Wie Franziskus nach Benedikts Tod den Kurs der Kirche änderte
Vor einem Jahr starb Benedikt XVI. Damit ging eine in der Geschichte der Kirche äußerst ungewöhnliche Ära zu Ende: Zehn Jahre lang gab es neben dem amtierenden argentinischen Pontifex noch den deutschen emeritierten Papst, der von manchen auch als "Schattenpapst" bezeichnet wurde. Nach außen hin wirkte alles harmonisch, doch nach innen führte diese Konstellation nach Einschätzung von Vatikankennern immer wieder zu Spannungen – und für die Öffentlichkeit nicht immer sichtbaren Konflikten. Zwar hatte der am Silvestertag 2022 verstorbene Benedikt XVI. in einem Interview mit der italienischen Tageszeitung "Corriere della Sera" im Frühjahr 2021 Gerüchte zurückgewiesen, er betreibe konservative Kirchenpolitik aus seinem Altersruhesitz im Kloster "Mater Ecclesiae" heraus, doch Kenner der vatikanischen Machtstrukturen wie Massimo Franco, ehemals Vatikankorrespondent der britischen Tageszeitung "The Guardian", sprachen von einem Antipoden zum amtierenden Pontifex, gar von einem Gegengewicht zu Franziskus. Auch wenn Einschätzungen wie diese zu einem großen Teil von Spekulationen genährt werden, scheint nicht von der Hand zu weisen sein, dass das Verhältnis von Franziskus und Benedikt alles andere als unkompliziert war.
Zudem ist die Frage durchaus berechtigt, ob mit dem Tod des deutschen Papstes eine neue Phase im Pontifikat von Papst Franziskus begonnen hat. Vom "Durchregieren" ist nun die Rede; das Kirchenoberhaupt müsse nun keine Rücksicht mehr auf Benedikt nehmen. Denn der Alt-Papst hatte sich in den vergangenen zehn Jahren immer wieder aus dem kleinen Vatikan-Kloster zu Wort gemeldet – meist zu brisanten weltkirchlichen Themen, bei denen er eine gegensätzliche Ansicht zum amtierenden Kirchenoberhaupt vertrat. Ob er dabei selbst als Korrektiv wirken wollte oder nur von einigen hochrangigen Kurienkardinälen des konservativen Flügels instrumentalisiert wurde, bleibt offen. So sprach sich Benedikt anlässlich der Familiensynode 2014 gegen die Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zur Kommunion aus, verfasste 2019 einen Beitrag zum Missbrauch in der Kirche und machte dafür das "Klima der 68er" verantwortlich, und ein Jahr später kritisierte er gemeinsam mit Kardinal Robert Sarah die Amazonassynode und die Möglichkeit, "viri probati" – bewährte Ehemänner – zu Priestern zu weihen. Von Harmonie also keine Spur?
Zwar suchte Franziskus immer wieder Rat bei seinem Vorgänger und machte es zu einer Tradition, Benedikt mit den neu kreierten Kardinälen zu besuchen, was zu Bildern demonstrierter Einmütigkeit führte. Doch schon 2021 begann das Kirchenoberhaupt vorsichtig einige Entscheidungen seines Vorgängers einzudämmen: Mit seinem Erlass "Traditionis custodes" schränkte Franziskus die von seinem Vorgänger erlaubte Form der Alten Messe wieder weitgehend ein. "Mit Schmerz im Herzen" habe der emeritierte deutsche Papst damals diesen Einschnitt gelesen, verriet sein langjähriger Privatsekretär, Erzbischof Georg Gänswein, kurz nach dem Tod Benedikts. Gänswein hatte mit seinem noch vor dem Begräbnistag seines ehemaligen Chefs veröffentlichten Memoiren-Buch für heftige Kontroversen gesorgt und damit ein Fragment der offenbar nicht ganz harmonischen Verhältnisse zwischen ihm, Benedikt und Franziskus in die Öffentlichkeit getragen. Es bestätigte sich, was die Vaticanisti schon im Vorfeld beobachtet hatten: Zwischen den drei Kirchenmännern scheint es Spannungen gegeben zu haben, die für eine angespannte Atmosphäre gesorgt hatten.
Innerkirchliche Spannungen und Auseinandersetzungen
Wesentlich komplizierter wurde nach Benedikts Tod die innerkirchliche Situation mit den noch von ihm ernannten konservativen Würdenträgern, die auch ohne den Papa emeritus im Rücken, weiter für Widerstand sorgten und massiv versuchten, den weltkirchlichen Diskurs in ihrem Sinne zu prägen. Dabei spielte mitunter die Alte Messe eine große Rolle, die scheinbar mehr Anhänger und Verfechter hatte als gedacht. Zu den reaktionären Stimmen gehörten nunmehr einige der US-Bischöfe, die zuletzt nach einer langen Zerreißprobe für Franziskus und seine Mitarbeiter abgestraft wurden: dem einflussreichen Papstkritiker Kardinal Raymond Burke wurden Kardinalsgehalt und vatikanische Dienstwohnung gestrichen, dem texanischen Bischof und "Star" der rechtskatholischen Medien, Joseph Strickland, entzog der Vatikan die Leitung seiner Diözese. Eine mangelnde Unterstützung der Weltsynode und der damit verbundenen Vision des Papstes als auch eine mangelhafte Umsetzung von "Traditionis custodes" wurden ihm vom Nuntius in den USA vorgeworfen. Auch in Frankreich griff der Pontifex durch, als er dem in die Kritik geratenen Bischof der südfranzösischen Diözese Fréjus-Toulon, Dominique Rey, einen Koadjutor zur Seite stellte, der in der traditionalistischen und von schlechtem Führungsstil geprägten Diözese für Ordnung sorgen sollte. Aus diesen Personalentscheidungen wurde klar: Rückwärtsgewandtes Denken passt nicht mehr ins vatikanische Programm.
Doch nicht nur in den traditionalistischen Hochburgen USA und Frankreich sorgte die vom früheren deutschen Papst wiederbelebte Alte Messe für Ärger, auch in Australien und Brasilien stellten sich jüngst Kleriker gegen ihre Oberhirten sowie den Pontifex und warfen ihnen Traditionsbruch und Häresie vor. Das ist nicht unbedeutend, denn wie der in den USA lehrende italienische Theologe Massimo Faggioli beobachtet hat, haben einflussreiche Medien wie der US-Fernsehsender EWTN und seine Ableger, traditionalistische Blogs, papstkritische Internetportale und Social-Media-Kanäle den ultrakonservativen Katholizismus als Mainstream etabliert und der Kritik an Franziskus damit eine große Plattform gegeben. Weitere einflussreiche Kirchenvertreter, die zuvor noch in wichtigen vatikanischen Dikasterien das Sagen hatten, scheinen nun regelrecht auf die mediale Aufmerksamkeit der papstkritischen und reaktionären rechtskatholischen Medien angewiesen zu sein. Dazu gehört auch der deutsche Kurienkardinal und ehemalige Glaubenspräfekt Gerhard Ludwig Müller, der den argentinischen Pontifex mehrfach für seinen Führungsstil kritisierte und ihm wiederholt vorgeworfen hat, Häresien auf pastoralem Wege einzuführen. Dies tue er vor allem durch seinen neuen Glaubenspräfekten, Kardinal Víctor Fernández.
Die Personalie Fernández ist im Pontifikat von Franziskus ein Kapitel für sich. Mit ihr beginnt eine neue Phase in der Regierungszeit des Pontifex, denn sein argentinischer Landsmann baut als Chefdogmatiker das Glaubensdikasterium nach den Vorstellungen von Franziskus um. Zuvor hatte der Papst noch mit der Kurienreform von "Praedicate evangelium" symbolisch hinter die Evangelisierungsbehörde gestellt und damit eine deutliche Verschiebung der Prioritäten symbolisiert: Die Verkündigung der Glaubensinhalte sei wichtiger als die klare Abgrenzung von Häresien und Häretikern. Von Fernández erwartet der Pontifex einen Paradigmenwechsel: Das Glaubensdikasterium solle endgültig vom schlechten Ruf der Inquisition befreit werden und theologische Erkenntnisse fördern, statt mögliche Lehrfehler zu verfolgen – anders als noch zu Zeiten der Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI., die größere Abweichungen vom Lehramt ahndeten.
Neue Töne des Glaubensdikasteriums
Den neuen Kurs der obersten Glaubensbehörde macht auch die aktuelle Transparenzoffensive deutlich. Regelmäßig erscheinen neue Dokumente auf der von Fernández aus dem Tiefschlaf geholten Internetseite des Glaubensdikasteriums, darunter Briefe und Antwortschreiben auf die Dubia im Vorfeld zur Weltsynode oder auf Praxisfragen von Bischöfen aus der Weltkirche. Kürzlich sorgte die Glaubensbehörde binnen weniger Wochen für innerkirchliche Spannungen und Auseinandersetzungen, als es queere Taufpaten und Trauzeugen erlaubte, bekräftigte, dass alleinerziehende Mütter zur Kommunion zugelassen sind, und jüngst Segnungen homosexueller Paare und von Paaren in "irregulären Situationen" unter bestimmten Bedingungen möglich machte – ein Schritt, der noch unter Fernández’ Vorgänger, Kardinal Luis Ladaria, verboten worden war.
Damit unterstrich die Glaubensbehörde einmal mehr die pastorale Vision des Pontifex, und auch der zuvor angekündigte Paradigmenwechsel wurde erstmals sichtbar. Ob das Kirchenoberhaupt nun "durchregiert" oder nicht, eines ist klar: Auch wenn einige der Entscheidungen seines Vorgängers noch nachwirken, versucht der Pontifex sie nach und nach zu überwinden – sei es personell oder thematisch. Das Großprojekt "Weltsynode" und die stärkere Einbeziehung von Frauen und Männern sowie das jüngst von der Glaubensbehörde veröffentlichte Dokument zur Segnung homosexueller Paare dürften weitere Belege dafür sein.