Mechthild von Magdeburg: Eine Mystikerin gegen die Grenzen ihrer Zeit
Möchte man einen Menschen mitsamt seinem Denken verstehen, so ist es immer angeraten, zunächst auf den Kontext zu schauen, in dem jemand gelebt und gearbeitet hat. Denn oft sind es die Probleme und Möglichkeiten einer bestimmten Zeit, die Anstöße für das reflexive Nachdenken geben und damit zu wichtigen Impulsen werden. So ist es auch bei Mechthild von Magdeburg, einer christlichen Mystikerin und Theologin aus dem 13. Jahrhundert.
Mechthild wurde um das Jahr 1207 auf einer Burg im Umfeld von Magdeburg geboren. Sie stammte vermutlich aus einer adeligen Familie und kam daher schon in Kindheitstagen in Berührung mit einer guten schulischen Ausbildung. Daneben genoss sie wohl die Annehmlichkeiten, die eine solche Abkunft mit sich brachte: Neben Reichtum und genügend Nahrungsmitteln waren damit auch das Erlernen einer gewissen Sprachkompetenz sowie eine Einführung in die lateinische Sprache verbunden. All das prägte Mechthild, die ihre mystischen Erfahrungen später mithilfe der Sprache auszudrücken versuchte. Vor allem der Minnesang, eine zu dieser Zeit weit verbreitete Form der Liebeslyrik, wurde für Mechthild eine Form, mit deren Hilfe sie neu von Gott zu reden versuchte. Ihre adelige Herkunft eröffnete ihr den Raum einer fundierten Bildung, die zur Grundlage ihres späteren theologischen Wirkens wurde.
Privilegien und Ausbeutung
Doch die großen Privilegien, die Mechthild aufgrund ihrer Verbundenheit mit dem Adelsstand genießen durfte, waren das Ergebnis der damaligen Ständegesellschaft: Besonders die Leibeigenschaft, die mit Ausbeutung und unmenschlichen Lebensbedingungen verknüpft war, wurde zum Instrument, mit deren Hilfe sich das luxuriöse Leben des Adels sichern ließ. Schon früh wurde Mechthild mit dieser Gesellschaftsform konfrontiert, in welcher die eigenen Privilegien das Ergebnis der Ausbeutung der niederen Stände waren. Eine Gesellschaftsordnung, gegen die vor allem die im 13. Jahrhundert aufkeimende Armutsbewegung großen Widerstand erregte: Die Rückbindung an das Neue Testament und das darin vertretene Ideal der Nachfolge Jesu in absoluter Armut und Selbstaufgabe wurden zum Leitbild dieser Bewegung.
Mechthilds Vorbild innerhalb dieser neuen religiösen Strömung war Elisabeth von Thüringen: Ebenso wie Mechthild war auch Elisabeth von adeliger Herkunft, wandte sich aber mehr und mehr dem Einsatz für die Armen und Kranken im Land zu. Doch ihr Engagement in dieser Armutsbewegung brachte immer mehr Konflikte mit ihrer adeligen Verwandtschaft hervor; schließlich wurde Elisabeth von ihrer Familie aufgrund ihrer radikalen Auffassung der Nachfolge Jesu völlig isoliert. Die gleichaltrige Mechthild von Magdeburg erkannte in Elisabeth ein Vorbild für viele Frauen, dem sie fortan selbst nachzustreben versuchte.
Ein erstes mystisches Erlebnis, das Mechthild im Alter von zwölf Jahren erfuhr, leitete einen Wandel in ihrem Leben ein. Sie selbst beschreibt diese Erfahrung als einen "Gruß vom Heiligen Geist". Diese Berührung mit der göttlichen Macht scheint für Mechthild so prägend gewesen zu sein, dass sie schon kurz darauf – vermutlich im Jahr 1230 – die Burg verließ und sich in Magdeburg niederließ. Auch dieser Lebenswandel lässt sich nur zeitbedingt verstehen: Immer mehr werden die Städte zu den Zentren, in denen sich das Leben abspielte. Ob das Aufkommen von Universitäten oder der Bau der großen Kathedralen, all das zieht die Stadt als Mittelpunkt des Lebens auf sich. Die Verlierer hingegen sind die Burgen, die immer mehr an den Rand der Bedeutungslosigkeit gedrängt werden. Die damalige Welt ist im Wandel begriffen – und das drückt sich auch in religiösen Kategorien aus: Die Bettelorden gewinnen immer mehr an Einfluss und der Aufstieg in der Gesellschaft lässt sich oft nur mithilfe von Religion erreichen. Die Stadt wird zum Zentrum eines Lebens, in dem unterschiedliche Diskurse aufeinandertreffen, denen auf engstem Raum nicht mehr auszuweichen ist.
Mitten im Leben
Mechthild lässt sich darauf ein, indem sie sich als Begine einem Leben inmitten dieser Stadt hingibt. Freilich führt sie als Begine ein asketisches und frommes Leben, das einer monastischen Lebensform gleichkommt. Doch zieht sie sich nie hinter Klostermauern zurück, sondern lebt inmitten der Stadt, wo sie tagtäglich mit den unterschiedlichen Auseinandersetzungen und Bewegungen in der damaligen Gesellschaft konfrontiert wird. Mechthild weicht diesen Diskursen nicht aus. Sie positioniert sich, sie äußert öffentlich ihre Meinung, wenngleich sie eigentlich nichts zu sagen hatte.
Immerhin widersprach Mechthild dem Bild der Gelehrten radikal: Sie war kein Mann, sie genoss nicht den Schutz eines Klosters und sie hatte als Kind nur eine marginale Bildung erfahren. Mit ihrem Buch "Das fließende Licht der Gottheit" nahm sie Anteil an den damals brisanten Diskursen und positionierte sich in ihnen. Ein Wagnis, denn mit ihrer fundamentalen Kritik an den Strukturen der Kirche zog sie natürlich den Argwohn des Klerus auf sich. Vermutlich lag sie auch mit den Magdeburger Kanonikern lange Zeit im Clinch: Sie wurde von der Teilnahme an den Sakramenten ausgeschlossen und musste sich vor dem Domgericht verantworten. Freilich ist anzunehmen, dass Mechthild sich dieser Konsequenzen wohl bewusst war und sie billigend in Kauf nahm, als sie öffentlich ihre Kritik am Magdeburger Domkapitel äußerte.
Ein erneuter Bruch
Im Jahr 1270 kommt es daher zu einem erneuten Bruch in ihrem Leben: Nach den langen Jahren in Magdeburg, in denen sie mitten in den prekären Diskursen lebte und wirkte, zog sich Mechthild in das Kloster Helfta zurück. Ihr Weg führte sie vom lebhaften Zentrum der Stadt in den kontemplativen Raum des Klosters, in dem sie in aller Ruhe ihrer theologischen Arbeit nachgehen konnte. Noch eine ganze Zeitspanne war Mechthild hinter den bergenden Klostermauern vergönnt, ehe sie wohl im Jahr 1282 in Helfta gestorben ist.
Um Mechthild von Magdeburg zu verstehen, muss man sich ganz einlassen auf den Kontext, in dem sie gelebt und gewirkt hat. Mechthild lebte in einer Zeit des Umbruchs, die geprägt war von vielfältigen Fragestellungen und Konflikten. Darin etablierte sich mehr und mehr eine Bewegung, die sich radikal dem Denken von Macht, Reichtum und Aufstieg in der Gesellschaft absetzte, indem sie die Armut und Askese zu ihrem Ideal erhob. In diesen Armutsbewegungen, die sich ganz und gar vom Evangelium her speisten, ist Mechthild zu verorten. Den drängenden Diskursen, die sie in ihrem Lebensumfeld Magdeburg wahrgenommen hatte, ist sie nicht ausgewichen. Sie versuchte, vom Standpunkt der Armutsbewegung her eine Antwort zu geben, die freilich immer mit der Provokation von Konflikten und Widerspruch verbunden war.
Die Liebe zu Gott und zum Nächsten, die in dieser religiösen Strömung eine sehr wichtiges Gut war, stand einem Streben nach Ansehen und einem feudalen Leben – von dem auch die Kirche nicht ausgenommen war – entgegen. Als Begine steht sie mitten im Leben der Menschen und zugleich lebt sie ganz und gar vom Evangelium her. Mechthild hat in ihrer theologischen Arbeit versucht, beides miteinander zu verknüpfen: Die drängenden Fragen der Menschen hat sie im Licht des Evangeliums auszudeuten versucht.
Mit einem solchen Anliegen hat Mechthild nicht nur Freunde gefunden: Über viele Jahrhunderte hinweg gerieten ihre Schriften in Vergessenheit und es sollte bis ins 21. Jahrhundert dauern, bis ihr "Fließendes Licht der Gottheit" wieder eine breite Rezeption erfuhr. Heute beschäftigt sich nicht nur die Theologie, sondern auch die Germanistik mit den Werken der Mystikerin aus Magdeburg.