Standpunkt

Der reaktionäre neue Traditionalismus ist im Kern eine alte Irrlehre

Veröffentlicht am 18.09.2023 um 00:01 Uhr – Von Oliver Wintzek – Lesedauer: 

Bonn ‐ Einige Studierende von Oliver Wintzek sind vom Weltjugendtag mit verstörenden Erfahrungen zurückgekehrt. Aus ihren Schilderungen schließt der Theologe, dass ein neuer Traditionalismus in der Kirche voranschreitet – der älter als gedacht ist.

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Die innerkatholischen Fronten verhärten sich – einige meiner Mainzer Studierenden waren auf dem Weltjugendtag in Lissabon und berichteten (auch) Verstörendes. "Mehr"-Begeisterung als kritisch-aufgeklärter Geist, Theologie-Bashing und (diskriminierende) "Jesus-Unmittelbarkeit" haben Konjunktur. All dies im Bunde mit einer irritationsresistenten Gewissheit zu wissen, was Gott (oder Jesus) für alle Ewigkeit offenbart habe und wolle. Religionssoziologisch heißt das Fundamentalismus, in der Binnenwahrnehmung heißt dies, Verteidiger:innen "ewiger Wahrheiten" zu sein, die es trotz oder gerade wegen einer gesellschaftlichen Marginalisierung zu forcieren gilt. Reaktionärer Inhalt und hippes Design gehen oft Hand in Hand. Auch ein "Jesus"-affiner (höherer) Klerus ist anfällig für Anbetungsevents, wo sich Mittelalter, das die Transsubstantiationslehre oft nicht verstanden hat – sie ist nämlich ein Bollwerk gegen haptische Unmittelbarkeit –, und Postmoderne kreuzen.

Woher diese Gewissheit des göttlichen Willens? Woher diese Arroganz gegenüber den Tastenden und Ghettoimmunen? Woher diese Ewigkeitsversessenheit gegenüber geschichtlichem Denken? Woher diese Überbeanspruchung Jesu von Nazareth als antirelativistischem Kundgeber Gottes?

Mein Verdacht: Hier erlebt der Miaphysitismus eine postmoderne Neuauflage, auch wenn die meisten seiner Anhänger:innen diese altkirchliche Häresie nicht einmal vom Namen her kennen dürften. Worum ging und geht es? In immer neuen Varianten wurde die Gestalt Jesu von Nazareth so rekonstruiert, dass er nur eine (mia) Natur (physis) habe – die göttliche. Damit sei er nicht wahrer Mensch, sondern ein göttliches Überwesen, Gott (präzise: der ewige innertrinitarische "Sohn") hätte somit keine menschliche Natur angenommen, sondern sie in der göttlichen Natur aufgelöst. In dieser Sichtweise mutiert Jesus von Nazareth von einem seiner Zeit verhafteten menschlichen Verkündiger der (universalen) Gotteshoffnung Israels zu einem göttlichen Lautsprecher ewiger Wahrheiten. Dass diese aus dem Konvolut biblischer Texte und kirchlicher Traditionsbestände nur mit einem nicht offengelegten leitenden Interesse herausgelesen werden, wird geflissentlich verschwiegen…

Deswegen: Es geht bei den Frontstellungen um jenes "hat Fleisch angenommen und ist MENSCH geworden"! Das ist das christliche Grunddogma – es steht gegen die Neuauflagen eines unglaubwürdigen und unmenschlichen Mythoswesens.

Von Oliver Wintzek

Der Autor

Oliver Wintzek ist Professor für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Katholischen Hochschule in Mainz. Zugleich ist er als Kooperator an der Jesuitenkirche in Mannheim tätig.

Hinweis

Der Standpunkt spiegelt ausschließlich die Meinung der jeweiligen Autorin bzw. des Autors wider.