Pfarrer in Washington: Pastor, Pastoralreferent und Diakon in einem
Seit 2018 ist Karl Josef Rieger Pfarrer in dem Land, in das es ihn seit seiner Jugend zieht: die USA. Neben seiner Stelle als Pfarrer der deutschsprachigen Gemeinde in Washington D.C. ist er auch Militärpfarrer für die deutschen Soldatinnen und Soldaten, die an der Ostküste der USA stationiert sind. Im Interview spricht er darüber, welche Stimmung er von ihnen angesichts der Lage in Afghanistan mitbekommt – und was die Bilder mit ihm machen.
Frage: Wie ist aktuell die Corona-Situation in den USA und in Washington, Pfarrer Rieger?
Rieger: Es gibt immer noch hohe Inzidenzzahlen und leider stagnieren die Covid-19-Impfungen im Moment. Wir haben eine Impfquote von rund 60 Prozent in der Bevölkerung. Es gibt daher Lotterien oder auch Arbeitgeber, die den Lohn aufstocken oder ihre Mitarbeitenden dazu zwingen, sich impfen zu lassen, um die Impfquote zu erhöhen.
Frage: Wie erleben Sie in Ihrer Gemeinde die Pandemie?
Rieger: Wir sind nach dem Ausbruch der Pandemie im März 2020 relativ schnell auf Online-Gottesdienste umgestiegen und haben das als eine gute Möglichkeit für uns entdeckt, weil das so interaktiv ist, und die Gemeindemitglieder mich sehen und hören konnten und ich sie sehen und hören konnte. Wir übertragen unsere Gottesdienste, die wir inzwischen wieder in der Kapelle einer amerikanischen Schule feiern, parallel als Videokonferenz. Es schalten sich rund zehn Geräte dazu, weil einige Menschen noch immer Angst haben, sich unter Leute zu begeben und vor Ort mitzufeiern, aber rund zwei Drittel der Gemeindemitglieder kommen mittlerweile wieder persönlich in den Gottesdienst. Was vielen gefehlt hat, war der Gemeindekaffee nach dem Gottesdienst – das "zweite Sakrament" am Sonntag, könnte man sagen. Seit Anfang Juni machen wir das wieder und das ist vielen sehr wichtig und man steht nach dem Gottesdienst oft noch eine oder fast zwei Stunden zusammen und unterhält sich.
„Wenn ich abends die Bilder vom Flughafen in den Nachrichten sehe, stehen mir die Tränen in den Augen.“
Frage: Wie sieht Ihre Gemeinde und das Gemeindeleben grundsätzlich so aus, wenn Sie das mit einer deutschen Gemeinde vergleichen?
Rieger: Ungefähr 50 bis 70 Personen sind fest eingeschriebene Gemeindemitglieder hier, zu denen jeweils oft noch eine Familie gehört. Die Anzahl wechselt aber ständig, weil viele aus beruflichen Gründen hier sind und nach einer Zeit wieder versetzt werden. Ein Unterschied zu Deutschland ist, dass die Gemeindemitglieder keine Kirchensteuer zahlen, sondern einen Gemeindebeitrag. Ich habe das Gefühl, dass dadurch auch die Bindung an die Gemeinde eine engere ist – und auch die Ansprüche höher sind. Wenn man seinen Beitrag entrichtet hat, kommt man auch in den Gottesdienst oder meldet seine Kinder zur Erstkommunion oder Firmung an. Auch die Rolle des Priesters ist eine andere.
Ähnlich wie in Deutschland haben wir auch einen Pfarrgemeinderat, mit bis zu acht gewählten Mitgliedern. Statt eines Kirchenvorstands haben wir einen sogenannten Finanzrat, der die finanziellen Dinge regelt, also alle Dinge etwa rund ums Pfarrhaus, und der daran erinnert, seinen Beitrag zu entrichten. Unsere Gemeinde hat mich 2020 mit besonderem Stolz erfüllt, da wir es in den Zeiten der Pandemie geschafft haben, für eine afghanische Flüchtlingsfamilie mit zwei kleinen Kindern in Washington D.C. eine Wohnung komplett auszustatten.
Frage: Sie sind ebenfalls Militärpfarrer. Was ist da Ihre Aufgabe?
Rieger: Militärpfarrer bin ich im Nebenamt. Für den größten Teil der deutschen Soldatinnen und Soldaten, die in den USA und in Kanada stationiert sind, ist der katholische deutsche Militärpfarrer in El Paso zuständig. Ich kümmere mich vor allem um diejenigen, die an der Ostküste stationiert sind. Das ist hier kombiniert. Die Deutschsprachige Gemeinde in Washington D.C. wurde 1992 als zivile Gemeinde gegründet. Davor gab es aber schon Jahrzehnte eine Deutschsprachige Militärgemeinde und einen Deutschsprachigen Militärpfarrer, der auch hier im Pfarrhaus gewohnt hat. Die Stelle eines hauptamtlichen Militärseelsorgers wurde im Zuge dieser Gründung aber abgeschafft und der Pfarrer der Deutschsprachigen Gemeinde in Washington D.C. übernimmt diese Aufgabe im Nebenamt. Die meisten Soldatinnen und Soldaten oder zivilen Kräfte, die hierherkommen, sind allerdings evangelisch oder ohne Konfession. Daher gibt es hier in Washington auch einen hauptamtlichen evangelischen Militärseelsorger, den ich bei seiner Arbeit unterstütze. Viel mehr kann ich in meinem Nebenamt nicht leisten, da wir auch kein großes Seelsorgeteam haben. Zusätzlich unterrichte ich auch katholische Religion an der Deutschen Internationalen Schule hier in Washington D.C. Ich bin also quasi Pastor, Pastoralreferent, Religionslehrer und Diakon in einer Person.
Frage: Aktuell wird ja viel über die Situation in Afghanistan diskutiert. Welche Stimmung bekommen Sie von den Soldatinnen und Soldaten mit?
Rieger: Ich bekomme hier eine große Enttäuschung mit, dass man nicht früher angefangen hat, die Ortskräfte in Afghanistan sicher aus dem Land zu bringen. Einige Soldaten, die hier stationiert sind, haben in Afghanistan gedient und haben daher eine enge Bindung zu den Menschen, die dort sind. Die sind überrumpelt worden vom schnellen Erfolg der Taliban und erleben nun diese Katastrophe, die sich dort Tag für Tag vor dem Flughafen abspielt. Mir tun die Menschen leid – aber auch die Soldaten, die dort jetzt hingestellt werden und etwas machen sollen. Wenn ich abends die Bilder vom Flughafen in den Nachrichten sehe, stehen mir die Tränen in den Augen. Viele bedauern, dass man nicht eher daran gedacht hat, einen geordneteren Rückzug zu planen und dass es so kommen konnte, wie es jetzt ist.
Frage: Auf der Homepage schreiben Sie, dass Sie sich in den USA mittlerweile daheim fühlen und auch eine tiefe Verbindung zu dem Land haben. Woher kommt das?
Rieger: Das liegt daran, dass ich Verwandte habe, die hier in den USA leben. Daher war ich schon mit 16 Jahren das erste Mal hier. Seitdem bin ich fast jedes Jahr mindestens einmal hergekommen, manchmal sogar zwei oder dreimal im Jahr – wenn genug Geld für ein Ticket auf dem Konto war. Ich liebe einfach das Leben hier. Dieses Kleinbürgerliche, dass ich in meinem Zuhause in Deutschland oft erlebt habe, wo man immer das Gefühl hatte, kritisch beäugt zu werden, erlebe ich hier überhaupt nicht. Hier kann jeder leben, wie er möchte.
Frage: Was war der Grund, dass Sie 2018 nach Washington gegangen sind?
Rieger: 2017 hatte ich mein silbernes Priesterjubiläum. Da war ich seit sieben Jahren in meiner Gemeinde in Kamp-Lintfort am Niederrhein und habe mich gefragt, ob ich weiterhin leitender Pfarrer einer so großen Gemeinde sein möchte. Ich wollte eine neue Perspektive, weil ich gemerkt habe, dass ich nur noch Manager eines riesigen Seelsorgeteams aus 14 Leuten war, aber nicht mehr Seelsorger. Ein Priesterkollege hat mich dann auf das Auslandssekretariat der Deutschen Bischofskonferenz aufmerksam gemacht und ich habe mich dort erkundigt. Als dann auch die Stelle als Pfarrer der Deutschsprachigen Gemeinde in den USA ausgeschrieben war, war das für mich aufgrund meiner Affinität zu diesem Land wie ein Fingerzeig, das passte zu einhundert Prozent für mich. Es gibt einen Satz des Spirituals Johannes Bours: "Der Mensch wird des Weges geführt, den er wählt." Da ist alles drin: Fügung, Führung und eigenes Tun. So war das bei mir auch.
Frage: Normalerweise enden die Einsätze für Auslandsseelsorger nach fünf Jahren, das wäre bei Ihnen 2023. Können Sie sich vorstellen, danach überhaupt wieder nach Deutschland ins Bistum Münster zurückzukehren?
Rieger: Ich bin schon im vorigen Jahr gefragt worden, ob ich nicht verlängern wollte und ich habe um Bedenkzeit gebeten. In diesem Sommer war ich in Bonn und wurde wieder gefragt. Und ich habe gesagt: Ich gehe zurück nach Deutschland. Nicht wegen der Gemeinde hier. Ich merke aber, dass die Anforderungen durch den immer digitaler werdenden Unterricht in der Schule langsam meine Möglichkeiten übersteigen. Mit meinen 61 Jahren muss ich oft Schülerinnen und Schüler bitten, mir bestimmte Dinge zu erklären, weil ich nicht mehr hinterherkomme. Das ist ein Grund, warum ich 2023 zurück ins Bistum Münster gehen werde. Ich habe zum Glück ein Bistum, in das man auch gerne zurückgehen möchte. Ich werde dann fragen, ob ich wieder leitender Pfarrer in einer kleineren Gemeinde werden kann. Das könnte ich mir mit einem kleinen Seelsorgeteam gut vorstellen. Oder dass ich als Pastor bei einem anderen Pfarrer mitarbeite – den ich mir dann gut aussuchen werde.