Die Parteiprogramme zur Bundestagswahl – Teil 5

SPD: Die Kirchen nur als Randerscheinung

Veröffentlicht am 08.09.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Die deutschen Sozialdemokraten werben mit einem "Zukunftsprogramm" für sich, in dem auch die Kirche vorkommt, allerdings nur sehr vereinzelt. Dafür lohnt die Muße fürs Detail, denn manche Sätze über sie sind sehr vielsagend. Ein Blick in das Wahlprogramm der SPD.

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Dass die SPD kein Wahlprogramm hat, sondern mit einem (laut Titel) "Zukunftsprogramm" für sich wirbt, lässt schon aufhorchen. Einerseits, weil die "Zukunft" der deutschen Sozialdemokraten angesichts eines bislang doch sehr offenen Wahlausgangs noch ungewiss ist. Andererseits, weil die SPD an dieser "Zukunft", in diesem Falle der der Bundesrepublik, bereits seit Jahren in Regierungsverantwortung mitschraubt. Diese Thesensammlung auf 66 Seiten versucht also einen Spagat: Zukunftsoptimistisch sein und gleichzeitig das in den eigenen Augen erreichte nicht kleinreden.

All diese Ansprüche lassen sich aus dem Text klar herauslesen, denn entstanden sind 66 Seiten mit einem komplettistischen Ansatz. Jeder soll vorkommen, alles soll für alle verfügbar sein, unabhängig davon, wer, wo oder wie man ist oder lebt. Klassische Sozialdemokratie eben. Das führt teils zu einer Art Abhakreflex, weil alles vorkommen und jeder erwähnt werden soll – auch, wenn das der Textfluss eigentlich gar nicht hergibt. Was dabei am Ende rauskommt, ist nüchtern, dozierend, routiniert – man liest den Text beinahe innerlich mit der Stimme Gerhard Schröders (auch wenn der nie gegendert hätte). Obwohl das die Sozialdemoraten des Jahres 2021 wohl nicht gerne hören. Kostprobe: "Wir treten für eine Gesellschaft ein, die von gegenseitigem Respekt getragen wird. Eine Gesellschaft, die, frei von Vorurteilen, alle Bürger*innen gleichermaßen respektiert. Wir schulden einander Respekt, egal ob eine*r studiert hat oder nicht, ob in Deutschland oder woanders, im Osten oder Westen geboren, ob weiblich, männlich oder divers, ob jung oder alt, arm oder reich, ob mit Behinderung oder ohne." (S. 5)

Der Respekt lässt sich als ein weiteres Leitmotiv identifizieren, weil er Grundlage für vieles Weitere ist: Bessere Bezahlung etwa in Pflegeberufen, mehr Möglichkeiten für Frauen, Frieden, Gerechtigkeit – alles hat irgendwie mit Respekt zu tun.

Allumfassender Ansatz

Dieser allumfassende Ansatz ist bedeutsam, wenn ein Blick auf einige kirchlich relevante Themen geworfen wird. Denn Kirche kommt kaum vor: Ganze drei Mal. Und dann sind es auch stets "die Kirchen" als verallgemeinernde Floskel. Die Kirche, der Glaube (kommt gar nicht vor), die Religion (nur einmal) sind in diesem Text beinahe völlig irrelevant und kaum präsent. Das kommt sicher nicht von ungefähr, wirft man einen Blick auf die Kirchenbindung und den Stellenwert der Religion für die Menschen in Deutschland. Ein Überblick ist also schnell gewonnen, umso interessanter, sich einzelne Aspekte etwas genauer anzusehen.

Die Kirchen treten zunächst als Arbeitgeber auf, wenn es um Pflegeberufe geht: "Unsere Ziele sind allgemeinverbindliche Branchentarifverträge. Wie werden über die Pflegemindestlohnkommission eine weitere Erhöhung der Mindestlöhne verfolgen. Gemeinsam mit den Kirchen wollen wir einen Weg erarbeiten, ihr Arbeitsrecht dem allgemeinen Arbeits- und Tarifrecht sowie der Betriebsverfassung anzugleichen." (S. 28)

Eine Altenpflegerin
Bild: ©stock.adobe.com/godfather

"Gemeinsam mit den Kirchen wollen wir einen Weg erarbeiten, ihr Arbeitsrecht dem allgemeinen Arbeits- und Tarifrecht sowie der Betriebsverfassung anzugleichen", heißt es im Wahlprogramm der SPD.

Das ist ein Wink mit dem Zaunpfahl an die Caritas, die aus Sorge um die eigenen Mitarbeitenden einen Flächentarifvertrag in der Pflege verhindert hat. Gleichzeitig lässt sich mit einem solchen Satz auch weiterdenken: Soll damit das kirchliche Arbeitsrecht in Frage gestellt werden? Nicht zuletzt das oft als unnötig rigide empfundene Vorgehen der Kirchen als Arbeitgeber, wenn Mitarbeitende austreten oder neu heiraten, hat den Ruf der Kirchen nicht gerade verbessert. Dazu kommen ein Streikverbot und keine Betriebsräte. Wenn die SPD das kirchliche Arbeitsrecht vielleicht nicht abschaffen will, so ist das Signal doch klar: Die Sozialdemokraten streben an, gesetzlich geregelte Arbeitnehmerrechte auch den Angestellten der Kirchen zuzubilligen. Ein klarer Zeitplan oder gar konkrete Maßnahmen fehlen hier allerdings, es bleibt bei einer allgemeinen Absichtserklärung.

Verhütungsmittel und Abtreibung

Deutlich klarer – und zur Haltung des kirchlichen Lehramts konfrontativer – geht es im Kapitel zur Familienplanung zu: Einerseits will die SPD für einen "kostenfreien Zugang zu Verhütungsmitteln sorgen und gezielt die Erforschung von Verhütungsmethoden für Männer fördern" (S. 43). Andererseits heißt es direkt danach: "Frauen und Paare, die sich in einer Konfliktsituation für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden, brauchen Zugang zu Informationen und einer wohnortnahen, guten medizinischen Versorgung – das gilt ambulant wie stationär. Deshalb müssen Länder und Kommunen dafür sorgen, dass Krankenhäuser, die öffentliche Mittel erhalten, Schwangerschaftsabbrüche als Grundversorgung anbieten." Weiterhin soll das sogenannte Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche, der in der zu Ende gehenden Legislaturperiode so kontrovers diskutierte Paragraph 219a, abgeschafft werden. Grundsätzlich solle gelten: "Schwangerschaftskonflikte gehören nicht ins Strafrecht." (S. 43)

All das kollidiert mit den Vorstellungen, die die Kirche von der Reproduktion des Menschen hat. Papst Paul VI. handelte sich den alles andere als schmeichelhaft gemeinten Spitznamen "Pillen-Paul" ein, weil er in der Enzyklika "Humanae vitae" (1968) Verhütung verurteilte – wiewohl sich die allermeisten Katholiken nicht daran halten. Bei Abtreibungen ist die Kirche sogar noch klarer: "Abtreibung und Tötung des Kindes sind verabscheuenswürdige Verbrechen", heißt es im 51. Kapitel der Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" (1965) des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-65). Um das Thema gibt es auch innerkirchlich immer wieder Streit, wenn es etwa um Schwangerschaftskonfliktberatung oder die Behandlung von Frauen in Konfliktsituationen in katholischen Krankenhäusern geht.

Bild: ©picture alliance/dpa/Thomas Frey

Kanzlerkandidat der SPD ist Bundesfinanzminister Olaf Scholz

Gegen Rassismus ist man in SPD und Kirche gleichermaßen, ebenso setzt man auf die soziale Verantwortung der Unternehmer, setzt sich für Tierwohl, Seenotrettung und eine "humanitäre Asylpolitik" ein. Auch die Wichtigkeit von Ehe und Familie wird beiderseits betont. Für die SPD gehört dazu auch der Schutz von Regenbogenfamilien im Besonderen und sexuellen Minderheiten im Allgemeinen – da ist die Kirche dann nicht mehr dabei.

Kirchen in der Gesellschaft

Zwei Stellen verdienen noch Erwähnung, in denen es um die Rolle der Kirche in der Gesellschaft geht: Da geht es einerseits um ehrenamtliches Engagement: "Millionen Bürger*innen engagieren sich ehrenamtlich in (Sport-)Vereinen, der freiwilligen Feuerwehr, Kirchen- und Religionsgemeinschaften, Tafeln, Frauennotrufen, Flüchtlingsorganisationen, dem THW und anderen Organisationen. Mit ihrer Arbeit tragen sie dazu bei, dass unser Gemeinwesen funktioniert." (S. 47) Zum anderen um das Zusammenleben in Deutschland: "Wir begrüßen das Engagement in den Religionsgemeinschaften und Kirchen. Den interreligiösen Dialog und den Dialog von Religionen, Weltanschauungen und Kulturen werden wir weiter fördern und verstärken." (S. 46) Die Kirchen kommen hier nicht als erwähnenswerte Einzelakteure vor, sondern stets als Teil eines gesellschaftlichen Systems – und immer als ein Aspekt von mehreren.

Diese Denkweise schließt an den nüchternen, pathosfreien Stil an: Die Sozialdemokraten bemühen keine großen Ideale, sondern sprechen stets von Rollen in der Gesellschaft, die Menschen und Organisationen einnehmen. So kommen Menschen als Teil von Familien, als Arbeitende, als Verbraucher usw. vor, die Kirchen wiederum etwa als Ort für freiwilliges Engagement oder als Arbeitgeber. Um ihre spirituelle Seite geht es nie. Das würde auch nicht zur manchmal etwas technischen (man könnte auch sagen: "materialistischen") Weltsicht passen, die das Wahlprogramm prägt.

Die SPD will für alle etwas anbieten; Facette an Facette reiht sich bei jedem Thema aneinander – die Kirchen sind da nur ein Teil von ganz vielen. Ihre gesellschaftsstärkende Kraft wird begrüßt, ihre Sonderrolle jedoch (wenn auch implizit) kritisch gesehen. Die konservative, auch von den eigenen Mitgliedern überwiegend als unangemessen und veraltet wahrgenommene Haltung der katholischen Kirche in Sachen Sexualität wird abgelehnt. Es zeigt sich vor allem, dass es die SPD nicht für notwendig hält, mehr Worte über die Kirchen zu verlieren, als in anderen Zusammenhängen notwendig – dafür scheint ihre Relevanz als individuelles und gesellschaftliches Identifikationsmerkmal zu gering zu sein.

Von Christoph Paul Hartmann