Tübinger Dogmatikerin ordnet vatikanisches Lehrschreiben ein

Theologin Rahner: Maria als Miterlöserin? Warum das nicht geht

Veröffentlicht am 06.11.2025 um 00:01 Uhr – Von Madeleine Spendier – Lesedauer: 

Bonn ‐ Maria ist keine Miterlöserin am Heilsplan Gottes. Das hat das neue Lehrschreiben aus dem Vatikan festgestellt. Die Tübinger Theologin Johanna Rahner hat noch eine Empfehlung für das Glaubensdikasterium: zum Bild von Maria. Im katholisch.de-Interview spricht sie darüber.

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Darf ein Gläubiger die Gottesmutter Maria weiterhin als Miterlöserin anrufen – trotz des kürzlich vom Vatikan veröffentlichten Schreibens "Mater populi fidelis"Kann es zu einem späteren Zeitpunkt vielleicht doch noch ein Dogma zu Marias Rolle im Heilsplan Gottes geben? Die Tübinger Dogmatikerin Johanna Rahner hat dazu eine klare Meinung – und eine deutliche Empfehlung an das Glaubensdikasterium.  

Frage: Frau Professorin Rahner, finden Sie das Dokument aus dem Vatikan hilfreich?  

Rahner: Ich halte es für einen sehr hilfreichen Text und finde gut, dass der Papst und sein Dikasterium nun eindeutig festgehalten haben: Der einzige Erlöser, den die Welt hat, ist Jesus Christus. Und: Maria ist keine Miterlöserin. Maria ist Fürsprecherin bei Christus. Meiner Ansicht nach begründet das Dokument dogmatisch gut, dass Maria nicht Miterlöserin sein kann. Es macht klar, dass man aufpassen soll, wenn man solche mariologischen Bilder verwendet und dass manche Begrifflichkeiten einfach theologisch nicht vertretbar sind. Durch das Schreiben wird eindeutig eine Grenze gezogen: Das einmalige Erlösungswerk, die einzige Erlösungswirkung Jesu Christi sollte durch mariologische Frömmigkeit nicht in Frage gestellt werden. Der Text spricht aber an sich kein absolutes Verbot aus.  

Frage: Wenn es kein Verbot gibt, bedeutet das, dass ich privat weiterhin Maria als Miterlöserin anrufen könnte?  

Rahner: Ja, aber man muss genau hinschauen. Wenn ich meine Marienverehrung so ausdrücke, dass ich damit das einzigartige Heilshandeln Jesu Christi nicht in Frage stelle, dann wäre das aus meiner Sicht dogmatisch gesehen möglich. Im privaten Gebet kann man sich ohne Probleme so an Maria wenden. Ich denke da an eine wichtige Unterscheidung, die schon der frühere Kardinal Joseph Ratzinger und spätere Papst Benedikt XVI. getroffen hat. Es ging damals um das dritte Geheimnis von Fatima. Als Privatoffenbarung darf man das anerkennen und daran glauben, als offizielle Glaubenswahrheit muss das aber kein Katholik und keine Katholikin.

Frage: Was hat das mit dem Titel der Miterlöserin zu tun? 

Rahner: Der Text weist eindrücklich darauf hin, dass der Titel uneindeutig ist und bei manchen Gläubigen zu einer Unsicherheit im Glauben und zu einer Verwirrung führen kann. Daher mahnt der Text zur Zurückhaltung. Der Präfekt des Glaubensdikasteriums, Kardinal Víctor Manuel Fernández, schreibt im Vorwort, dass diese Bezeichnung wohl weniger von den Gläubigen allgemein als von "bestimmten mariologischen Kreisen" und in den Sozialen Netzwerken forciert werde. Darauf reagiert das Dokument nun. Als Dogmatikerin teile ich hier die Einschätzung des Dikasteriums und rate davon ab, Maria als Miterlöserin zu bezeichnen. Denn es gibt gute dogmatische Einwände, die der Text auch aufführt. Er kritisiert besonders Versuche, Maria als Miterlöserin in einem Sinn zu verstehen, dass damit das Erlösungswerk Christi als unvollständig oder ergänzungswürdig  angesehen würde; das ist dogmatisch nicht richtig und daher auch nicht katholisch. Christus ist der einzige Erlöser. In der praktizierten Frömmigkeit wird eine gewisse unsaubere Begrifflichkeit bestimmt dennoch weiterbestehen, davon gehe ich aus. Aber in den offiziellen Äußerungen sollte diese Vorstellung fortan vermieden werden.  

Frage: Wer könnte denn mit diesen "mariologischen Kreisen" gemeint sein? Eventuell besondere Marienwallfahrtsorte, in denen Maria mehr verehrt wird als Jesus?   

Rahner: Das ist reine Spekulation. Ich denke nicht, dass damit primär bestimmte Gruppen in Deutschland oder in Europa gemeint sind, die eine eher traditionelle Volksfrömmigkeit vertreten. Ich halte hier den im Text enthaltenen Hinweis auf ein anderes Dokument des Dikasteriums für hilfreich. Das sind die "Normen für das Verfahren zur Beurteilung mutmaßlicher übernatürlicher Phänomene" vom 24. 5. 2024. Ich denke, das spielt auf die Situation in manchen Ortskirchen an, die regelrecht in einem Wettstreit um Wunder und Marienerscheinungen liegen. Das ist nicht zu dulden. Auch Papst Franziskus sprach mehrfach Warnungen in diese Richtung aus und forderte die Bischöfe dazu auf, die Frömmigkeit des Volkes hier nicht zu instrumentalisieren. Hier ist also Vorsicht geboten. In dem aktuellen Schreiben aus Rom wird nun mit Blick auf bestimmte marianische Titel davor ausdrücklich gewarnt und es heißt darin, dass zum Schutz der einfachen Gläubigen bestimmte Vorstellungen und Begriffe vermieden werden sollten.  

Die Tübinger Dogmatikerin Johanna Rahner
Bild: ©KNA/Fabian Mondl

"Statt einer Trinität eine Quadrität zu fordern, also die Mutter des Herrn auf einmal neben Gottvater, Sohn und Geist zu setzen, hat doch sicher keiner beabsichtigt. Das wäre nicht mehr katholisch, das wird nie katholisch sein", sagt Johanna Rahner. Sie ist Professorin für Dogmatik, Dogmengeschichte und Ökumenische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen.

Frage: Aber von der Glaubenstradition her wird Maria von den Menschen bereits im späten Mittelalter als Erlöserin und Miterlöserin verehrt …

Rahner: Solche Frömmigkeitsformen und sie verteidigende Theologien gab es immer. Um sie angemessen zu verstehen, müsste man erst historisch genau die Quellen prüfen, was mit diesen Bildern gemeint war. Sie sind aus der Frömmigkeit der "einfachen Leute" heraus entstanden und bemühen sehr häufig eher das Bild von Maria als Magd, die zum Heilsplan Gottes Ja sagt, Mutter von Jesus Christus wird und so die Erlösung ermöglicht hat; eine Identifikationsfigur, die auf ihre menschliche Art und Weise, gerade als Mutter, die auch die dunklen Seiten des Lebens kennt, uns daher nahe und vertraut ist. Doch schon das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) zieht eine klare Grenze. In "Lumen gentium" heiß es: "Unicus Mediator Christus". Der einzige Mittler ist Jesus Christus und Maria aber ist Mutter und Vorbild der Kirche.

Frage: Denken Sie, das neue Dokument aus dem Vatikan wird viele Menschen enttäuschen?

Rahner: Es mag sein, dass einige enttäuscht sind. Aber die Frage wäre dann, warum eigentlich? Statt einer Trinität eine Quaternität zu fordern, also die Mutter des Herrn auf einmal neben Gottvater, Sohn und Geist zu setzen, hat doch sicher keiner beabsichtigt. Das wäre nicht mehr katholisch, das wird nie katholisch sein. Ich frage mich schon, warum dieses Bild von Maria als Miterlöserin mitunter so emotional aufgeladen diskutiert wird. Mich erinnert das an die Diskussionen um das Mariendogma von der Unbefleckten Empfängnis Mariens, das 1854 feierlich verkündigt wurde. Auch damals gab es deshalb vorher viele innerkirchliche Konflikte; gerade die großen katholischen Orden der Franziskaner und der Dominikaner waren sich beispielsweise in der Bewertung über Jahrhunderte hinweg nicht einig. Der damalige Papst Pius IX. hat das Dogma verabschiedet, obwohl die Situation vom biblischen Fundament und der Theologiegeschichte her eigentlich unentscheidbar war, und sein Vorgänger den Sachverhalt noch für nicht dogmatisierbar hielt. Damals hat das den kürzlich zum Kirchenlehrer erhobenen John Henry Newman dazu übrigens bewogen, dieses Mariendogma als ein "durch keine Häresie herausgefordertes Luxusdogma" zu bezeichnen. Das alles erinnert mich stark an die in den Sozialen Medien mitunter sehr aufgeladenen Diskussionen vor der jetzigen, abschlägigen Entscheidung des Dikasteriums. Hätte man dem nachgegeben, wäre vielleicht doch nur ein weiteres "Luxusdogma" daraus geworden.

Frage: Könnte es vielleicht in 50 Jahren ein Dogma zu Maria als Miterlöserin geben?

Rahner: Nein, das ist nun eindeutig geklärt, das wird es nicht mehr geben. Auch nicht in 50 Jahren. Es würde nicht nur für viel Verwirrung unter den Gläubigen sorgen, man müsste auch bessere Argumente finden, als die, die das Dikasterium ja ausführlich vorgestellt und damit seine Entscheidung begründet hat. Ich finde eher, man müsste in eine ganz andere Richtung denken. Denn es gibt noch andere Bilder von Maria in der Bibel, die die Frömmigkeit inspirieren könnten. Vor allem eines, das Maria nicht nur als Magd und Mutter deutet und nicht so "süßlich" daherkommt und mehr ist als ein spekulatives, theologisch fragwürdiges Konstrukt wie die Miterlöserin. Also, wenn das Glaubensdikasterium mich angefragt hätte, hätte ich eine Empfehlung gehabt.

Frage: Welche Empfehlung hätten Sie dem Glaubensdikasterium gegeben?

Rahner: Ich denke da an das Magnifikat im Lukasevangelium. Dort sagt Maria: "Meine Seele preist die Größe des Herrn" (Lk 1,46) und der Text ihres Lobgesangs spricht von Gottes großen Taten. Wenn Gott die Mächtigen vom Thron stürzt und die Erniedrigten erhöht, dann ist das fast schon ein politisches Programm, ja ein befreiungstheologischer Weckruf, eine Mariologie, die die Fähigkeit hat, die Welt zu verändern. Das kann die Lebenserfahrung von Menschen inspirieren. Es gibt keinen revolutionäreren Text über Maria als diesen biblischen Lobpreis. Dieses Bild von Maria wird im aktuellen vatikanischen Schreiben leider nicht erwähnt. Aber gerade dieser Text hätte uns heute so viel zu sagen.

Frage: Meinen Sie, die innerkirchliche Reformbewegung wäre damit zufrieden?

Rahner: Die hatte ich jetzt gar nicht im Blick; aber was sollte man gegen einen machtkritischen, biblischen Text haben, der gegebenenfalls auch die Ämterstruktur der Kirche hinterfragt? Denn es könnten ja auch die in der Kirche Mächtigen vom Thron gestürzt und die Niedrigen erhöht werden. Maria als kritische Stimme zu sehen, die Hierarchien in Frage stellt, das halte ich für eine folgerichtige Alternative auch in Kirchenfragen. Maria zeigt uns ja quasi "leibhaftig", dass für Gott nichts unmöglich ist. Da steckt auch ungeheuer viel Hoffnung darin, nicht nur für Veränderungen in der Kirche, sondern natürlich weit darüberhinaus.

Von Madeleine Spendier