Die Linke: Der Einzelne im Kampf gegen das System – und die Kirchen
Der Tatendrang strotzt geradezu aus diesen Seiten: "Zeit zu handeln! Für soziale Sicherheit, Frieden und Klimagerechtigkeit", ist das Wahlprogramm der Linkspartei betitelt. Und an Ideen mangelt es nicht: 155 Blatt misst das Kompendium politischer Schlagworte, Parolen, Forderungen und Bekenntnisse. Viel Platz also für Kreativität, den Die Linke mit einer Mischung aus Altbekanntem und neuen Setzungen ausfüllt. Klassiker sind dabei wie ein deutlich höherer Mindestlohn (13 Euro) und eine deutlich niedrigere Wochenarbeitszeit (30 Stunden), dazu aber auch Neues wie der doch merklich größere Schwerpunkt auf den Umwelt- und Klimaschutz. Die Kernbotschaft lässt sich so zusammenfassen: "Es geht um alle Menschen, um ihre Träume und ihr Recht auf ein gutes Leben, um die Verwirklichung des alten Menschheitstraums einer Welt des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit, für den so viele gekämpft haben und kämpfen" (S. 7). Es geht um das große Ganze, um eine neue Politik, die sich – so sehen es die Linken – anstatt um eine Minderheit endlich um die Mehrheit der Gesellschaft kümmern soll. Dementsprechend fällt die Argumentationslinie in der Sicht auf die Gegenwart aus: Es ist der Kampf des Einzelnen gegen übermächtige Großorganisationen/-Betriebe oder gleich das ganze System. Sei es Diskriminierung, die Situation der Menschen im Osten Deutschlands, Arbeitnehmer, Arbeitslose oder Tiere; stets muss sich das Individuum gegen hochvernetzte Großsysteme zur Wehr setzen. Der Schlüssel zur Lösung dieser Situation ist folglich die Vernetzung der als unterlegen angesehenen (durch eine Stärkung der Gewerkschaften und mehr allgemeinverbindliche Tarifverträge etwa) oder die Heranziehung der vorgeblich Mächtigen (zum Beispiel durch eine Vermögenssteuer oder eine Reichensteuer).
Spannend ist der Duktus, in dem das Ganze formuliert wird. Da gibt es die kämpferischen Passagen mit dem Klang eines Redners auf dem Podium vor einer in Warnwesten gekleideten streikenden Menge. Dann wieder klingt das Programm zwischenzeitlich sehr analytisch, schlägt einen sachlichen Ton an oder wird beinahe technisch. Manchmal vermischen sich auch beide Register – was dann fast wieder ein bisschen nach Marx klingt: "Da patriarchale Strukturen ohne einen Systemwechsel nicht endgültig abgeschafft werden können, kämpfen wir neben unseren kurz- und mittelfristigen Forderungen für die Aufwertung von Frauen und ihrer Arbeit auch für die Überwindung des Kapitalismus als systematisierten Sexismus" (S. 102).
In diesem Denkmuster des Kampfes des Einzelnen gegen große Systeme kommt auch die Kirche vor, wenig überraschend eher auf der Seite der "Bösen", also zu maßregelnden. Sicher, es gibt Übereinstimmungen zwischen der Meinung der Linken und der Kirchen: Soziale Gerechtigkeit, eine pazifistische Grundeinstellung, höhere Löhne etwa in der Pflege (was der Verweigerung der Caritas gegen einen Flächentarifvertrag entgegensteht), der Einsatz für das Klima und gegen Menschenhandel, Diskriminierung und Landraub gehören dazu. Doch bei anderen Themen gehen die Meinungen auseinander.
Gegen die Kindstaufe
Ein großer "Brocken" für die Kirchen ist ein Satz, der auf Seite 124 fällt: "Eine (automatische) Mitgliedschaft von Kindern in Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften der Eltern lehnen wir ab. Ein Beitritt darf nur selbst und nach Erreichen der Religionsmündigkeit erfolgen." Das würde die seit Jahrhunderten praktizierte Kindstaufe (in den meisten Konfessionen) beenden – die innerhalb der Kirche weiterhin Rückhalt erfährt. Der Passus fügt sich in die Argumentationslinie des für sich kämpfenden Individuums ein, die das Wahlprogramm durchzieht. Der Einzelne soll selbstständig entscheiden. Dagegen steht für die Kirche die lebenslange Mitgliedschaft im Mittelpunkt.
Weiterhin will Die Linke, dass "alle Menschen entscheiden können, ob und wie sie mit Kindern leben möchten. Erst dann können wir reproduktive, körperliche und sexuelle Selbstbestimmung für Frauen und queere Menschen erreichen. Dazu gehören umfassende Aufklärung, der Zugang zu Verhütungsmitteln und die freie Entscheidung über einen Schwangerschaftsabbruch" (S. 106). Für die Linkspartei geht es um einen Teil der persönlichen Selbstbestimmung, sie sieht Schwangerschaftsabbrüche als "Teil der Gesundheitsversorgung" (S. 106) und will das Werbeverbot für Abtreibungen nach dem Paragrafen 219a abschaffen. Dagegen steht der Einsatz der Kirche gegen Abtreibungen und Verhütungsmittel. Beide Positionen sind allerdings auch unter Katholiken umstritten.
Der nächste Reibungspunkt: Feminismus und der Schutz sexueller Minderheiten nehmen im Wahlprogramm einen hohen Stellenwert ein: So fordert Die Linke ein Wahlverwandschaftsrecht, das auch für homosexuelle Paare oder Beziehungen von mehr als zwei Menschen gilt – mit beidem kann die katholische Kirche seit jeher nichts anfangen. Ein altbekannter tiefer Graben zwischen der Mehrheitsmeinung moderner westeuropäischer Gesellschaften und dem katholischen Lehramt, der sich auch hier niederschlägt. In Deutschland (und nicht nur hier) halten die meisten Katholiken die Meinung der Kirche für überholt. Gleiches gilt für Konversionsbehandlungen, die Die Linke verbieten will. Im Umgang mit den unwissenschaftlichen und für die Betroffenen schädlichen Prozeduren tut sich die Kirche schwer, sie ist innerlich zerrissen.
Für die Gleichbehandlung der Religionen
Die Stellung der Kirche in der deutschen Gesellschaft will Die Linke deutlich verändern. Sie ist "für die Gleichbehandlung aller Religionen und Weltanschauungen mit den christlichen Kirchen", will einen Ethikunterricht für alle, sowie das kirchliche Arbeitsrecht und die Militärseelsorge abschaffen (alles S. 130). Weiterhin sollen die Kirchen ihre Steuern "selbstständig einziehen. Wir treten für den seit 1919 bestehenden Verfassungsauftrag zur Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen ein. In einer weltanschaulich und religiös vielfältigen Gesellschaft müssen alle die gleichen Möglichkeiten der Finanzierung haben". Auch das kirchliche Arbeitsrecht soll abgeschafft werden (ebenfalls S. 130). Die Linke tritt für einen säkularen Staat und die Entwirrung der vielfältigen Verflechtungen von Staat und Kirche ein – also etwa nach französischem Vorbild. Die Kirchen bestehen dagegen bis heute auf lange gewährten Privilegien wie dem Religionsunterricht oder der Militärseelsorge. Auch das eigene Arbeitsrecht, in dem Beschäftigte etwa wegen einer Wiederheirat gekündigt werden können und nicht streiken dürfen, verteidigen die Kirchen. Für die Ablösung der Staatsleistungen, wodurch der Staat etwa die Gehälter der Bischöfe aus Steuermitteln (nicht der Kirchensteuer) bezahlt, wäre auch die Kirche offen. In Sachen Kirchensteuer ist es für die Kirchen bislang schlicht bequem, diese vom Staat einziehen zu lassen. Der Staat erhält dafür ein Entgelt, es lohnt sich also für ihn, das momentane System aufrecht zu erhalten.
Am Ende lässt sich festhalten: Die Linke will eine andere Stellung der Kirche in Deutschland: Von der mit zahlreichen Privilegien ausgestatteten Körperschaft öffentlichen Rechts will sie zu einem distanzierteren Verhältnis von Kirche und Staat sowie dem Abbau der zahlreichen – auch innerkirchlich umstrittenen – Sonderregelungen kommen. Das dürfte den Kirchen nicht schmecken. Abseits gesellschaftlicher Allgemeinplätze tun sich im Wahlprogramm die Unterschiede auf, die die Kirchen immer wieder in Konflikte mit westlichen Gesellschaften bringen, wenn es etwa um Abtreibungen geht.
Der Aufschrei der Kirchen dürfte sich dennoch in Grenzen halten: Die Linke ist mit einem Blick auf die Umfragen weit davon entfernt, den religionspolitischen Kurs einer künftigen Regierung vorzugeben – das macht kämpferische Sätze im Wahlprogramm leicht. Es könnte allerdings ein Anhaltspunkt sein, wohin sich die Haltung der deutschen Gesellschaft die Religion betreffend in Zukunft verändern könnte.