Interview mit Kirchenhistoriker und Ostkirchenexperte Dietmar Winkler

Synodalität: Was die katholische Kirche von der Orthodoxie lernen kann

Veröffentlicht am 06.01.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Salzburg ‐ Im Vorfeld der Bischofssynode 2023 hat der Papst die ganze Kirche auf einen synodalen Weg geschickt. Synodalität ist aber keine neue Erfindung, sagt Theologe Dietmar Winkler. Im katholisch.de-Interview erklärt er, warum sich ein Blick in die Geschichte lohnt – und auch auf die orthodoxe Kirche.

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"Synodalität ist ein grundsätzliches Wesensmerkmal der Kirche", sagt Dietmar Winkler. Er ist Professor für Patristik und Kirchengeschichte in Salzburg und Ostkirchenexperte. Im katholisch.de-Interview spricht er darüber, wie das Verständnis von Synodalität sich im Laufe der Kirchengeschichte geändert hat und warum die Wiederbelebung auch mit dem aktuellen Pontifikat zusammenhängt.

Frage: Herr Winkler, seit wann gibt es Synodalität in der Kirchengeschichte?

Winkler: Synodalität ist ein grundsätzliches Wesensmerkmal der Kirche. Synoden haben wir seit dem Beginn der Kirche, allerdings wurden sie erst allmählich zu einer Institution. Theologisch wird oft auf das Matthäus-Evangelium Bezug genommen, wo es heißt: "Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen." (Mt 18,20) Oder es wird das sogenannte Apostelkonzil aus der Apostelgeschichte angeführt, von dem der Satz "Denn der Heilige Geist und wir haben beschlossen" (Apg 15,28) stammt. Tatsächlich haben sich mit der Ausbreitung des Christentums bereits am Ende des ersten und zu Beginn des zweiten Jahrhunderts Synoden zur Lösung regionaler oder lokaler Probleme etabliert. Diese ersten Synoden waren durch eine große Unabhängigkeit und Freiheit in der Themenwahl gekennzeichnet und haben sich immer auf ein spezifisches geographisches Gebiet bezogen.

Frage: Dort ging es also nicht um globale Lösungen, sondern um die Probleme einer konkreten Gemeinde vor Ort?

Winkler: Genau. Die Ergebnisse der Synoden des zweiten und frühen dritten Jahrhunderts hatten in erster Linie lokale Bedeutung – allerdings gab es durchaus Rezeptionsprozesse: Die Ergebnisse der Synode in einer Ortskirche wurden zusammengefasst und in einem sogenannten Synodalbrief an andere Gemeinden verschickt. Die Ortsgemeinden standen ohnehin in regem Briefkontakt. Communio wurde also über Kommunikation hergestellt. Dieser Rezeptionsprozess ist bis heute ganz wichtig, weil dahinter das Bewusstsein steckt, dass eine Ortskirche und ihre Synode die ganze Kirche repräsentiert – so wie in jeder Liturgie auch die ganze Kirche präsent ist – sie aber eben nicht die ganze Kirche ist, sondern Teilkirche eines größeren Ganzen.

Frage: Inwiefern unterscheidet sich dieser Blick auf Synoden von unserem Verständnis heute?

Winkler: Heute haben die Synoden in der katholischen Kirche beratenden Charakter und treffen nicht selbst Entscheidungen. Laut Kirchenrecht sind die Bischöfe oder der Papst die Gesetzgeber, die die Empfehlungen und Vorschläge umsetzen. Das war in der frühen Kirche nicht so, da waren neben Bischöfen ebenfalls Presbyter, Diakone und explizit auch Laien dabei, die mitentschieden haben. Erst ab Ende des dritten Jahrhunderts wurden die Synoden zu Bischofssynoden. Bis dahin war die Synode ein fruchtbarer Austausch zwischen Bischöfen, Klerus und Laien – ab dann wurden die Laien zu Rezipienten der Autorität der Bischöfe.

Kirchenhistoriker und Ostkirchenexperte Dietmar Winkler
Bild: ©Michaela Greil

Dietmar Winkler ist Professor für Patristik und Kirchengeschichte an der Universität Salzburg. Außerdem ist er Vorstandsmitglied bei der Stiftung Pro Oriente.

Frage: Beim jetzigen synodalen Prozess ist die ganze Weltkirche auf dem Weg und soll sich – so der Wunsch von Papst Franziskus – daran beteiligen. Hat es etwas Vergleichbares in der Kirchengeschichte schon einmal gegeben?

Winkler: In diesem Ausmaß nicht, weil es die Weltkirche in dieser Weise mit all ihren Vernetzungsmöglichkeiten noch nicht lange gibt. Ich weiß aus Gesprächen mit dem früheren Wiener Kardinal Franz König, dass vielen Bischöfen beim Zweiten Vatikanischen Konzil erst richtig bewusst geworden ist, dass die katholische Kirche eine Weltkirche ist. Um dieser Kollegialität der Bischöfe Ausdruck zu verleihen, hat Papst Paul VI. auf Wunsch der Konzilsväter bereits 1965 die ordentlichen Bischofssynoden als Institution eingeführt. Es hat sich aber auch das Problem gezeigt, dass Bischöfe oft sich selbst repräsentieren und nicht ihre Diözese. Es gab bereits Bischofssynoden zum Wort Gottes, zur Eucharistie oder zum Amt des Bischofs, von denen die meisten Gläubigen fast nichts wissen, weil das Volk Gottes nicht konsultiert wurde. Das, was Papst Franziskus jetzt als Vorbereitungsphase definiert hat, gab es eigentlich bereits – es hat früher nur niemand so unmittelbar angemahnt. Dass die Erfahrungen der Bischöfe nicht immer mit den Erfahrungen des Volkes Gottes übereinstimmen, hat man spätestens bei den Umfragen zur Familiensynode festgestellt.

Frage: Sie haben 2010 selbst als Berater an der Sondersynode für die katholische Kirche im Nahen Osten teilgenommen. Wie haben Sie die Synodalität dort wahrgenommen?

Winkler: Dort habe ich gemerkt: Die Mehrheit der Bischöfe der katholischen Ostkirchen ist synodal erprobt, sie haben unglaublich viel Rücklauf von den Gläubigen bekommen und dies wirklich in den Prozess eingebunden. Von den Bischöfen sind damals über 300 Seiten zurückgekommen, die in das instrumentum laboris eingearbeitet werden mussten.

Frage: Schauen wir einmal auf die orthodoxe Kirche. Welche Rolle spielt Synodalität dort?

Winkler: Wie bereits erwähnt ist Synodalität ein Wesensmerkmal der Kirche. In der katholischen Kirche erleben wir eine Spannung zwischen Primat und Synodalität. Die orthodoxe Kirche byzantinischer Tradition besteht aus 15 autokephalen und mehreren autonomen Kirchen, die sich als eine Kirche versteht, was Glaube, Sakramente, Liturgie und kanonisches Recht angeht. Jurisdiktionell sind sie aber unabhängig. Jede autokephale Kirche hat ihren Patriarchen oder Erzbischof mit einer jeweiligen Synode. Der Patriarch trifft Entscheidungen also nicht allein, sondern immer gemeinsam mit einer Synode, die sich unterschiedlich zusammensetzen kann. Bei Patriarchenwahlen entscheidet bei einigen Kirchen beispielsweise die Bischofssynode, die mit unserer Bischofskonferenz vergleichbar ist, bei anderen wird auch das gläubige Volk einbezogen und Kandidatenlisten werden teilweise sogar im Internet veröffentlicht.

„Doch die Einbindung des Gottesvolks ist ein wesentlicher Charakter, um überhaupt Kirche zu sein.“

—  Zitat: Dietmar Winkler

Frage: Wie ist das, wenn es nicht um Personalwahlen, sondern um kirchenpolitische Themen oder Glaubensfragen geht?

Winkler: Dogmatische Formulierungen zu Glaubensthemen sind nach orthodoxem Verständnis nur in einem gesamtökumenischen Konzil möglich. Deshalb hat die orthodoxe Kirche Probleme mit Dogmen, die ex cathedra vom Papst verkündet werden. Aber natürlich ist in der orthodoxen Kirche nicht alles eitel Sonnenschein, auch dort gibt es Spannungen, gerade was die Synodalität auf Gesamt-Orthodoxie-Ebene angeht. Jede christliche Kirche hat ein Charisma, das sie der anderen geben kann, und es hakt bei jeder Kirche auch irgendwo.

Frage: Stichwort Charisma: Auf einer Tagung der Kommission für den orthodox-katholischen Dialog der Stiftung Pro Oriente, bei der Sie Vorstandsmitglied sind, hieß es, die orthodoxe Dimension müsste beim weltweiten synodalen Prozess der katholischen Kirche viel mehr in den Blick genommen werden. Warum?

Winkler: Die Ostkirchen haben sich dieses synodale Element, das wir aus der alten Kirche kennen, im Lauf der Geschichte erhalten, und sind diesbezüglich eingeübt. Dort gehört es zum Selbstverständnis. Bei uns in der katholischen Kirche ist die Synodalität zwar auch nicht abgebrochen. Das Problem ist aber, dass die Hierarchie immer gewichtiger wurde und letztlich ist es so, dass der Bischof spätestens seit dem 19. Jahrhundert als alleiniger Entscheidungsträger gilt. Das kulminiert 1870 im Unfehlbarkeitsdogma. Dieser Primat des Papstes wird erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil wieder in die Kollegialität der Bischöfe eingebettet.

Frage: Wie könnte Synodalität konkret in der katholischen Kirche aussehen, was könnte man übernehmen?

Winkler: Dafür muss man nichts erfinden. Jede Diözese sollte einen Pastoralrat haben, in dem sowieso der ganze Teil des Gottesvolkes vertreten ist, der in der Diözese vorhanden ist. Auch bei Diözesansynoden müssten Kleriker und Laien beteiligt werden und man kann sogar Beobachter berufen, die Mitglied anderer Kirchen oder Kirchengemeinschaften sind. Das Problem ist, dass all diese Menschen aber nur eine beratende Funktion haben. Der eigentliche Gesetzgeber einer Diözesansynode ist der Diözesanbischof. Wenn die Balance zwischen örtlichem Primat und Synode aber nicht stimmt, kommt es auch nicht zu guten Ergebnissen und die Menschen sind schnell frustriert, wenn die Verantwortlichen die Früchte der Beratungen nicht umsetzen. Doch die Einbindung des Gottesvolks ist ein wesentlicher Charakter, um überhaupt Kirche zu sein. Vom großen Kirchenlehrer des Ostens, Johannes Chrysostomos, stammt die Aussage, dass Kirche und Synode Synonyme sind.

Frage: Das Synodalverständnis hat sich also im Vergleich zu heute komplett gewandelt…

Winkler: Ich denke, dass die katholische Kirche heute darin nicht so geübt ist. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil hatten wir eine ganze Reihe Diözesan- und Regionalsynoden; das ganze hört aber etwa 1975 oder 1976 auf, noch im Pontifikat Pauls VI. Danach kam mit Johannes Paul II. ein Papst, der andere Schwerpunkte setzte und vor allem Sozialenzykliken, die Begegnung mit anderen Religionen oder weltpolitisches Auftreten in den Fokus rückte. Zugleich gab es allerdings innerkirchlich einen stärkeren Zentralismus und eine Konzentration auf die Bischöfe. Das Pontifikat von Benedikt XVI. ist für einen Kirchenhistoriker nicht weit genug weg, um dessen Wirkungsgeschichte profund beurteilen zu können. Allerdings lässt sich dort aus meiner Sicht keine Förderung synodaler Prozesse oder partizipatorischer Strukturen im Sinne des Zweiten Vatikanums ausmachen. Franziskus dagegen knüpft jetzt wieder an Papst Paul VI. an und mahnt zu Kollegialität.

Von Christoph Brüwer