Rudolf Bultmann: Ein evangelischer Exeget befreit die Bibel vom Mythos
Rudolf Bultmann wurde am 20. August 1884 in Wiefelstede im nordwestlichen Niedersachsen geboren. Sein Vater war der evangelische Pfarrer Arthur Kennedy Bultmann, seine Mutter dessen Ehefrau Helene. Während der Vater eher einer liberalen Theologie zugewandt war, blieb die Mutter in einem pietistischen Milieu verhaftet. Schon bald wechselte die Familie den Wohnort, zunächst nach Rastede, anschließend nach Oldenburg, wo Bultmann das Gymnasium besuchte. Grundsätzlich bleibt festzuhalten, dass Bultmann in einem stark pietistisch geprägten Christentum in frühester Kindheit sozialisiert worden ist; erst im Laufe seiner Schulzeit und vor allem durch den Besuch des Gymnasiums, konnte er an Weite gewinnen, diese ursprüngliche Frömmigkeitsformen kritisch zu hinterfragen.
Nach dem Abitur im Jahr 1903 führte der Weg Bultmanns nach Tübingen, wo er mit dem Studium der Theologie und Philosophie begann. Bereits ein Jahr später wechselte er nach Berlin, ehe er schon 1905 nach Marburg ging. Vermutlich konnte Bultmann mit dem Leben in der Großstadt Berlin nicht viel anfangen, war er selbst ja vor allem durch seine Kindheit auf dem Oldenburger Land geprägt. Freilich nutzte Bultmann in Berlin besonders die vielfältigen kulturellen Angebote, die sich hier für ihn eröffneten und an denen er reges Interesse zeigte. Bedeutende Lehrer in dieser Zeit waren nach einem Selbstzeugnis Bultmanns der Tübinger Historiker Karl Müller, der Alttestamentler Hermann Gunkel und der Dogmenhistoriker Adolf von Harnack.
Lehrtätigkeit in Marburg und Breslau
In Marburg angekommen konzentrierte sich Bultmann zunehmend auf sein späteres Fachgebiet, das Neue Testament, und begann die Arbeit an einer Dissertationsschrift über den "Stil der paulinischen Predigt", mit welcher er 1910 an der Marburger Fakultät promoviert wurde. Nur zwei Jahre später wurde Bultmann ebenfalls in Marburg mit einer Arbeit über die Exegese Theodor von Mopsuestias habilitiert. In seinem Probevortrag, der für die Verleihung der venia legendi notwendig war, setzte sich Bultmann mit der Frage auseinander, welche Erkenntnisse über die Urgemeinde die Spruchquelle zulässt. Mit dem Beginn seiner Lehrtätigkeit an der Marburger Fakultät nahm Bultmann auch seine Tätigkeit als fleißiger Rezensent von theologischer Fachliteratur auf; im Laufe seines Lebens hatte er wohl über 600 Bücher besprochen. Auch der Kontakt zu den jüdischen Kollegen war wichtig: Unter anderem mit dem Mathematiker Ernst Hellinger traf Bultmann regelmäßig zusammen.
Nach einer Zeit als Privatdozent in Marburg berief man Bultmann im Jahr 1916 als außerordentlichen Professor nach Breslau. Am 06. August 1917 folgte ein einschneidendes Erlebnis: Bultmann heiratete in Essen Helene Feldmann, die er bereits 1914 kennengelernt hatte. 1920 ereilte ihn ein Ruf aus Gießen, ehe er bereits ein Jahr später als ordentlicher Professor für Neues Testament zurück an die Marburger Fakultät kam. Hier wurde er als Nachfolger von Wilhelm Heitmüller zum Kollegen des Harnack-Schülers Hans von Soden, den Bultmann bereits aus seiner Breslauer Zeit kannte und mit dem ihm eine tiefe Freundschaft verband.
Kontroverse mit schweizerischem Kollegen Karl Barth
In der Folgezeit wurde vor allem die Auseinandersetzung mit der Theologie Karl Barths für Bultmann prägend: Nach Erscheinen von Karl Barths Römerbriefauslegung im Jahr 1919 hatten sich die beiden Professoren angenähert, dies kam vor allem durch den gemeinsamen Freund Friedrich Gogarten zustande. Freilich wurde das Verhältnis zwischen Barth und Bultmann letztendlich dadurch preisgegeben, dass Barth nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten meinte, Bultmann hätte sich den "Deutschen Christen" angeschlossen. Dabei teilten sowohl Bultmann als auch Barth von Beginn an das Engagement in der "Bekennenden Kirche"; auch öffentlich setzte sich Bultmann sehr kritisch mit dem Gedankengut der Nationalsozialisten auseinander und stand seinen jüdischen Freunden auch in schweren Zeiten treu zur Seite.
Auch die enge Beziehung, die Bultmann zu seinem Marburger Kollegen Martin Heidegger pflegte, machte ihm Karl Barth wiederholt zum Vorwurf. Wenngleich das Verhältnis zwischen Heidegger und Bultmann doch nach und nach zerrüttete, vor allem auch deshalb, weil Heidegger nach 1945 nie öffentlich zum Nationalsozialismus auf Distanz gegangen war. Karl Barth schließlich machte den Graben zu Bultmann, der im Laufe der Jahre immer breiter wurde, in seiner Schrift "Rudolf Bultmann. Ein Versuch, ihn zu verstehen" öffentlich.
Theologie von antijüdischen Motiven befreien
In seiner exegetischen Forschung war Bultmann in allen Bereichen des Neuen Testaments vertreten, wobei ihm besonders die Auseinandersetzung mit dem historischen Jesus sowie den synoptischen Evangelien und dem Johannesevangelium am Herzen lag. Zu allen Forschungsbereichen veröffentlichte Bultmann zahlreiche Publikationen, darunter auch wissenschaftlich einschlägige Werke, die teils bis heute Neuauflagen erfahren. Im Zuge seiner Forschungstätigkeit ist vor allem sein positiv Verhältnis zum Judentum hervorzuheben. Wahrscheinlich waren es schon immer die Beziehungen zu jüdischen Gläubigen, die ihn antrieben, die Theologie von antijüdischen Motiven zu befreien und ihnen gerade in der traditionellen protestantischen Theologie den Boden zu entziehen. Freilich muss am Rande bemerkt werden, dass Bultmann gerade in der Arbeit mit dem Johannesevangelium auch hinter seinen eigenen Ansprüchen zurückgeblieben ist. Doch insgesamt ist es bemerkenswert, dass Bultmann Jesus aus Nazareth in herausragender Weise als jüdischen Gläubigen in seiner Zeit zu verstehen versucht. Ein Ansatz, der zur Zeit Bultmanns sicher alles andere als gängig war.
Die Vorlesungen, die Bultmann in Marburg hielt, waren bei den Studierenden beliebt. Vor allem seine interdisziplinäre Arbeitsweise, bei der er unter anderem mit Literaturwissenschaftlern und Philosophen ins Gespräch kam, war auf einem hohen wissenschaftlichen Niveau angesiedelt.
Im Jahr 1951 wurde Bultmann von der Marburger Fakultät emeritiert, ehe er am 30. Juli 1976 verstorben ist. Gemeinsam mit seiner Frau Helene ist er auf dem Marburger Hauptfriedhof bestattet.
Entmythologisierung: Wie heute das Evangelium verstehen?
Um Bultmanns Auslegung des Neuen Testaments auf die Spur zu kommen, muss man sich zunächst mit der ihm eigenen Arbeitsweise vertraut machen. Für Bultmann waren die biblischen Texte nämlich nie neutrale Vorgegebenheiten, sie konnten nur von einem besonderen Standpunkt aus betrachtet werden. Leitend hierfür war das Kerygma, also die Predigt vom Evangelium von Jesus Christus. So waren die biblischen Texte für Bultmann immer auch Schriften, die ihn in seiner eigenen Existenz ansprechen wollten und von denen er sich ansprechen lassen musste.
Diese existentielle Lesart der Bibel war nicht nur den Gläubigen angeraten, sondern auch den wissenschaftlichen Exegeten. Der Glaube wird so zum Schlüssel des Verstehens; der Mensch ist nicht mehr selbst der aktiv Verstehende, das Verstehen erschließt sich ihm vielmehr durch den Glauben. Die biblischen Schriften können somit existentiell interpretiert werden.
Das wiederum führt zu einem wichtigen Begriff, der häufig in einem Atemzug mit Bultmann genannt wird: die Entmythologisierung. Bultmanns leitende Frage lautete: Was können die biblischen Texte einem aufgeklärten Menschen des 20. Jahrhunderts überhaupt noch sagen? Kann ein Mensch, der in einem technisch-naturwissenschaftlich geprägten Milieu lebt, noch etwas mit dem mystischen Weltbild der Bibel anfangen? Bultmann wörtlich: "Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben." Den einzigen Ausweg sah Bultmann darin, den Mythos zu interpretieren. Und zwar in der Art und Weise, dass sich der Mensch in seiner Existenz von den biblischen Schriften angesprochen fühlt und so die Texte mit dem eigenen Leben interpretiert werden können. Das Kerygma wird somit zum Schlüssel, um die Bibel im Licht der Moderne zu verstehen.