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"Ich bin JHWH, dein Gott": Der Schlüssel zu den Zehn Geboten

Veröffentlicht am 17.03.2019 um 13:31 Uhr – Von Till Magnus Steiner – Lesedauer: 

In einer neuen Serie stellt katholisch.de die Zehn Gebote vor. Im ersten Teil geht es um einen Satz, der im Judentum als erstes Gebot gilt – in den verschiedenen Zählungen der christlichen Konfessionen allerdings nicht auftaucht. Dabei ist er der Schlüssel zu ihrem Verständnis.

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Als universales Gesetz und als Grundlage der Menschenrechte werden die Zehn Gebote oft laut gelobt und im Stillen doch häufig übertreten. Im Christentum hat eines der Gebote sogar völlig an Bedeutung verloren: Christen heiligen den Samstag nicht als den von Gott vorgeschriebenen Ruhetag. Der Sabbat ist jüdisch, Christen feiern am Sonntag die Auferstehung Jesu. Die Zehn Gebote sind kein ursprünglich christlicher, sondern ein alttestamentlicher Text, der an die Israeliten gerichtet ist. Nicht die gesamte Menschheit ist mit ihm angesprochen, sondern Gottes auserwähltes Volk nach seiner Befreiung: "Ich bin JHWH, dein Gott, der dich herausgeführt hat aus dem Land Ägypten, aus einem Sklavenhaus." Mit diesen Worten beginnen die Zehn Gebote in Exodus 20,2. Während dem Volk alle Gesetze vermittelt durch Mose offenbart werden, tritt Gott mit den Zehn Geboten seinem Volk unvermittelt gegenüber. Er verkündet sie nicht nur selbst, sondern verschriftlicht sie auch mit seinem eigenen Finger auf zwei Steintafeln und übergibt diese dem Mose (vgl. Dtn 10,2-4). Dies macht die Zehn Gebote zu einem einzigartigen Text in der Bibel mit einer besonderen Würde.

Der Text ist zweimal, in leicht unterschiedlichen Versionen, im Alten Testament überliefert: in Exodus 20,2-17 von Gott verkündet und in Deuteronomium 5,6-21 von Mose wiederholt. In keiner der beiden Versionen sind es zehn Gebote, sondern elf Verbote und zwei Gebote. So sind die Zehn Gebote, die auf zwei Steintafeln festgeschrieben wurden, dem Menschen nur scheinbar wie auf den Leib geschrieben: Man kann sie leicht an den Fingern abzählen und so einfacher merken. Aber die verschiedenen christlichen Konfessionen zählen unterschiedlich bis zehn. Zum Beispiel ist das oft als pädagogische Keule missverstandene Gebot, man solle seine Eltern ehren, in der Katholischen Kirche das vierte Gebot, während es gemäß der Zählung in den orthodoxen Kirchen das fünfte Gebot ist.

Eine Frage der Zählweise

Dieser Unterschied in der Zählung hängt davon ab, ob man das sogenannte Fremdgötterverbot und das sogenannte Bilderverbot als zweigeteiltes Verbot oder als zwei einzelne Verbote liest. "Du sollst neben mir keine anderen Götter haben", heißt es in Exodus 20,3. Auf den ersten Blick ist der folgende Vers ein anderes Verbot: "Du sollst dir kein Kultbild machen und keine Gestalt von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde." Doch die Begründung dieses Verbotes ist eng verknüpft mit dem vorherigen Verbot der kultischen Verehrung anderer Götter: "Du sollst dich nicht vor Ihnen [den Kultbildern] niederwerfen und ihnen nicht dienen." In beiden Verboten geht es darum, allein Gott anzubeten. So zählen die Anglikaner, Reformierten und Orthodoxen hier zwei Verbote, während die Katholiken und Lutheraner in diesen Versen zwei Seiten eines Verbotes erkennen. Die verschiedenen Zählungen sind jedoch keine Willkür, sondern die Zehnzahl ist bereits eine biblische Tradition.

Zehn Gebote
Bild: ©fotolia jorisvo

Moses hält die zehn Gebote in den Händen. Kirchenfenster mit Moses und den zehn Geboten.

Im Alten Testament werden die "Zehn Gebote" einfach "das Gebot" oder "die Zehn Worte" genannt: "Der HERR verkündete euch seinen Bund: Er verpflichtete euch, die Zehn Worte zu halten, und schrieb sie auf zwei Steintafeln" (Dtn 4,13). Aber nicht die Zählung ist das Entscheidende. Ja, nicht einmal die Verbote und Gebote sind das Grundlegende. Im Judentum wird der erste Satz als erstes Gebot gezählt, das ein Fundament nicht nur für die folgenden Worte, sondern für das gesamte alttestamentliche Gesetz bietet: "Ich bin JHWH, dein Gott, der dich herausgeführt hat aus dem Land Ägypten, aus einem Sklavenhaus."

Diese Selbstvorstellung Gottes ist kein Gesetz. Sie verbietet und fordert nichts. Und mit ihr stellt sich auch kein Unbekannter vor. Gott ist derjenige, der sein Volk aus der Sklaverei in Ägypten befreit hat. Nicht, wie sonst häufig im Alten Testament, steht hier, dass Gott sein Volk aus Ägypten heraufgeführt hat, nordwärts in Richtung des verheißenen Landes. Sondern er hat es herausgeführt aus dem als Sklavenhaus bezeichneten Ägypten. Dieses Ereignis machte Israel nicht nur zum Volk Gottes, sondern in den Worten am Anfang der Zehn Gebote werden die Israeliten als befreite Sklaven angeredet. Die Existenz der Israeliten als Befreite geht jedem "Du sollst" und "Du sollst nicht" voraus. Die Grundlage der Zehn Gebote ist die Freiheit der Israeliten, die ihnen ihr Gott verbürgt, in dem er sein eigenes Wesen beschreibt, als derjenige, der es befreit hat – "Ich …, dein Gott".

Gebote wahren die Beziehung zu Gott

Israel wird von Gott als sein Volk angesprochen und jeder einzelne Israelit soll die folgenden Verbote und Gebote einhalten. Sie gelten für diejenigen, die sich in Gemeinschaft stehend mit dem Gott des Exodus verstehen. Ihnen selbst wohnt keine Autorität inne, sondern sie ordnen und bewahren die bestehende Beziehung zu Gott. Aufgrund der im Alten Testament genannten zwei Steintafeln, auf denen die Zehn Gebote niedergeschrieben wurden, wird gemeinhin unterschieden zwischen Verpflichtungen gegenüber Gott und gegenüber den Menschen. Als Jesus gefragt wurde, was das wichtigste Gebot sei, verwies er auf die Gottes- und die Nächstenliebe (vgl. Mk 12,28-31). Dies deutete der Kirchenvater Augustinus als Zusammenfassung der zweigeteilten Zehn Gebote. Aber im Denken des Alten Testament bedeutet eine Sünde gegen einen Mitmenschen auch eine Sünde gegen Gott. Zum Beispiel: Josef, der Sohn des Erzvaters Jakob, widersteht in Ägypten dem Verführungsversuch durch die Frau seines Herrn Potifar mit den Worten: "Wie sollte ich dieses große Unrecht tun und gegen Gott sündigen" (Gen 39,9). In diesem Sinne ist Ethik ohne die Beziehung zu Gott als Voraussetzung unvorstellbar.

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Video: © katholisch.de

Was sind die Zehn Gebote? Ein Beitrag der Serie "Katholisch für Anfänger".

Der Gottesbezug am Anfang der Zehn Gebote ist konstitutiv. Auch im Verhalten gegenüber dem Nächsten entscheidet sich die Beziehung zu Gott. Nicht von ungefähr ist das erste Wort der Zehn Gebote das göttliche "Ich" und das letzte der Verweis auf den zu schützenden "Nächsten". Nur wenn der Israelit sich sowohl an Gott als auch an seine Mitmenschen im positiven Sinne bindet, dann gestaltet sich die von Gott geschenkte Freiheit und kann so bewahrt werden. Dieser theologische Gedanke ist zugespitzt in einem anderen Gesetz im Buch Exodus. Selbst der Nicht-Israelit im eigenen Land darf nicht unterdrückt werden, denn was Unterdrückung in einem fremden Land bedeutet, hat Israel selbst in Ägypten erfahren müssen – und die geschenkte Freiheit ist ein ethischer Auftrag: "Einen Fremden sollst Du nicht bedrücken – ihr selbst kennt das Leben des Fremden, denn Fremde seid ihr im Land Ägypten gewesen" (Ex 23,9).

Die Zehn Gebote sind keine allgemeinen Normen und sie wollen selbst auch keine unveräußerlichen Menschenrechte festlegen. Sie sind nicht einmal Gesetze, gemäß denen gerichtet werden könnte. Sondern sie sind Lebens- und Verhaltensregel für den durch Gott befreiten Menschen. Die Zehn Gebote formulieren die Grenzen, innerhalb derer sich die den Israeliten geschenkte Freiheit Gottes verwirklichen kann.

Von Till Magnus Steiner