebatte getan hat…
Eggensperger: Es ist schwierig, in aktuellen Debatten mit historischen Zitaten zu argumentieren, die aus dem Zusammenhang gerissen werden. Weder Augustinus und schon gar nicht Thomas von Aquin haben von einer wirklichen Rangordnung der Liebe gesprochen. Thomas von Aquin beginnt seine ethische Abhandlung über die Liebe in der "Summa theologiae" mit der Feststellung, dass die Liebe zu Gott über allem steht. Dann folgen die Nächstenliebe und die Selbstliebe, die aber nicht als Narzissmus zu verstehen ist. Selbstliebe wird vielmehr so verstanden, dass man auf sich selbst schaut, um möglichst sündenfrei durchs Leben zu gehen und auch auf seinen Körper zu achten, der einem geschenkt wurde, und ihn entsprechend pfleglich zu behandeln. Es gibt noch andere Ordnungen, aber das Thema ist eigentlich nicht die Rangordnung. Sogar die Tugend der Liebe hat ihre Ordnung, damit sie nicht willkürlich wird. Ziel von allem ist das "Gute" und das kann nur in großen Ordnungen verwirklicht werden.

Dominikanerpater Thomas Eggensperger ist geschäftsführender Direktor des Instituts Marie-Dominique Chenu in Berlin, einer Einrichtung des Dominikanerordens. Er ist Professor für Sozialethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Münster und berät die Katholische Arbeitsstelle für Freizeit und Tourismus (KAFT), die von der DBK getragen wird. Außerdem ist er Geistlicher Beirat des "Katholischen Akademischer Ausländer-Dienst" (KAAD), einem Studienförderungswerk der DBK.
Frage: Kann man diese Ordnungen auf die Gegenwart übertragen?
Eggensperger: Thomas diskutiert in seinem theologischen Ansatz den Ordnungs-Gedanken (ordo), um zu systematisieren, nicht um zu priorisieren. Das ist dann der zweite Trugschluss, wenn man meint, mit Thomas von Aquin nachweisen zu können, dass man eine Rangordnung derartig lesen kann, um am Ende Flüchtlinge oder Ausländer anders zu bewerten – eigentlich abzuwerten – als die Mitglieder des eigenen Haushalts oder des eigenen Staats. Schwienhorst-Schönberger versucht diesen Nachweis ebenfalls unter Berufung auf den Kommentar des Thomas von Aquin zu den Zehn Geboten: Thomas verweist im Kommentar zum vierten Gebot ("Du sollst Vater und Mutter ehren") auf Augustinus, der in "De doctrina christiana" schrieb, dass man nicht gehalten sei, allen Gutes zu tun, sondern denjenigen, die uns näher stehen. Das heißt aber nicht, dass es eine einfache Rangordnung gibt. Thomas will nur deutlich machen, dass man Vater und Mutter besonders ehren solle. Damit sollen aber nicht andere abgewertet werden. Insofern kann man diesen Ordo caritatis oder Ordo amoris nicht auf die Gegenwart übertragen, jedenfalls nicht mit diesen Zitaten, die gar keine politischen Aussagen sind. Erst recht nicht kann man diese Debatte auf die Migrationsthematik der Gegenwart übertragen, um damit die Abwägung zu begründen, wie viele Flüchtlinge ein Staat aufnehmen kann.
Frage: Kann man dann von einer Instrumentalisierung theologischer Begriffe in der aktuellen politischen Debatte sprechen?
Eggensperger: Ja, es gibt durchaus eine Instrumentalisierung solcher Begriffe. Vance hat das getan mit Verweis auf den ordo amoris, aber auch Kollege Schwienhorst-Schönberger bietet eine Steilvorlage: So zitiert er aus dem Kompendium der Soziallehre eine Stelle, in der es um die hohe Bedeutung der nationalen Souveränität geht und um eine Kultur, die für die Wahrung der Identität eine Garantie bilde. Er hat zwar richtig zitiert, aber tut dies in seltsamer Manier, lässt er doch den Folgesatz seines Zitats unter den Tisch fallen. Denn da heißt es ausdrücklich, dass die nationale Souveränität nicht absolut zu setzen sei. Ja noch vielmehr: Es wird auf Johannes Paul II. verwiesen, der anmahnt, an eine mögliche Übereinkunft über "die Rechte der Nationen" nachzudenken. Kollege Schwienhorst-Schönberger, seines Zeichens Exeget und somit gut vertraut mit Text- und Quellenanalyse, hat also nur das zitiert, was sein Gedankengebäude unterstützt und den Rest geflissentlich weggelassen.
Frage: Papst Franziskus kritisierte in einem Brief an die US-Bischöfe die Migrationspolitik Trumps und ging auf den "ordo amoris" ein. Man müsse immer wieder über das Gleichnis des barmherzigen Samariters nachdenken, meint er und betont die Pflicht, Migranten aufzunehmen…
Eggensperger: Papst Franziskus weiß natürlich auch, dass man nicht einfach nur aufnehmen kann, sondern dass dafür auch strukturelle Maßnahmen vonnöten sind und auch die Grenzen der Möglichkeit in den Blick zu nehmen sind. So beschreibt er in seiner Autobiografie, wie schwierig es für seine Familie war, aus dem Piemont nach Argentinien zu immigrieren und sich zu assimilieren. Die Migrationsthematik ist ihm also ein sehr persönliches Anliegen, deshalb hat er zu Beginn seines Pontifikats Lampedusa besucht. Sein Aufruf ist aber nicht im naiven Sinne gemeint: Kommt alle zu mir, die ihr beladen seid, und dann wird sich schon alles regeln. Das ist nicht der Sinn der Sache. Aktuell hat er sich über die US-amerikanischen Bischöfe indirekt an die US-amerikanische Regierung gewandt und unter Verweis auf das Gleichnis des barmherzigen Samariters aufgefordert, sich hinsichlich des Ordo amoris der Liebe zu besinnen, die zu einer unumschränkten Geschwisterlichkeit führt. Interessant ist aber in diesem Zusammenhang die gemeinsame Stellungnahme des Kommissariats der deutschen Bischöfe und der Bevollmächtigten des Rates der EKD im Vorfeld einer Abstimmung zum "Zustrombegrenzungsgesetz". Das Papier ist keineswegs eine Fundamentalkritik an dem CDU-Entwurf oder gar an der Partei, sondern eine Kritik an bestimmten Teilen des Gesetzentwurfes.
„Es ist schon interessant zu sehen, wie sehr Schriften klassischer Autoren bausteinartig herausgenommen und dann quasi verdreht an falscher Stelle als Autoritätsargument zitiert werden.“
Frage: Können Sie Beispiele nennen?
Eggensperger: Das fängt an mit der Kritik, dass pauschal suggeriert wird, grundsätzlich jeder Flüchtling sei ein potenzieller psychisch kranker Attentäter. Damit stellt man sämtliche Migranten unter Kollektivverdacht. Die kritisierten Punkte sind das Problem der geplanten Verhinderung der Familienzusammenführung durch Nachzug und die nicht nachvollziehbare Zuständigkeitsübertragung von den Ausländerbehörden zur Bundespolizei. An solchen – übrigens mit juristischen Argumenten formulierten – Hinweisen ist meines Erachtens nichts auszusetzen.
Frage: Das haben nicht nur die Kirchen so gesehen…
Eggensperger: Dass der Gesetzesentwurf problematisch ist, haben ja wohl auch eine auffallend große Menge von CDU- und FDP-Abgeordneten gesehen. Der Hintergrund des ganzen Geschehens ist der Wahlkampf, deswegen würde ich das auch nicht überbewerten. Offensichtlich wollte man das Migrationsproblem zum wahlkampfstrategischen Hauptproblem machen. Es wird suggeriert, dass die Zuwanderung ein gesellschaftliches Riesenproblem sei. Ein Problem ist aber nicht die Zuwanderung welcher Art auch immer, sondern die Schwierigkeit, die Integration von Migranten behördlich und organisatorisch zu bewältigen. Für die Volkswirtschaft haben die Flüchtlinge der letzten Jahre jedenfalls nicht zu einer Belastung geführt. Aber einige Parteien haben sich das Feindbild jetzt auf die Fahnen geschrieben und kommen mit unterschiedlichen Vorschlägen. Manche sind menschenverachtend, andere sind eher problematisch, wieder andere hilfreich.
Frage: In den vergangenen Tagen wurde mehr Zurückhaltung gefordert. Warum sollten sich die Kirchen dennoch mit Impulsen einbringen?
Eggensperger: Natürlich ist es wohlfeil, die Kirchen in dem Augenblick zu kritisieren, wenn sie unangenehme Positionen vertreten. Aber die Kirchen haben – wie viele Einrichtungen auch – den Auftrag, sich politisch zu engagieren, und dann geht es darum, einen konstruktiven Beitrag zu leisten. Die gemeinsame Stellungnahme zeigt, dass sie keine indirekte Anti-Wahlwerbung für die CDU ist, sondern ein weiterführender Beitrag zur Debatte, um zu einem tragfähigen Ergebnis zu kommen. Es ist also die ureigene Aufgabe der Kirchen, jenseits von Partei und Parteizugehörigkeit auf schwierige Punkte hinzuweisen.

"Natürlich ist es wohlfeil, die Kirchen in dem Augenblick zu kritisieren, wenn sie unangenehme Positionen vertreten. Aber die Kirchen haben – wie viele Einrichtungen auch – den Auftrag, sich politisch zu engagieren, und dann geht es darum, einen konstruktiven Beitrag zu leisten", meint Eggensperger.
Frage: Ist die christliche Barmherzigkeit ein möglicher Beitrag?
Eggensperger: Der Begriff der Barmherzigkeit ist ein Begriff, der jenseits von Recht und Gerechtigkeit wirkt und dann greift, wenn gerade alles völlig schiefgelaufen ist, aus welchen Gründen auch immer. Dann steht für den Christen die Barmherzigkeit an, das heißt, über alle Hintergründe und Vorgeschichten hinwegzusehen und eine schnelle Lösung zu finden. Mit Barmherzigkeit kann man auf Dauer keine Politik machen, aber es gibt bestimmte Situationen, in der sie ansteht. Das ist wie im Gleichnis vom barmherzigen Samariter, der nicht groß darüber nachgedacht hat, ob das jetzt politisch oder religiös, gut oder schlecht ist – er hat es einfach getan. So sehe ich auch die berühmte Aussage von Angela Merkel, "Wir schaffen das" als ein einfach tun, wenngleich Merkel ihre Entscheidung nicht explizit mit Barmherzigkeit begründet hat. Später wurde und wird ihr das vorgeworfen. Aber man muss sehen, dass es eine Situation war, in der der Druck sehr groß war und eine schnelle Entscheidung anstand.
Frage: Wo liegen Ihrer Ansicht nach die Probleme?
Eggensperger: Zunächst muss man sagen: Wir haben es doch geschafft. Wirtschaftlich, volkswirtschaftlich ist überhaupt nichts zusammengebrochen. Es ist ein neues Potenzial entstanden mit denen, die gekommen sind. Die Probleme sind woanders entstanden. Bürokratisch oder technisch war manches nicht so einfach umzusetzen, die Kommunen wurden oft allein gelassen und wussten nicht, was sie mit den vielen Menschen auf einmal machen sollen. Das ist ein ganz anderes Problem und da kann man nicht mit kultureller Identität argumentieren. Ich erinnere mich an große Debatten im Europäisierungsprozess der 2000er Jahre, wo einzelne Länder um ihre kulturelle Identität gefürchtet haben, sollten sie einmal Mitglied der Europäischen Union sein. Wie man sieht, völlig unbegründet.