Die Kirche und das Gewissen: Vom "inneren" Zwang zur Wahrheit
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Das Gesetz oder Gebot, das uns sagt, was richtig und falsch ist ("Du sollst", "Du sollst nicht"), und das Gefühl für das Gute und Böse treffen sich im Gewissen und werden dort vor dem Gerichtshof der praktischen Vernunft beurteilt. Welche Norm sehe ich unmittelbar ein und bin bereit, sie zu befolgen? Welcher Regel will, vielmehr: Kann ich nicht Folge leisten, weil sich etwas in mir dagegen sträubt, so sehr, dass der Widerstand nicht nur aus Unlust resultiert, sondern aus existentieller Furcht vor dem Verlust personaler Integrität? Die Katholische Kirche sucht nach einem Ausgleich von allgemeiner Anforderung der Gemeinschaft an den Einzelnen und der persönlichen Freiheit, diese Forderung im Fall von Gewissensnot auch zurückweisen zu können.
Dieser Ausgleich ist nötig, denn in einem solchen Fall stehen die allgemeine Normativität und das persönliche Befinden in einem Spannungsverhältnis. Während nun aus dem Blickwickel des Subjekts Beliebiges erkannt wird und der Gewissensgebrauch damit in einen "So sehe ich das!"-Relativismus herabzusinken droht, der Authentizität und persönliches Wohlergehen zu den alleinigen Kriterien von Moral macht, kann die objektive Ordnung durch zu starke Verbindlichkeit jeden Spielraum eigener Verantwortungsübernahme zunichte machen. Wird der Gewissensgebrauch im Subjektivismus durch Relativität und fehlende Verbindlichkeit in Bezug auf die objektive Norm- und Wertordnung in seiner Unberechenbarkeit zur Gefahr für die Allgemeinheit, so wird er im Objektivismus vom Vorrang der Normativität im Keim erstickt. Kurz: Das subjektivistisch formierte Gewissen ist zu allem fähig, das objektivistisch eingefasste Gewissen zu nichts zu gebrauchen.
Bemühung um Ausgleich mit Thomas von Aquin
Die Kirche versucht, die objektive Notwendigkeit und die subjektive Freiheit zusammenzubringen. Die Dichotomie von einerseits Unverbindlichkeit, die zur Beliebigkeit neigt, und andererseits Verbindlichkeit, die zum Zwang wird, versucht die katholische Morallehre dadurch zu überwinden, dass sie das Subjekt als auf das Objekt verwiesen begreift, denn erst das Objekt befähigt das Subjekt zu Freiheit und Vernunftgebrauch. Das ist die grundsätzliche Idee der katholischen Morallehre: Das Subjekt Mensch ist gerade in der Bindung an Gott und an die ihm von Gott eingestiftete Vernunft frei. Er braucht für diese Freiheit jene Bindung. Es ist eine Freiheit durch, mit und in Gott. Die Beziehung zwischen Gott (bzw. Gebot) und Mensch (bzw. Gewissen) ist somit keine gespannte, einen prinzipiellen Gegensatz mühsam austarierende mehr, sondern sie lässt sich im Glauben zu einer vitale Beziehung des Ausgleichs entwickeln, die dem Gläubigen Kraft gibt für ein gelingendes Leben.
Die katholische Morallehre denkt das Gewissen also nicht vom Menschen, sondern von Gott her. Zugleich erkennt sie dessen Wirksamkeit im Menschen. Sie sucht dazu im Anschluss an Thomas von Aquin, der sich schon im 13. Jahrhundert Gedanken über das Gewissen gemacht hat, den Ausgleich zwischen hetero- beziehungsweise theonomen (Gebot und Gnade Gottes) mit autonomen Elementen (Wille und Freiheit des Menschen). Zusammengehalten werden diese Elemente von der Vernunft als praktische Rationalität des Handelns, welche Einsicht in die Wahrheit gewährt. Diese Idee verlangt ein kluges Abwägen subjektivistischer und objektivistischer Argumente.
Eine solche Abwägungsbemühung wird gerade auch in den Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) über das Gewissen spürbar. In der Pastoralkonstitution "Gaudium et spes", die eine Synthese der gegensätzlichen Positionen darstellt, findet sich eine Bestimmung des Gewissens, deren Grundgedanke lautet: "Im Inneren seines Gewissens entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht selbst gibt, sondern dem er gehorchen muss und dessen Stimme ihn immer zur Liebe und zum Tun des Guten und zur Unterlassung des Bösen aufruft und, wo nötig, in den Ohren des Herzens tönt: Tu dies, meide jenes. Denn der Mensch hat ein Gesetz, das von Gott seinem Herzen eingeschrieben ist, dem zu gehorchen eben seine Würde ist und gemäß dem er gerichtet werden wird. Nicht selten jedoch geschieht es, dass das Gewissen aus unüberwindlicher Unkenntnis irrt, ohne dass es dadurch seine Würde verliert. Das kann man aber nicht sagen, wenn der Mensch sich zu wenig darum bemüht, nach dem Wahren und Guten zu suchen, und das Gewissen durch Gewöhnung an die Sünde allmählich fast blind wird" (Nr. 16).
Trotz allem: Der Mensch muss "nach dem Wahren und Guten" suchen
Die hier gegebene Definition umfasst alles, was es braucht, um die katholische Auffassung vom Gewissen als fruchtbares Ergebnis einer Abwägung von objektivistischen und subjektivistischen Aspekten zu verstehen. Es erscheint in ihr eine Haltung, die sich durch ein großes abwägendes "Einerseits-Andererseits" charakterisieren lässt, das bis an die Schmerzgrenze der Selbstverständigung einer Religionsgemeinschaft geht: Einerseits geht es beim Gewissen nicht um den konkret praktizierten religiösen Glauben, andererseits kommt das Gewissen ohne die Wahrheit, die allein in Gott ist, nicht aus. Gerichtet wird der Mensch also nicht danach, ob er katholisch ist, sondern danach, ob er seinem Gewissen folgte und damit seiner Würde gemäß gelebt hat. Der Mensch bleibt jedoch aufgefordert, "nach dem Wahren und Guten zu suchen" (also: nach Gott), um nicht aus Unkenntnis mit und durch den Gebrauch des Gewissens moralisch zu irren. Bei dieser Suche wiederum hilft ihm die Kirche, deren Hilfe abzuweisen eine Unterlassung darstellt, die den daraufhin unvermeidlichen Irrtum nicht rechtfertigt.
Wer also vor dem Richter bestehen will, tut gut daran, der katholischen Morallehre zu folgen – ob er katholisch ist oder nicht. Denn nur sie orientiert sicher und direkt auf die Wahrheit hin und führt ohne Umwege zum Heil. Mit dieser lebendigen Beziehung von Religionsgemeinschaft und persönlichem Glauben, die sich in einer unauflöslichen Verbindung von Gott und Gewissen konstituiert, gelingt dem Konzil etwas, das man wohl mit einigem Recht "Quadratur des Kreises" nennen kann. Dem Menschen bleibt Raum, den die Kirche eingedenk der Pläne des Architekten und der Lage des ganzen Gebäudes bemessen hat. Wenn sich der Mensch mal in der Tür irrt, um Räume zu öffnen, die ihm nicht zugedacht sind, dann nicht, weil der Plan missverständlich oder gar fehlerhaft wäre, sondern weil der Mensch sich nicht genügend bemüht hat, ihn zu lesen und zu verstehen und auch, weil er die Erläuterungen und Deutungshilfen der Kirche übersah, die als langjährige Hausverwalterin über besondere Erfahrungen und Kenntnisse im Zusammenhang mit dem Gebäude verfügt.
Das hört sich – zumal für der Kirche fernstehende Menschen – immer noch nach einer von der objektiven Ordnung katholischer Morallehre überlagerten Gewissenskonzeption an. Doch zu bedenken ist: Der Respekt der katholischen Morallehre vor dem Gewissen ist so groß, dass sie dem Menschen zugesteht, nach seinem Gewissen zu handeln, auch, wenn die Handlung im Ergebnis aus Sicht der Kirche falsch ist. Dies beschreibt die Denkfigur des irrenden Gewissens, die bereits bei Thomas von Aquin aufzuweisen ist. Was gewinnt man damit ethisch? Einerseits die Bestätigung der absolut geltenden Norm auch angesichts einer Person, die diese Geltung nicht erkennt bzeziehungsweise anerkennt, andererseits die unbedingte Achtung dieser Person in ihrer Entscheidung, soweit sie eben nicht anders kann, soweit es eben eine Gewissensentscheidung ist. Einerseits beugt der Gedanke des irrenden Gewissens also dem naturalistischen Fehlschluss vor (das Handeln der Person wirkt nicht auf die Norm selbst zurück, das So-Sein der Entscheidung beeinflusst nicht das Sollen – böse bleibt böse und gut bleibt gut), andererseits verhindert er eine rigoristische Geltungsbehauptung von Normen ohne jede Kontextsensitivität. Die Kirche lässt die Person mit ihrem Gewissen zum Zuge kommen, sagt ihr jedoch, wenn sie meint, dass sie, die Person, sich damit im Irrtum befindet, und gibt ihr so die Chance zu Besinnung und Besserung. Und das ist wahrhaft menschlich.
Gewissensbildung als Aufgabe der Kirche
Die Aufgabe der Kirche im Kontext des Gewissens ist folglich die Bildung. Gesucht ist ein Rückbindungsmodus des Gewissens, der den Einzelnen befähigt, gegebene Normen kritisch zu reflektieren, der ihn jedoch soweit binden, dass er sich nicht gleich selbst zur einzig gültigen Norm erklärt. Dabei muss neben der Anerkennung der Bedingungen Freiheit und Verantwortung weiterhin sichergestellt sein, dass sich der Vernunftgebrauch der Wahrheitssuche verpflichtet weiß. Denn wer die Wahrheit als Zielgröße der praktischen Rationalität ablehnt, nimmt letztlich auch das Gewissen nicht ernst. Der Schlüssel für den Rückbindungsmodus liegt folglich in der Beziehung des Gewissens zur Wahrheit. Erst wer hier ebenfalls Subjektivität unterstellt (meine "Wahrheit", deine "Wahrheit"), kommt aus der Falle der Unbestimmtheit, ja: Beliebigkeit nicht heraus. Wer aber davon ausgeht, dass es eine gemeinsame Quelle von Vernunft und Wahrheit gibt, die auch für das Gewissen gesorgt hat, nämlich Gott, hat den Grund einer Objektivierung gefunden, die jedoch nur durch das Subjekt wirksam wird (eben in Gestalt des Gewissensgebrauchs) und die damit von der Zustimmung des Subjekts abhängig bleibt.
In der katholischen Morallehre wird einerseits an der Wahrheit festgehalten, andererseits beachtet, dass der Einzelnen in seiner Freiheit nie von außen gezwungen werden kann. Aber eben von innen beziehungsweise von einem "verinnerlichten Außen", vom Gewissen, einem durch göttliche Norm informierten Gewissen. Im Glauben an den Gott der Bibel, der Gebote erlässt und zugleich mit der Gabe der Vernunft die Einsicht in ihre Notwendigkeit ermöglicht, konvergieren im Gewissen Freiheit und Wahrheit. Die subjektive menschliche Sittlichkeit und das objektive göttliche Gebot stehen dann nicht im Gegensatz zueinander, sondern bedingen sich: das Gebot, weil es die Sitten initiiert, der Mensch, weil er sich – an Gott glaubend – das Gebot in vernünftiger Deutung zu eigen macht.