FDP: Reine liberale Lehre und Distanz zu den Kirchen
Wer das Programm der FDP für die Bundestagswahl liest, kann über weite Strecken den Eindruck bekommen, die Broschüre für ein Motivationsseminar in der Hand zu halten. "Nie gab es mehr zu tun" schreit einem das Programm in Großbuchstaben und grellen Farben schon von der Titelseite entgegen. Damit ist der Ton gesetzt, der sich durch die weiteren 68 Seiten zieht. "Wie es ist, darf es nicht bleiben", "Werden wir das Land, das in uns steckt" oder "Nie war es notwendiger: Machen wir uns fit für den Aufholwettbewerb!" – mit Slogans wie diesen sind die einzelnen Kapitel des Programms überschrieben. Fast meint man, vor dem geistigen Auge Parteichef Christian Lindner "Tschakka" rufend über glühende Kohlen laufen zu sehen.
Die FDP, das ist die zentrale Botschaft des Programms, will nach der Wahl am 26. September unbedingt wieder Regierungsverantwortung im Bund übernehmen. Ein "Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren", wie Lindner es noch 2017 nach dem Abbruch der Koalitionsverhandlungen mit Union und Grünen formuliert hatte, dürfte dem Parteivorsitzenden nicht noch einmal über die Lippen kommen. Im Gegenteil: Sollte sich nach dem Urnengang die Gelegenheit zum Mitregieren bieten, würden die Liberalen wohl sehr sicher zugreifen. Unklar ist nur, welche Koalition die FDP anstrebt. Eine konkrete Aussage dazu hat sie bislang vermieden – wohl um sich alle Optionen offenzuhalten.
Die Liberalen wollen der Modernisierungsmotor sein
Klar ist dagegen, welche Rolle die Liberalen für sich in einer künftigen Regierung sehen. Sie wollen der Modernisierungsmotor sein, der den oder die Koalitionspartner antreibt. Mehr als 70 Mal kommen die Worte "modern", "modernisieren" und "Modernisierung" im Programm vor; das längste Kapitel ist sogar überschrieben mit "Nie war Modernisierung dringlicher: Modernisieren wir endlich unser Land!". Was die Partei inhaltlich darunter versteht, ist weitgehend die reine liberale Lehre: Weniger Steuern, schlanker Staat, Digitalisierung.
Wer sich hingegen dafür interessiert, was die Liberalen zu den Themen Glaube und Religion planen, muss das Programm schon sehr genau lesen. In klassisch-liberaler Tradition spielen diese Themen nur eine untergeordnete Rolle. Wenn sie aber doch vorkommen, vertritt die Partei überwiegend Positionen, die vor allem den Interessen und Überzeugungen der beiden großen Kirchen zuwiderlaufen. "Die FDP bleibt in ihrer Position konsistent in der Distanz zur Religion", schlussfolgerte dazu jüngst der Leipziger Religionssoziologe Gert Pickel.
Zentral zeigt sich diese Distanz im kurzen Abschnitt "Vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht" (S. 41). Denn dort schlagen die Liberalen in nur wenigen Sätzen programmatische Pflöcke ein, die durchaus Sprengstoff bergen. Verbunden mit dem Ziel, allen in Deutschland vertretenen Religionsgemeinschaften, "die das Gleichheitsgebot und die Glaubensvielfalt, die Grundrechte sowie die Selbstbestimmung ihrer Mitglieder anerkennen", die gleichen Rechte zu gewähren, spricht sich die FDP für die Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen, die Abschaffung von Tanzverboten und ähnlichen Einschränkungen an stillen Feiertagen sowie die Abschaffung der kirchlichen Privilegien im Arbeitsrecht aus – letzteres immerhin mit der Einschränkung "soweit sie nicht Stellen betreffen, die eine religiöse Funktion ausüben".
Bei ethischen Fragen konträr zur amtskirchlichen Haltung
Konträr zur amtskirchlichen Haltung präsentieren sich die Liberalen zudem bei zentralen ethischen Fragen. Den in der jüngsten Legislaturperiode so hart umkämpften Strafrechtsparagrafen 219a etwa, der das Werbeverbot für Abtreibungen regelt, will die FDP ersatzlos streichen. "Es ist abwegig, dass sachliche Informationen auf der Homepage einer Ärztin oder eines Arztes über einen legalen ärztlichen Eingriff strafbares Unrecht sein sollen", heißt es im Programm (S. 34). Frauen seien in einer schwierigen Lage auf genau diese Informationen angewiesen, um schnell Zugang zu einer seriösen Beratung gerade durch Ärzte zu erhalten, die den Eingriff selbst anböten, so die Partei.
„Für uns gilt das Selbstbestimmungsrecht auch am Lebensende.“
Die katholische Kirche hat hier dezidiert eine andere Auffassung. Sie hat in der Debatte um den Paragrafen in den vergangenen Jahren wiederholt davor gewarnt, diesen "integralen Bestandteil" des Abtreibungsrechts zu ändern oder gar abzuschaffen. Es sei verantwortungslos, so der Leiter des Katholischen Büros in Berlin, Karl Jüsten, wenn "an einen der Eckpfeiler der Lösung, der für den Schutz des ungeborenen Lebens so wichtig ist, die Axt" angelegt werde.
Ähnlich unterschiedlich blicken FDP und Kirche auf das Thema Sterbehilfe (S. 30). Hier besteht Regelungsbedarf, nachdem das Bundesverfassungsgericht im Februar vergangenen Jahres zum Entsetzen der Kirchen das 2015 vom Bundestag beschlossene Verbot der gewerbsmäßigen Förderung der Selbsttötung gekippt hat. Aus Sicht der Kirchen stellte das Urteil "einen Einschnitt in unsere auf Bejahung und Förderung des Lebens ausgerichtete Kultur" dar.
FDP fordert "modernes Fortpflanzungsmedizingesetz"
Welche konkreten gesetzlichen Konsequenzen das Urteil haben wird, ist allerdings noch nicht klar. Bislang konnte sich der Bundestag noch auf kein neues Gesetz einigen. Zwar liegt seit Mai ein Gesetzentwurf von Abgeordneten aus SPD, FDP und Linken vor, der das Recht auf einen "selbstbestimmten Tod" absichern und klarstellen will, "dass die Hilfe zur Selbsttötung straffrei möglich ist". Abgestimmt wurde über diese Vorlage vor der Sommerpause aber nicht mehr. In ihrem Wahlprogramm fordert die FDP ein "liberales Sterbehilfegesetz", in dem klar geregelt werden soll, "unter welchen Voraussetzungen Menschen Hilfe zur Selbsttötung in Anspruch nehmen und leisten dürfen". Voraussetzung müsse sein, dass der Wunsch frei und eigenverantwortlich sowie im Vollbesitz der geistigen Kräfte gebildet worden sei. "Für uns gilt das Selbstbestimmungsrecht auch am Lebensende", so die FDP.
Mit Blick auf den Lebensanfang fordert die Partei ein "modernes Fortpflanzungsmedizingesetz" (S. 33), in dem die Eizellspende legalisiert und klargestellt wird, dass die Embryonenspende zulässig ist. "Wir wollen außerdem die nichtkommerzielle Leihmutterschaft ermöglichen und fordern hierfür einen klaren Rechtsrahmen. Die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin sollen allen Menschen unabhängig vom Familienstand und der sexuellen Orientierung zugänglich sein." Auch hier widersprechen die Forderungen der Liberalen an den Überzeugungen der Kirche, die kritisch bis ablehnend auf die Reproduktionsmedizin blickt.
Als weiteren Angriff auf die Ehe – nach der 2017 auch von der FDP mitgetragenen Einführung der "Ehe für alle" – dürfte die Kirche die Pläne der Liberalen verstehen, neben der Ehe eine "Verantwortungsgemeinschaft" als weitere mögliche Form des Zusammenlebens gesetzlich zu verankern. "Zwei oder mehr volljährige Personen, die sich persönlich nahestehen, aber nicht miteinander verheiratet, verpartnert oder in gerader Linie verwandt sind, sollen eine Verantwortungsgemeinschaft möglichst unbürokratisch gründen können", heißt es im Wahlprogramm. In einer Zeit, in der traditionelle Familienstrukturen gerade im Alter nicht immer trügen, wache der Bedarf an neuen Formen gegenseitiger Absicherung. Der Grundgedanke einer solchen Verantwortungsgemeinschaft sei "größtmögliche Flexibilität bei maximaler Selbstbestimmung".
Liberale wollen bundesweite Schweigeminute einführen
Aus dem im weitesten Sinne religiösen Spektrum Erwähnung finden im Programm der Liberalen darüber hinaus die Themen Antisemitismus und Islamismus. Gegenüber Judenhass fordert die FDP ein entschiedenes Vorgehen. "Es darf keine Toleranz gegenüber irgendeiner Form des Antisemitismus geben", so die Partei. Zudem bringen die Liberalen ein Verbot des jährlichen antiisraelischen Al-Quds-Marschs in Berlin, härtere Strafen für das Verbrennen von Israel-Fahnen und eine Aufwertung des Gedenktags für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar ins Gespräch. Bei letzterem wollen sie – analog zum israelischen Gedenktag Jom haScho’a – eine bundesweite Schweigeminute einführen.
Mit Blick auf den Islamismus fordert die FDP eher wolkig eine "gemeinsame Präventionsstrategie von Bund und Ländern" sowie "klare und verbindliche Standards für die Prävention und Deradikalisierung im Bereich des Islamismus, insbesondere in Gefängnissen". Wie das alles genau aussehen soll, wird nicht näher dargelegt. Gleichwohl behauptet die Partei, mit einer solchen Strategie islamistische Radikalisierung verhindern und nachhaltig bekämpfen zu können. Quasi als Gegengewicht zu radikalen Muslimen will die FDP zudem liberalen und progressiven Muslimen ein stärkeres Gewicht einräumen. "Ziel muss es sein, dass Glaubensgemeinschaften nicht aus dem Ausland gesteuert und finanziert werden, sondern von ihren Mitgliedern in Deutschland", so die Partei. Ein wichtiger Schritt hierzu sei auch die Ausbildung von Imamen in Deutschland.