Bischof Overbeck: Können nicht jedem Glaubensbedürfnis entsprechen
Vor fast 20 Jahren wurden im Bistum Essen die ersten Großpfarreien gebildet. Ist das nur Mangelverwaltung? Der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck blick im Interview auf die Entwicklung des Kircheseins zurück und mahnt mit Blick auf die Zukunft einen Weg zwischen Vielfalt und Willkür an.
Frage: Bischof Overbeck, Zusammenlegungen von Pfarreien gibt es überall, im Bistum Essen nun schon fast 20 Jahre, seit 2004. Geht es dabei ausschließlich ums Überleben oder sehen Sie da auch neue Aufbrüche?
Overbeck: Die Entwicklung der Kirche ist immer eine Entwicklung in Schritten. Wir kommen aus einer starken Volkstümlichkeit mit sehr starken Gemeindebezügen. 2004 war es unter meinem Vorgänger, Bischof Felix Genn, und unter dem damaligen Generalvikar Hans-Werner Thönnes selbstverständlich, dass sie genau diese Struktur auch weiterführen würden, aber eben auf eine neue Art. Als ich dann 2009 Bischof von Essen wurde, war dieser Schritt getan und aus über 250 Pfarreien waren 43 geworden – mit entsprechenden Unterstrukturen, aber auch schon mit dem Preis, dass manche Kirche geschlossen und manche Gemeinde ganz aufgegeben wurde und damit auch die Strukturen von Pfarrhaus, Pfarrheim, Kindergarten und so weiter aufgelöst werden mussten. Fast 20 Jahre später kann man sehen, dass sich zwei Perspektiven entwickeln: Die eine Perspektive ist, dass die Grundstruktur der Kirche vor Ort weiterhin aus Pfarreien bestehen bleibt. Das ist nicht nur dem Kirchenrecht geschuldet, sondern auch der sozialen und psychologischen Verhaltensweise der allermeisten Gläubigen: Sie wollen in Gemeinschaft Kirche sein; dabei ist die rechtliche Größe der Pfarrei von großer Bedeutung. Gleichzeitig merken wir angesichts der Geschichte unseres Bistums aber auf allen Gebieten, dass Menschen sich doch auch noch einmal anders verorten, nämlich in kleinen, überschaubaren Gruppen.
Frage: Und die zweite Perspektive?
Overbeck: In diesen 20 Jahren hat die Säkularisierung der Gesellschaft eine Schubkraft gewonnen, die noch einmal zeigt, dass sich sehr viel weniger Menschen mit der Kirche als Institution verbinden. Sie beschäftigen sich durchaus mit vielen Fragen des Lebens und des Glaubens. Antworten darauf suchen sie aber nicht nur in der institutionellen Kirche, sondern auch andernorts. Unter Berücksichtigung dieser beiden Perspektiven sehen wir in unserem Bistum, dass sich die Pfarrei als Verwaltungseinheit und Orientierungsgröße bewährt, aber die Orte von kirchlichem Leben sich zugleich sehr stark pluralisieren, wesentlich intensiver als bisher bekannt.
Frage: Was ist die Konsequenz daraus?
Overbeck: Das führt dazu, dass die starken Verfechter der Gemeinde manchmal erstaunt sind, dass dieses Modell bei jüngeren Generationen nicht mehr funktioniert – jedenfalls anders, als sie es sich vorgestellt haben. An anderen Orten ist es dagegen noch so, dass mit Familien eine Form von lebendiger Gemeinde weiterhin besteht. Diese Entwicklung ist der Postmoderne geschuldet, in der sich Lebensräume von Verwaltungsräumen relativ selbstständig gemacht haben, wir aber aus einer ganz anderen, volkskirchlich strukturierten Welt kommen, in der das als identisch gedacht und auch gelebt wurde.
Frage: Was meinen Sie mit einer Zeit nach dem Gemeindeleben?
Overbeck: Es wird eine Grundstruktur von Kirche geben, die nicht nur aus Diözesen und Pfarreien besteht, sondern auch aus vielen Orten kirchlichen Lebens, die sich unabhängig davon entwickeln. Ich gehe davon aus, dass sich weiterhin jeden Sonntag selbstverständlich Gläubige zur Eucharistie versammeln werden. Aber es werden keine Massen sein.
Darüber hinaus wird es andere Identifikationsorte von Kirche geben, die etwa in Schulen, Kindergärten, Tagesstätten, Einrichtungen der Erwachsenen- und Familienbildung oder Pflegeheimen existieren. Dazu kommen kleine Gemeinden, die nicht in eine feste Struktur eingebettet sind, sondern, hoffentlich von Gottes gutem Geist beseelt, durch den Willen und das Engagement einzelner Menschen wachsen. Außerdem werden wir eine viel größere Gruppe von Gläubigen haben, die sich auch auf digitalem Wege mit uns verbinden und so zu uns gehören.
Frage: Was charakterisiert diese Menschen?
Overbeck: Viele lassen sich vom Charakter her eher als interessierte Besucher beschreiben, die nur hin und wieder einmal vorbeischauen, statt sich dauerhaft zu engagieren. Dagegen erlebe ich aber auch eine kleine Gruppe, die sehr stark auf der Suche nach der klaren Identität eines strikt konfessionell katholisch geprägten Lebensentwurfs ist. Diese Tendenzen konfessioneller Abgrenzung kann man ebenfalls auf evangelischer Seite feststellen. Eine viel größere Gruppe gibt es allerdings, die nach mehr Gemeinsamkeiten im ökumenischen Sinne sucht, zusammen mit allen Christinnen und Christen.
Frage: Viele Menschen haben bei so großen Pfarreien auch das Gefühl, dass die Kirche nicht mehr bei ihnen um die Ecke ist und sie sich dadurch von der Kirche allein gelassen fühlen. Haben Sie dafür Verständnis?
Overbeck: Wir kommen aus einer Zeit, in der Lebensformen und Glaubensräume überschaubar groß waren. Das betraf auch das berufliche und private Leben, dieses hat sich in der Gegenwart allerdings komplett verschoben. Von daher gesehen verlangt unsere heutige Zeit eine andere Form der Bereitschaft, sich im Sinne der Diasporachristen auf den Weg zu machen und zu wissen: Es gibt weiterhin Glaubensräume, aber sie liegen nicht unbedingt in meiner Nähe. Der erste Essener Bischof wollte ein flächendeckendes Netz von Kirchen, damit alle Katholiken eine im Viertel haben. Diesem Anspruch können wir jetzt und in Zukunft nicht mehr gerecht werden und müssen es auch nicht. Darin liegt auch eine Chance, denn vielleicht ähnelt das Christentum in Mitteleuropa heute wieder mehr dem, was es am Anfang war: Die Religion von Menschen auf dem Weg.
Frage: Sie haben viel von Graswurzelbewegungen gesprochen, die sich an manchen Orten entwickeln und an manchen nicht. Wie kann denn das System Großpfarrei so mit Leben gefüllt werden, dass es auch wirklich überall Angebote gibt? Sonst gibt es an manchen Orten aktive Gemeinden, an anderen überhaupt keine.
Overbeck: Das lässt sich nur in einem ganz weiten Sinn umsetzen. Wir leben in einer so differenzierten und diversifizierten Welt, dass es im Grunde unmöglich ist, mit den uns gegebenen Möglichkeiten jedem individuellen Glaubensbedürfnis vollumfänglich zu entsprechen.
Den Menschen muss klar sein: Ein derart flächendeckendes, von Hauptamtlichen verantwortetes Angebot wie in der Vergangenheit wird es nicht mehr geben. Das ist wahrscheinlich einer der großen Kulturschritte, die wir gehen müssen: Ein Bewusstsein für die Notwendigkeit zu schaffen, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was Christsein unter den beschriebenen Bedingungen wirklich bedeutet und wie es gelingen kann. Zu oft wird alles, was nicht mehr so ist wie früher, schnell als eine negative Entwicklung gesehen. Es ist aber ein nächster Schritt auf dem Weg des Christentums, hin zu einer neuen Form der Identitätsfindung in unserer Welt, die in der Tat mehr Energie kostet als die frühere. Diese neue Identität wird bescheidener sein. Sie wächst in dem Bewusstsein, dass viele Menschen – auf dem Gebiet des Bistums Essen die allermeisten – ohne eine praktizierte, öffentlich wahrnehmbare Religiosität leben. Gelebte Religiosität ist, ähnlich wie der Glaube an Gott, gesellschaftlich betrachtet keine Selbstverständlichkeit mehr und dadurch auch viel erklärungsbedürftiger als früher.
Frage: Das kirchliche Personal schwindet gemeinsam mit den Gläubigen. Wie kann da ein Glaubensleben in der Fläche funktionieren?
Overbeck: Zum einen lebt der Glaube sehr vom Glauben im Alltag, der weder an ein Kirchengebäude, noch an einen kirchlichen Mitarbeiter oder einen Priester gebunden ist. Ich hoffe, dass für viele Menschen zu Hause weiterhin das Morgen- und Abendgebet oder das Innehalten vor dem Essen Wege sein können, um die Verbundenheit mit Gott und mit der Gemeinschaft der Glaubenden zu leben und dieser Verbundenheit Ausdruck zu verleihen. Daneben freue ich mich, wenn sie sonntags die Eucharistiefeier besuchen. Es besorgt mich sehr, dass die Zahl der Priester so sehr schwindet und die der jungen Priester fast gegen Null geht. Wenn es nicht gelingt, dieser Entwicklung entgegenzuwirken, wird es Eucharistiefeiern bald nur noch punktuell geben.
Frage: Gleichzeitig wünschen sich manche Laien auch, das Gemeindeleben aktiv mitzugestalten. Aber Sie haben auch immer wieder darauf hingewiesen, dass am Ende ein Priester den Hut aufhaben muss. Wo gibt es Möglichkeiten für Laiinnen und Laien, sich auch auf gestaltender Ebene einzubringen?
Overbeck: Sie brauchen sich nur im Bistum Essen umzuschauen und Sie sehen viele Möglichkeiten der Beteiligung von Laien. All diese Engagierten tun das, was notwendig und angesagt ist und was Gemeindeleben möglich macht. Mir ist wichtig, das Ganze nicht nur unter der ständigen Perspektive von Macht und der Form von Erlaubnis zu sehen, sondern aus der Perspektive dessen, was der Geist möglich macht, aber auch der Glaube der Menschen. Unter dieser Rücksicht bleibe ich aus tiefster Überzeugung dabei, dass es eine sakramentale Grundstruktur der Kirche gibt und weiterhin geben muss. Das drückt sich auch in der Rolle der Priester aus, die nach dem Kirchenrecht die Seelsorge in einer Pfarrei leiten. Daneben gibt es zahlreiche Tätigkeiten, auch in jeweils leitender Verantwortung, die Laien übernehmen und ausfüllen. Das verlangt von allen Seiten – auch von den Gläubigen – eine wirkliche Umstellung. Es ist aber auch ein Zeichen der Zeit, das uns lehrt, wie Kirche unter diesen ganz neuen Bedingungen wachsen kann.
Frage: Haben Sie das Gefühl, dass sich genügend Gläubige engagieren möchten?
Overbeck: Wir sind in Übergangszeiten und sehen, dass es momentan ein starkes Ehrenamt gibt. Aber die Generation der jetzt 50- bis 70-Jährigen wird das abgeben und in den darauffolgenden Generationen werden sich weniger Menschen finden, die sich mit Blick auf ein Ehrenamt noch längerfristig engagieren können. Das ist ein Phänomen der gesamten Gesellschaft. Von daher gesehen werden sich die Formen kirchlichen Lebens verändern. Ich bin jetzt im 14. Jahr Bischof von Essen und immer, wenn ich auf meinem Bischofsstuhl sitze, denke ich an die Geschichte des Stiftes Essen: Hier haben 1.000 Jahre lang Frauen das Sagen gehabt. Priester richteten sich nach ihnen. Diese Welt ist vergangen und eine neue ist gekommen, die auch ihre Zeit hat. Mit einem solchen historischen, gelassenen Blick denke ich an die Zukunft und weiß, was auch immer geschieht, dass wir mit Gottes Geist die katholische Kirche bleiben.
„Ich bin der Überzeugung, dass das hierarchische Prinzip der Kirche durch das synodale Prinzip ergänzt werden wird.“
Frage: Werden sich auch neue Formen der Synodalität entwickeln?
Overbeck: Ich bin der Überzeugung, dass das hierarchische Prinzip der Kirche durch das synodale Prinzip ergänzt werden wird. Doch dabei stehen wir selbst noch ganz am Anfang und können etwas von der orthodoxen und evangelischen Tradition lernen. Gleichzeitig sind wir aufgefordert, unseren eigenen Weg zu gehen. Papst Franziskus hält im Blick auf die Synodalität momentan sehr viel von der Unterscheidung der Geister und nicht so viel davon, das institutionell zu verankern. Daneben fragt der Synodale Weg der Kirche in Deutschland stärker, was Synodalität in institutioneller Hinsicht bedeutet. Beide Perspektiven sind wichtig und stellen auch keine Gegensätze dar. Wir müssen uns immer wieder die Frage der geistlichen Verfasstheit der Kirche stellen und was das für Beteiligungsfragen heißt. Das wird die nächste Phase des Veränderungsprozesses sein.
Frage: Werden die Fragen des Synodalen Wegs also weiter eine Rolle spielen?
Overbeck: Ja, aber das geht Schritt für Schritt. Momentan sind wir bei den erwähnten Graswurzelbewegungen. Bekanntlich kann man am Gras ziehen, aber es wächst nicht schneller. Und genau in einer solchen Phase sind wir, wenn Menschen behaupten, sie könnten gleich alle möglichen Früchte ernten. Aber – und das sage ich als Spross einer Bauernfamilie: Man muss das Feld im Herbst bestellen, bevor man im nächsten Jahr ernten kann. Aber man muss den Winter abwarten und dann im Frühling sehen, was wächst und im Sommer wieder ernten. Dabei können wir weder eine Jahreszeit überspringen, noch den Lauf der Zeit aufhalten. So ist es auch in der Kirche: Manchen geht es nicht schnell genug, anderen zu schnell. Aber Neues wächst nur langsam.
Frage: Wie wird die Kirche nach dem Ende der Volkskirche aussehen?
Overbeck: Es wird eine Diasporakirche sein, eine, die mitten in den Städten lebt, weil sie große Räume brauchen wird, um Resonanzen zu erzeugen und Menschen zu sammeln. Wir werden sehr differenziert eine Kirche sein, die sich hoffentlich noch sonntags zur Messe versammelt, aber die eben den klassischen Pfarreibegriff als Gemeinde längst aufgebrochen hat. Die digitale Welt der Kirche werden wir nicht unterschätzen dürfen. Ich hoffe, dass wir auf Dauer dabei eine Kirche bleiben. Diese Kirche wird sich vor allem diakonisch zeigen. Das wird die Möglichkeit sein, die meisten Menschen zu erreichen. Die liturgische Kirche wird eher kleiner werden.
Ich bin sicher, wir gehen auf eine Zeit von vielen Experimenten zu. Allein in meiner Bischofszeit hat es schon viele gegeben. Manche haben sich verstetigt, andere sind vergangen. Wir sollten als Kirche eine Weite haben. Das Faszinierende der katholischen Kirche ist die Fähigkeit der Integration. Und je mehr wir integrieren, umso besser. Wichtig ist dabei nur, nicht ideologisch zu verhärten oder ganz die Form zu verlieren. Zwischen diesen beiden Extremen gibt es viele Wirkungsmöglichkeiten für den Heiligen Geist.