Zwischen Anpfiff und Amen: Fanseelsorge im Ruhrgebiet

Bochum
"Seelsorgerin des VfL? Wie geht das denn?" – mit diesen Worten sprach eine ältere Dame Pfarrerin Julia Kreuch an, als sie in ihrer neuen Jacke kurz beim Bäcker reinschneite. Auf der linken Brust prangt das Logo des VfL Bochum, darunter die Aufschrift "Seelsorgerin". Kreuch erklärt ihr das neue Projekt der evangelischen Kirchengemeinde – den "FanDom" – und dass sie Fanseelsorgerin sei. Was für eine tolle Idee das sei, sagte die Dame daraufhin zu ihr, und dass ihrem verstorbenen Mann das sicher auch gefallen hätte. "So schnell ergibt sich ein seelsorgliches Gespräch", sagt Kreuch. "Die Hemmschwelle ist sehr niedrig, vom Fußballverein auf die persönliche Ebene zu wechseln." Oft sei das Fandasein eng mit der Lebensbiografie verwoben.
Auch ihr Kollege Michael Diek, katholischer Fanseelsorger des "FanDoms", teilt diese Erfahrungen. Mit einem Fan sei der 40-Jährige mal den ganzen Weg vom Stadion zur Innenstadt gelaufen. Angefangen mit einem "beim VfL läuft's gerade nicht so gut" endete das Gespräch damit, dass sein Gegenüber ihm das Herz ausschüttete und in Tränen ausbrach. "Im Stadion entleert sich so viel Energie. Da wird dann das freigelegt, was tief in einem sitzt", sagt seine Kollegin.
"Da wo die Menschen sind, wollen wir als Kirche sein"
Ob da vielleicht auch der Alkohol eine Rolle spielt? "Das kann durchaus sein", sagt die 34-Jährige, das ändere aber nichts an den Gefühlen, die nun einmal da seien. Beide Seelsorger sind der Meinung, dass nicht der Alkoholeinfluss entscheidend sei – schließlich haben beide genauso intensive Begegnungen mit nüchternen Fans gehabt –, sondern die Liebe zum Fußball und zum Verein. "Ohne diese Verbindung würden diese persönlichen Gespräche mit Sicherheit nicht entstehen", sagt Diek.
Den "FanDom" gibt es seit der vergangenen Saison. Er ist als Innovationsprojekt der evangelischen Kirchengemeinde Bochum entstanden. Die Idee war: "Da wo die Menschen sind, wollen wir als Kirche sein", erklärt Kreuch. Die Lage der Kirche tat ihr Übriges: Der "FanDom" liegt am Stadtpark, einen Steinwurf von der Castroper Straße entfernt, die von der Innenstadt zum Stadion führt. Die Fans pilgern also direkt an der Kirche vorbei, sagt Diek. Da lag das Konzept einer Fußballkirche nahe. Allerdings ist und bleibt die Kirche weiterhin Gottesdienstraum und Zentrum der evangelischen Kirchengemeinde Bochum.
Der "FanDom" ist in der Lutherkirche am Stadtpark in Bochum zu Hause.
Pfarrerin Kreuch ist seit Mai die Projektleiterin des "FanDoms". Ihr Vorgänger, Henri Krohn, hat den "FanDom" zusammen mit einem Thinktank der Gemeinde entwickelt. Auch verschiedene VfL-Fanclubs und eine Werbeagentur waren involviert. Als bekennender VfL-Fan und Pastoralreferent in der Propsteipfarrei St. Peter und Paul ist Michael Diek katholischerseits in das Projekt mit eingestiegen.
Auch der VfL Bochum unterstützt den "FanDom", er sponserte zum Beispiel die Jacken und T-Shirts in den VfL-Farben mit der Aufschrift "Seelsorger" oder bewirbt die Veranstaltungen des Projekts auf seiner Webseite. Zudem sind beide Seelsorger im regen Austausch mit "Moppel", dem leitenden Fanbeauftragten des Vereins. Immer wieder planen sie gemeinsame Veranstaltungen, wie zuletzt ein Frühstück am Heimspieltag in der Kirche. Das wurde allerdings nur mäßig angenommen, gibt Kreuch zu. "Wir probieren uns noch ein wenig aus, suchen nach den richtigen Formaten für die Fans."
Der Verein stiftet Identität
Beide Seelsorger begleiten Beerdigungen und Gedenkgottesdienste für verstorbene Fans. Ansonsten bieten sie im "FanDom" Saisoneröffnungs- und Saisonabschlussgottesdienste an und öffnen die Kirche an allen Heimspieltagen. Neben Getränken und einer kleinen Andacht haben die Menschen die Möglichkeit, kurz Ruhe zu finden, Gespräche zu suchen oder Kerzen anzuzünden. Zwischen zehn und 100 Besuchern an einem Tag sei schon alles dabei gewesen, sagt Diek. Darunter auch VfL-Fans aus dem Allgäu oder Fans der gegnerischen Mannschaft.
Für Kreuch und Diek zeigt sich in ihrer Arbeit immer wieder, wie eng Stadt, Verein und Menschen miteinander verwoben sind. "Der Verein ist ein essenzieller Teil von Bochum, er ist ein Traditionsverein, er stiftet Identität", sagt Diek. Diesen Zugang für ihre Arbeit nutzen zu können, "ist wirklich ein Schatz, den man nicht unterschätzen darf", ergänzt Kreuch. So entstehen kleine, oft unerwartete Momente von Nähe – Begegnungen, die von der gemeinsamen Leidenschaft für den VfL getragen sind. Fußball und Seelsorge gehen hier Hand in Hand wie ein gut eingespieltes Doppelpassspiel: beide ergänzen sich, schaffen Räume und öffnen Wege – mitten im Alltag der Fans.
"Leben ist alles zwischen Anpfiff und Amen" ist ein Motto der Fußballkirche.
Dortmund
Was hat eine katholische Kirchengemeinde mit einem international bekannten Fußballverein zu tun? Ganz einfach: Ohne die Gemeinde würde es Borussia Dortmund vermutlich nicht gegeben. Denn die Gründer des Vereins waren 18 junge, fußballbegeisterte Männer, die Teil einer kirchlichen Jugendgruppe in der Dreifaltigkeitsgemeinde in der Dortmunder Nordstadt waren. Der Kaplan der Gemeinde wollte ihnen das Spiel verbieten, da es als verpönte Sportart galt. Doch anstatt auf ihn zu hören, gründeten die Männer am Abend des 19. Dezember 1909 unter dem Vorsitz von Franz Jacobi und Heinrich Unger in der Gaststätte "Zum Wildschütz" am Borsingplatz den Ballspielverein Borussia – heute bekannt als Borussia Dortmund.
"Das ist in Deutschland einmalig", sagt Karsten Haug. Er ist seit 2017 Fanseelsorger in der Dreifaltigkeitskirche und einer der Projektleiter der "BVB-Gründerkirche". Mit diesem Bau- und Sozialprojekt möchten Borussia Dortmund und das Erzbistum Paderborn einen multifunktionalen Ort für BVB-Fans und den Stadtteil schaffen. Denn die Dreifaltigkeitskirche wird heute von der Pfarrei als Gottesdienstort nicht mehr gebraucht. "Von den sechs Kirchen, die wir hier in der Dortmunder Nordstadt haben, brauchen wir vielleicht eine", sagt Haug. Doch das Erzbistum wollte diese Kirche wegen des historischen Werts nicht einfach verkaufen.
Gemeindekirche, Fankirche und Ort des Stadtteils
Fußballverein und Bistum einigten sich darauf, "diese Kirche nicht nur zu renovieren, sondern weiterzuentwickeln", sagt der 53-Jährige. Sie bleibe eine geweihte Kirche, werde aber auch zu einem "Ort, wo unterschiedlichste Menschen zusammenkommen, um sich zu begegnen und miteinander ins Gespräch zu kommen." Er spricht von einem Dreiklang: Gemeindekirche, Fankirche und Ort des Stadtteils. So wird es in Zukunft eine Tribüne in der Kirche geben genauso wie eine kleine Dauerausstellung zu den Wurzeln des Vereins.
Um den sozial schwachen Stadtteil zu unterstützen, plant das Gründerkirchen-Team beispielsweise Sprachkurse, Bildungsformate für Kinder und Jugendliche, ein Seniorencafé und einen Mittagstisch für Bedürfte. "Wir probieren uns da jetzt auch schon ein wenig aus." Neben der Kirche, in der aktuell die Bauarbeiten stattfinden, steht eine Pfadfinderjurte, in der sie zwischen Frühjahr und Herbst einige Formate testen.
Karsten Haug hat seit 35 Jahren eine Dauerkarte im BVB-Stadion, seit 2017 ist er Fanseelsorger.
"Letztlich geht es um Werte", sagt Haug. Die Werte, die die Gründer durch ihren Glauben und ihr Leben getragen haben: Nächstenliebe, Kameradschaft, Zusammenhalt. Passend dazu zitiert er den BVB-Gründer Franz Jacobi: "Wir halten zusammen, was auch immer geschieht. Keiner schmort im eigenen Saft, sondern kümmert sich um seinen Nachbar."
Das erinnert Haug an den Fußballsong "You’ll never walk alone", der ihn auch in seiner Arbeit als Fanseelsorger leitet. "In erster Linie geht es mir darum, für die Menschen da zu sein." So erinnert er sich zum Beispiel an die Deutsche Meisterschaft in der Saison 2022/2023. Der BVB spielte damals am letzten Spieltag zu Hause nur Unentschieden gegen den 1. FSV Mainz 05 und verlor dadurch die Meisterschaft knapp an den FC Bayern München. "Am Tag darauf war Pfingstmontag", erzählt Haug. Aber anstatt wie sonst in die Kirche zu gehen, ging er zum Borsigplatz – einer Vermutung folgend.
"Und tatsächlich waren rund 600 bis 800 Fans da", sagt er. Er sei von Grüppchen zu Grüppchen gezogen und habe mit ihnen gesprochen. "Viele haben sich bedankt, dass ich als BVB-Seelsorger für sie da bin." Anschließend seien noch um die 50 Menschen mit in die Dreifaltigkeitskirche gegangen, um dort das Vereinslied zu singen und eine Kerze anzuzünden.
Ein Raum, in dem Geschichte und Glaube, Fußballkultur und Fürsorge zusammenfinden
Darum gehe es in seiner Arbeit: Auf die Sorgen und Nöte der Fans einzugehen, für sie da zu sein. Sie zu begleiten und Veranstaltungen zu planen, die "das schwarz-gelbe Herz berühren". Das könne ein Biertasting in der Kirche sein, ein schwarzgelber Martinsumzug oder der gemeinsame Besuch von Gräbern schwarz-gelber Legenden.
Für Haug zeigt sich darin, wie sehr die Verbindung zwischen Kirche und Verein bis heute trägt – nicht nur historisch, sondern im Alltag der Menschen. Viele Fans, sagt er, seien beim Saisoneröffnungsgottesdienst im August neugierig gewesen, wie sich die Dreifaltigkeitskirche verändert. Sie hätten sich dort umgesehen, obwohl zu dem Zeitpunkt vor allem Abrissarbeiten stattfanden. Für ihn bestätigt sich damit, dass diese Kirche auch in Zukunft ein Ort bleibt, der das schwarz-gelbe Herz berührt: ein Raum, in dem Geschichte und Glaube, Fußballkultur und Fürsorge zusammenfinden – so eng verwoben wie einst die jungen Männer, die hier den Grundstein für Borussia Dortmund gelegt haben.
Der Entwurf zeigt: Die Kirche wird nach dem Umbau weiterhin einen Gottesdienstraum haben.
Gelsenkirchen
"Hier im Ruhrgebiet ist man einfach Fußballfan", sagt Christiane Rother. Als Kind ging es für die gebürtige Wanne-Eicklerin nach dem Gottesdienst immer zur zweiten Halbzeit ins Stadion. "Ich habe Fußball inhaliert." Schwarz-gelb sind seit jeher ihre Farben – damals noch als Fan vom DSC Wanne-Eickel, heute als Fan von Borussia Dortmund. Fußball bewegt die 55-Jährige aber auch beruflich. Denn seit 2014 betreut sie das Projekt "Offene Kirche Schalke" in Gelsenkirchen im Bistum Essen.
Angestoßen wurde das Projekt 2013 vom damaligen Pfarrer, erzählt sie. Er wohnte im Pfarrhaus gegenüber von der Kirche und bekam aus nächster Nähe mit, wie die Fußballfans des FC Schalke 04 an Heimspieltagen zum Stadion pilgerten – und an seine Garage pinkelten. Warum also nicht die Kirchen öffnen, wenn im Stadtteil so viel los ist? Mit dem weltweit einzigartigen "Fußball-Kirchenfenster" und einer Toilette ist St. Joseph für Fans ideal, um vor dem Anpfiff kurz zu verweilen. Irgendwo trieb der Pfarrer blauweiße Teelichter auf, malte ein Plakat und öffnete die Kirche. Ein Dreivierteljahr später ist Rother als Seelsorgerin zum Team der offenen Kirche dazugestoßen.
"Wenn die Fans die blau-weiße Kirche betreten, bin ich erstmal auf ihrer Seite"
Aber als Borussin Seelsorgerin für die Fans des Erzrivalen sein – kann das funktionieren? Genau diese Frage stellte sich auch Rother, als sie damals auf die Stelle in Gelsenkirchen aufmerksam wurde. Der verantwortliche Pfarrer habe zu ihr gesagt: "Du bist Fußballfan, nur das zählt." Heute, elf Jahre später, weiß sie, dass ihr schwarz-gelbes Herz ihr bei der Arbeit nicht in die Quere kommt. "Wenn die Fans die blau-weiße Kirche betreten, bin ich für sie da. Dann bin ich erstmal auf ihrer Seite."
Die Seelsorgerin und das ehrenamtliche Team der offenen Kirche folgen der Devise "alles kann, nichts muss". Manche Fans wollen auf dem Weg zum Stadion einfach nur kurz auf die Toilette, andere zünden eine blau-weiße Kerze für ihren Verein an. Wieder andere möchte etwas über das Fußball-Kirchenfenster wissen. Es zeigt den Heiligen Aloisius, der seit 2010 offiziell der Schutzpatron aller Fußballspieler und -fans ist, mit Fußballschuhen und blau-weißen Stutzen. "Oben heilig, unten Fußball", sagt Rother. Ansonsten spricht sie über den Schalker Slogan "Ein Leben lang", der für die Fans genauso gilt wie für Christen. Wenn durch die Fußballthemen das Eis gebrochen ist, werde es oft sehr persönlich, sagt Rother.
Christiane Rother ist seit 2014 Fanseelsorgerin in der "Offenen Kirche Schalke".
Einmal sei eine Gruppe Männer in der Kirche vorbeigekommen, die für manche auf den ersten Blick mit ihren blau-weißen Kutten einschüchternd wirken konnten. Sie zündeten eine Kerze an und standen um das kleine Licht versammelt. Rother kam mit ihnen ins Gespräch. "Ihr Freund ist verstorben und sie wollten eine Kerze für ihn anzünden", erzählt sie. "Sie brauchten irgendwie ein kleines Ritual, in dem Gott eine Rolle spielt." Nach dem Gespräch zündete die Gruppe noch eine weitere Kerze an. Beim zweiten Mal habe sich das ganz anders angefühlt, sagten die Männer zu ihr. Auch die Seelsorgerin hatte den Eindruck, dass sie erleichtert waren, "als hätte sich in ihnen etwas gelöst".
Genau das seien die Momente, die sie selbst bewegen. "Manchmal brauchen die Menschen einfach nur eine kleine Entdeckungshilfe, einen kleinen Anstoß, um mit Gott in Berührung zu kommen", sagt Rother. Dafür brauche es nicht unbedingt einen Gottesdienst oder eine Andacht. Das sei ohnehin schwer mit der Euphorie eines Spieltages zusammenzubringen. "Durch unsere offene Art, passiert in unserem Gegenüber ganz viel - teilweise ohne dass wir es merken."
Rother ist froh, dass die "Offene Kirche Schalke" weiterhin eine Zukunft hat. Zwar steht St. Joseph offiziell zum Verkauf, doch eine Bedingung für die Nachnutzung ist der Fortbestand des Projekts. Für sie ist das ein starkes Zeichen dafür, wie wichtig dieser Ort für viele Menschen geworden ist – unabhängig davon, welchen Verein sie unterstützen, wo sie herkommen oder wie die Tabelle gerade aussieht. Und so soll auch künftig gelten, was längst zum Motto der offenen Kirche geworden ist: "Vorm Spiel is inne Kirche".
Die "Offene Kirche Schalke" öffnet an jedem Heimspieltag ihre Türen für alle Fußballfans.