"Ehre deinen Vater und deine Mutter": Das vierte Gebot
"Ihr Kinder, gehorcht euren Eltern im Herrn, denn das ist recht!," so steht es im Epheserbrief. Für Kinder soll der Gehorsam gegenüber den Eltern Ausdruck ihres Glaubens an Gott sein. Als Begründung hierfür wird das in der Vergangenheit häufig als pädagogische Keule gebrauchte Vierte Gebot des Dekalogs angeführt: "Ehre deinen Vater und deine Mutter: Das ist ein Hauptgebot mit einer Verheißung: damit es dir wohl ergehe und du lange lebst auf der Erde." (Epheser 6,2-3) – und darauf folgt dann ein überraschend, fast nach einer modernen Pädagogik klingender Ratschlag: "Und ihr Väter, reizt eure Kinder nicht zum Zorn, sondern erzieht sie in der Zucht und Weisung des Herrn!" Zorn verhindert Erziehung. Das Vierte Gebot enthält keinen solchen Ratschlag, wie sich die Eltern gegenüber ihren Kindern zu verhalten haben – aber es ist auch nicht nur an Kinder gerichtet. Die Zehn Gebote richten sich insgesamt an das gesamte israelitische Volk. Die Aufforderung seine Eltern zu ehren, verliert seine Relevanz nicht durch das Erwachsenwerden.
In seiner Auslegung des Vierten Gebots betont der Weisheitslehrer Jesus Sirach die Verantwortung, die erwachsene Kinder gegenüber ihren Eltern haben: "Kind, nimm dich deines Vaters im Alter an und kränke ihn nicht, solange er lebt!" (Sirach 3,12). Und in den alttestamentlichen Gesetzen ist diese Mahnung todernst: "Wer seinen Vater oder seine Mutter schlägt, hat den Tod verdient. […] Wer seinen Vater oder seine Mutter verflucht, hat den Tod verdient." (Exodus 21,15.17). An vielen Stellen im Alten Testament wird deutlich, dass die Ehrung der Eltern bedeutet, sie nicht zu schlagen, nicht zu verfluchen, nicht zu verspotten, nicht zu verachten und nicht zu bestehlen. Doch das Vierte Gebot bedeutet mehr als die Summe dieser Verbote. Die am Anfang stehende hebräische Befehl כַּבֵּד (gesprochen: kabed) stammt von einem Wort, dessen Grundbedeutung "schwer sein" aber auch "gewichtig sein" ist.
Angemessene Altersversorgung
Die Frage nach der Brauchbarkeit und Nützlichkeit alter Eltern darf sich nicht stellen, sondern im Umgang mit ihnen soll ihnen sozusagen Gewicht verliehen werden in der Gesellschaft. Umfassend wird verlangt ihre Würde anzuerkennen und sie zu respektieren. In der mit dem Hebräischen verwandten akkadischen Sprache bezeichnet ein ähnliches Wort "die angemessene Altersversorgung und würdige Behandlung der alten Eltern durch ihre erwachsenen Kinder". Wenn man nachschlägt, an welchen weiteren Stellen es im Alten Testament die im Vierten Gebot verwendete Befehlsform noch verwendet wird, wird eine zweite Bedeutungsebene deutlich, auf die bereits der jüdische Philosoph Philo von Alexandrien in der Antike verwiesen hat: "Es heißt: ehre deinen Vater und deine Mutter; und es heißt: ehre den Herrn deinen Gott [siehe zum Beispiel Ps 22,24]. Die Schrift hat somit die Ehrung von Vater und Mutter mit der Ehrung Gottes verglichen."
Bereits innerhalb der Zehn Gebote ist die grundlegende Bedeutung dieses Gebotes sichtbar. Es ist das erste Gebot, dass nicht die Beziehung zu Gott thematisiert, sondern ausschließlich die Beziehung zum "Nächsten" mit denen sich die folgenden, restlichen Gebote befassen. Zudem wird in der Version im Buch Deuteronomium nur im Falle des Sabbatgebotes und der Aufforderung zur Ehrung der Eltern ausdrücklich darauf verwiesen, dass dies Gott befohlen hat. Und zusätzlich wird in beiden Versionen, Motivation zur Einhaltung dieses Gebotes gegeben: "damit du lange lebst in dem Land, das der HERR, dein Gott, dir gibt!" (Exodus 20,12). Der Verweis auf das verheißene Land verdeutlicht nochmals, dass das Volk Israel angesprochen ist. Ob der Einzelne Anteil daran hat, wird vom Verhalten der des erwachsenen Kindes gegenüber den alten Eltern abhängig gemacht. Im Buch Deuteronomium wird die Motivation nochmals gesteigert: "damit du lange lebst und es dir gut geht in dem Land, das der HERR, dein Gott, dir gibt!" Wer seine Eltern ehrt, lebt nicht nur im Land, in dem Milch und Honig fließen, sondern er oder sie lebt gut.
Das Gebot, Vater und Mutter zu ehren, beschreibt nicht konkret, welche Handlungen damit gefordert sind, sondern es setzt einen positiven Anfang, aus dem sich ein fortdauerndes würdevolles Verhalten ergibt – und zugleich steht im Hintergrund auch eine generationenübergreifende Tragweite: Wer seine altgewordenen Eltern ehrt, gibt seinen eigenen Kindern ein Vorbild dafür, wie er oder sie selbst im Alter behandelt werden sollen.