Warum Kreuzverweise auf die Protestanten eine Zerreißprobe sind
Kardinal Kochs Vergleich des deutschen katholischen Synodalen Wegs mit den nationalsozialistischen protestantischen Deutschen Christen ist indiskutabel, die Empörung zu Recht groß und eine weitere inhaltliche Kritik nicht nötig. Es gibt darin allerdings ein formales Moment, das wir nicht zum ersten Mal aus dem Vatikan hören. Der Vergleich spielt über die Bande der protestantischen in die katholische Kirche hinein. Es ist ein Kreuzverweis – ein Stilmittel, das auch der Papst bereits verwendet hat. Kreuzverweise haben es in sich, weil man sich leicht darin verheddern kann.
Einerseits nutzt der Kardinal die Deutschen Christen, um gegen angebliche neue Offenbarungsquellen in der katholischen Kirche in Deutschland im Jahr 2022 in Gestalt der Zeichen der Zeit anzugehen. Deshalb lobte er die Barmer Theologische Erklärung, die 1934 gegen derlei Erweiterung aufstand. Papst Franziskus hat seinen Kreuzverweis mit dem Protestantischen eher mit Schalk in den Augen angestellt. In einem Interview mit Jesuitenzeitschriften erzählte er, dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz zu ihrem Synodalen Weg gesagt zu haben, es gebe bereits eine sehr gute protestantische Kirche und man benötige keine zweite in Deutschland.
An wen richten sich Über-die-Bande-Vergleiche mit guten Protestant:innen in Deutschland heute (Papst Franziskus) und mit üblen deutschen Protestanten damals (Kardinal Koch)? Beide richten sich an die deutschen Katholik:innen, an niemanden sonst. "Versteht euch nicht von den sehr guten Protestant:innen her, ihr könnt das nicht besser machen", sagt der eine. "Setzt euch von den üblen Protestant:innen damals ab, bleibt bei der Offenbarung in der römischen Lesart", sagt der andere. Unter keinen Umständen sollen sich deutsche Katholik:innen also am Protestantismus orientieren. Der Hinweis des Kardinals auf die Bekennende Kirche hilft hier nicht; schließlich stand sie als ohnmächtige Minderheit gegen den Irrsinn in einer überlegenen kirchlichen Macht. Man kann sie nicht zu Gunsten einer überlegenen Macht einsetzen, was die römische Kurie ist, ohne den Widerstand zu verfälschen.
Beide Warnungen, nicht wie Protestant:innen zu werden, setzt einen binären Code voraus: entweder katholisch oder protestantisch. Spätestens hier beginnt das Verheddern der Kreuzverweise. In Entweder-Oder-Codes spielt stets die Musik der Macht und intoniert: "Du musst dich für die eine Seite entscheiden, die überlegen ist!" Und die soll wieder einmal die römisch-katholische sein, trotz des Scheiterns, Versagens und der Unglaubwürdigkeit, die in der katholischen Kirche durch den sexuellen Missbrauch und seine Vertuschung durch Bischöfe offenbar geworden sind.
Kardinal Kochs Lesart der "loci theologici" ist abwegig
Mir fällt beim besten Willen kein einziges Zeichen der Zeit ein, welches diese Annahme stützen würde. Alle stehen dem entgegen, die hier relevant sind: der Mut der Opfer, sich öffentlich sichtbar und damit angreifbar zu machen; die gesellschaftlich einhellige Empörung, die gerade der Kirche keine Relativierung des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen und abhängigen Personen mehr einräumt; die Hartnäckigkeit im Qualitätsjournalismus, die notorischen Fälle nicht vergessen zu lassen; die Demut von Gläubigen, religiös verbrämte Vertuschungen auch in der eigenen Glaubensgemeinschaft nicht mehr zu akzeptieren, sondern entschieden in den Abgrund zu blicken, gleich wie schauderhaft er ist. Die Position aus dem binären Code lässt sich nur einnehmen, wenn man solchen Zeichen der Zeit den Rücken kehrt.
So rechnet Kardinal Koch sie ausdrücklich aus den Offenbarungsquellen heraus und unterstellt dem Grundlagentext des synodalen Weges eine unkatholische Lehre, weil dieser sich um die "loci theologici" (Fundstellen für überzeugende Argumente für Gottes Präsenz) müht und dazu auch die Zeichen der Zeit rechnet. Kochs Angriff ist abwegig, gehört doch selbst nach klassischer Lesart die Geschichte zu den "loci theologici alieni", in der die Zeichen der Zeit platziert sind. Zudem sind sie für das pastorale Lehramt des Konzils nach "Gaudium et spes" 11 und 4 für katholische Glaubensbotschaften unverzichtbar. Der springende Punkt bei den Zeichen der Zeit sind die Zeichen, die allerdings nur zu fassen sind, wenn man eine Musterung der eigenen Gegenwart danach anstellt, wo Menschen hier und heute um die Anerkennung ihrer Würde ringen müssen, weil ihre Würde von überlegenen Mächten und Gewalten bestritten, attackiert oder sogar zerstört wird. Und auch der Papst fällt bei seinem Kreuzverweis unter das Niveau der Zeichen der Zeit, die sein Treffen mit der Erzbischöfin von Schweden zum Reformationsjubiläum im Jahr 2017 in Lund wahrgenommen hat. Nur ein gemeinsamer Blick in die Historie eines unseligen Gegeneinanders befähigt die Kirchen in Europa zu einem glaubwürdigen Engagement für Flüchtlinge. Schließlich trugen sie selbst in der europäischen Vergangenheit erheblich zu den Flüchtlingsströmen der Neuzeit bis zur Gegenwart bei.
Was wird aber nun herauskommen, wenn eine Kirche den Zeichen der Zeit den Rücken zukehrt, bloß um ausgesprochen katholisch zu bleiben? Erstens werden die Protestant:innen vor den Kopf gestoßen werden. Ökumene à la Catholique scheint dann darin zu bestehen, sie als Munition für binnenkatholische Machtkämpfe zu nutzen. Auch die duldsamsten unter ihnen werden das nicht hinnehmen, selbst für ein angeblich höheres Ziel nicht. Zweitens sind die Zeichen der Zeit nicht darauf angewiesen, von der Kirche wahrgenommen und respektiert zu werden. Sie sind schlichtweg in der Gegenwart da und wirken sich aus. Die mangelhafte Wahrnehmung hat jedoch ein gravierendes Problem. Wendet sich die katholische Kirche der Offenbarungsqualität dieser Zeichen nicht zu, werden es nicht nur genügend andere tun. Wer sie nicht wahrnimmt, bleibt mit bei den eigenen Wahrheitsansprüchen auf der Strecke. Diese werden unglaubwürdig.
Das bedeutet: Finger weg vom binären Codieren "katholisch oder protestantisch". Vielmehr löst das, was Protestant:innen kirchlich sehr gut machen (Papst Franziskus) und was die Bekennende Kirche so vorbildlich machte (Kardinal Koch), etwas anderes aus. Beides macht die eigenen, also katholischen Defizite unweigerlich sichtbar. Denn konfrontiert mit Stärken von anderen, werden stets die eigenen Schwächen freigelegt. Beide sind eben komplexer verbunden als bloß mit einem "entweder deren Stärken oder unsere Schwächen". Daher bedeutet der nötige Respekt vor den Zeichen der Zeit zugleich eine Selbstrelativierung des Katholischen, wie es schon auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil zu beobachten war. Denn Offenbarung ist nicht einfach Schrift und Tradition, sondern die Selbstmitteilung Gottes in Tat und Wort. Was soll herauskommen, wenn man Offenbarung einzwängt in die einfache Dualität von katholischem Schriftverständnis und katholischer Tradition, die auch noch eine Art TÜV des Römischen im Katholischen bestehen müssen? Wie kleinlich will man den kirchlichen Zugang zu diesem Gott noch machen, nachdem weder das katholische Schriftverständnis noch die katholische Tradition irgendwo in der Weltkirche die Vertuschung des sexuellen Missbrauchs verhindert haben?
Man kann den römischen Protagonisten dieser Selbstmarginalisierung dazu nur eine – natürlich komplexe – Passage aus "Gaudium et spes" 11 zur Lektüre empfehlen. Dort wird vom Volk Gottes, also der Kirche, eingefordert, "in den Ereignissen, Bedürfnissen und Wünschen, an denen es zusammen mit den übrigen Menschen unserer Zeit Anteil hat, zu unterscheiden, was darin wahre Zeichen der Gegenwart oder des Ratschlusses Gottes sind. Der Glaube erhellt nämlich alles mit einem neuen Licht, macht den göttlichen Ratschluss in Bezug auf die ganzheitliche Berufung des Menschen kund und lenkt daher den Geist auf voll menschliche Lösungen hin." Damit werden die Zeichen der Zeit beschrieben und kein Zweifel daran gelassen, dass sie sowohl mit Gottes Geist jetzt wie mit heutigen Menschen zu tun haben. Schließlich hat Gott ein Präsens und die heutigen Menschen haben ein Recht auf Anteilnahme. Erst wenn eine Kirche sich beidem hier und jetzt aussetzt, lassen sich für sie die Zeichen erfassen, mit deren Hilfe eine Erhellung des Lebens durch den Glauben möglich ist. Wer die Zeichen der Zeit in eine Zerreißprobe mit dem Katholischen stellen will, das sich vom Protestantismus unbedingt absetzen muss, wird nur das Katholische zerreißen. Mehr ist damit nicht zu erreichen.