Serie: Fastenzeit inmitten der Corona-Pandemie

Allein, aber nicht solo: Eine Auszeit zur Selbstreflexion

Veröffentlicht am 14.03.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Die Fastenzeit steht in diesem Jahr ganz im Zeichen der Corona-Pandemie. Viele Menschen sind vorwiegend zu Hause – und das überwiegend allein. Doch auch unter diesen Voraussetzungen kann das Fasten seine Wirkung entfalten: als Reise zum eigenen Selbst.

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Wenn in der Bibel vom Fasten die Rede ist, ist die Funktion dieses Ritus ziemlich klar: Es geht um Buße und Umkehr. Dieses Moment der Umkehr spielt bei Fastenritualen aller Weltreligionen eine Rolle: Der bedeutendste Fasttag des Judentums ist das Versöhnungsfest Jom Kippur, Muslime fasten im Ramadan zu Ehren des Koran und Buddhisten wollen mit der Reduktion von Nahrung etwas für ihr Bewusst sein und Karma tun. Corona hat öffentlichen Fastenriten wie dem abendlichen Fastenbrechen bei Muslimen vielerorts den Garaus gemacht: Man darf nicht viele Menschen treffen und muss angesichts der Infektionsgefahr vorsichtig beim Kontakt mit anderen Menschen sein. Doch trotzdem: Die Fastenzeit kann zum Gewinn werden.

Denn die Zeit der Umkehr kann auch für Christen in einem säkularen Land wie Deutschland und abseits gesellschaftlicher Ritualformen für eine Umkehr ganz im Inneren von Nutzen sein. Und hier ist jetzt nicht unbedingt (nur) von der Umkehr zum Glauben die Rede, sondern der Schritt davor ist gemeint: Die Besinnung und Reflexion des eigenen Selbst. Nicht umsonst wird Jesus bei seinem 40-tägigen Fasten in der Wüste vom Teufel als Person versucht, wenn ihm alle Reiche der Erde angeboten werden: Es ist die Wahrnehmung der eigenen Individualität, ihrer hellen und dunklen Seiten, die ein ganz grundlegendes Ziel eines jeden Fastens ist.

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Es ist die Wahrnehmung der eigenen Individualität, ihrer hellen und dunklen Seiten, die ein ganz grundlegendes Ziel eines jeden Fastens ist. ("Christus in der Wüste" von Iwan Kramskoi, 1872)

Wie das genau funktionieren kann, zeigt Jesus in der bereits genannten biblischen Szene – er sagt: "Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt." (Mt 4,4) Der Verzicht bedeutet: innerlich Platz machen für anderes; wenigstens zeitweise einen Teil des Überflusses gegen etwas Elementares eintauschen. Es soll also eine Zeit nicht des bewussten Leidens, sondern der Reduktion und Konzentration sein. Das betont auch Jesus: "Wenn ihr fastet, macht kein finsteres Gesicht wie die Heuchler! Sie geben sich ein trübseliges Aussehen, damit die Leute merken, dass sie fasten. Amen, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten. Du aber, wenn du fastest, salbe dein Haupt und wasche dein Gesicht, damit die Leute nicht merken, dass du fastest, sondern nur dein Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der das Verborgene sieht, wird es dir vergelten." (Mt 6,16-18) Sinn des Fastens ist also, einen inneren Gewinn daraus zu ziehen – für die eigene Seele.

Wort statt Brot

Ein Mittel dazu kann der bereits genannte Austausch von Brot gegen Wort sein: Statt der Zeit für das Materielle mal Zeit für das Immaterielle frei machen. Das kann in der Praxis heißen, von den im Durchschnitt 151 Minuten, die Menschen in Deutschland in ihren 30ern täglich am Smartphone verbringen, vielleicht eine halbe Stunde frei zu machen, um sich – wahlweise durch Meditation, Gebet oder auch der Lektüre eines Bibelkapitels – mit sich selbst und der eigenen Seele zu beschäftigen. Wichtig ist, das richtige Instrument zu finden: Manche lesen gerne viel und denken vielleicht nach einem Auszug aus den Evangelien über die wirklich wichtigen Themen des Lebens nach. Andere begnügen sich dagegen mit einem – vielleicht sogar willkürlich ausgesuchten – Bibelzitat, etwa: "Wäre nicht der HERR meine Hilfe, bald würde meine Seele wohnen im Schweigen." (Ps 94,17) Welches Schweigen fühle ich in mir, wo sind Leerstellen, Fragen? Was gibt mir da Halt, wo kann ich Hilfe finden? Reicht mir das, suche ich mehr? All das können Fragen sein, die dieser einzelne Satz auslösen kann.

Bild: ©picture alliance / Godong / Fred de Noyelle

Die Unterscheidung der Geister geht auf den heiligen Ignatius von Loyola zurück.

Der erste Schritt ist also der Blick nach innen zum ich. Der nächste Schritt kann – muss aber nicht – nach oben gehen: Welche Rolle spielt Gott in meinem Sprechen und Schweigen, ist er für mich spiritueller Bezugspunkt, Identitätsstifter oder in erster Linie gefühlt viel zu fern, ohne Bezug zu mir? Jede Frage, jeder Gedanke ist erlaubt, denn die Seele lässt sich nichts verbieten, ihre Bedürfnisse sind leise, aber wichtig. Dieses spirituelle Fasten sollte kein Ziel haben, sondern ein Prozess sein. Ignatius von Loyola (1491-1556) hat ihn schon im 16. Jahrhundert als Unterscheidung der Geister beschrieben: Auf die einzelnen Stimmen im Inneren hören, auch die leisen lauter werden lassen und ernst nehmen. Danach geht es um die Unterscheidung. Was ist positiv, was negativ für mich? Was ist mir wichtig, was sieht nur wichtig aus? Woran muss ich arbeiten, auf was habe ich vielleicht zu viele Ressourcen verwendet?

Niemand ist eine Insel

Wichtig während des Blicks nach innen und nach oben ist zudem, den Blick nach außen nicht zu vergessen. "Niemand ist eine Insel, nur ganz in sich; jeder ist ein Teil eines Kontinents, ein Teil des Ganzen", formuliert es treffend der englische Dichter John Donne (1572-1631) Bei der einsamen Reflexion stehen zu bleiben, wäre vielleicht etwas kurz gedacht: Denn als soziale Wesen denken Menschen die anderen immer mit, ihre Wirkung und Wechselwirkung auf und mit ihrer Umgebung. Diese Perspektive macht auch die Bibel stark: Fasten heißt nicht nur Beschäftigung mit sich selbst, sondern auch wieder mehr auf andere blicken. "Ist nicht das ein Fasten, wie ich es wünsche: die Fesseln des Unrechts zu lösen, die Stricke des Jochs zu entfernen, Unterdrückte freizulassen, jedes Joch zu zerbrechen? Bedeutet es nicht, dem Hungrigen dein Brot zu brechen, obdachlose Arme ins Haus aufzunehmen, wenn du einen Nackten siehst, ihn zu bekleiden und dich deiner Verwandtschaft nicht zu entziehen?" (Jes 58,6-7)

Wie gehe ich mit anderen um? Würdige, wertschätze ich sie so, wie sie es verdienen? Oder kaufe ich mir einen schnellen Vorteil auf Kosten anderer, der dann aber lange an mir nagt und mir vielleicht sogar ein schlechtes Gewissen macht? (Wie) Kann ich mein Verhalten ändern, was kann ich besser, sensibler, freundlicher sagen und tun? Dazu ist es natürlich hilfreich, das nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit anderen zu besprechen. Das Selbstbild mit dem Fremdbild nicht nur in Kontakt, sondern auch im Idealfall in Einklang zu bringen, kann ebenfalls ein Fastenprozess sein. Und das geht auch coronakonform per Telefon oder Internet-Konferenz.

Die Fastenzeit bietet also mehr als nur Verzicht: Sie ist eine Chance, auch und vielleicht sogar gerade abseits zeichenhafter Rituale, die Dank Corona eh größtenteils flachfallen. Doch auch Zuhause lohnt der Blick in die Seele, auf das eigene (Er-)Leben und Handeln. Damit zu Ostern die 40 Tage "ohne" nicht nur eine Zeit des Verzichts, sondern auch des Neuanfangs waren.

Von Christoph Paul Hartmann