Kurienerzbischof: Papst Leo wird Franziskus' Vision weiterführen
Erzbischof Vincenzo Paglia ist eine der profiliertesten Stimmen der Kirche in ethischen Fragen. Deshalb ernannte ihn Papst Franziskus im Jahr 2016 zum Präsidenten der Päpstlichen Akademie für das Leben. Der heute 80-Jährige äußerte sich in diesem Kontext immer wieder zu heiklen Themen wie Abtreibung oder Sterbehilfe und kritisierte mehrfach, dass oft nur ein bestimmter Aspekt des Lebensschutzes herausgegriffen und für einen bestimmten Zweck instrumentalisiert werde. Unter dessen Führung von 2016 bis 2025 waren das Themenspektrum und die personelle Zusammensetzung der päpstlichen Denkfabrik für ethische Fragen deutlich pluralistischer geworden. Kürzlich trat der 80-jährige Paglia altersbedingt zurück. Im Gespräch mit katholisch.de blickt er deshalb auf seine Zeit an der Spitze der Päpstlichen Akademie für das Leben und das Pontifikat von Papst Franziskus zurück. Er erklärt auch, warum Papst Leo XIV. den Kurs seines Vorgängers fortsetzen wird.
Frage: Erzbischof Paglia, Sie waren ein enger Mitarbeiter von Papst Franziskus. Wie bewerten Sie heute sein Pontifikat – und glauben Sie, dass Papst Leo seine Vision weiterführen wird?
Paglia: Der Verlust von Papst Franziskus hat mich emotional sehr bewegt, nicht nur wegen des beruflichen, sondern auch wegen des persönlichen Verhältnisses, mit dem er mich beschenkt hat. Ich wusste, dass ich ihn zu jedem Thema um Rat fragen konnte. Und ich habe von ihm in allen Phasen meiner Arbeit als Präsident der Päpstlichen Akademie für das Leben und als Großkanzler des Päpstlichen Theologischen Instituts Johannes Paul II. Unterstützung erhalten. Ich bin aber davon überzeugt, dass Papst Leo Franziskus' Vision weiterführen wird. Es gibt eine große Kontinuität zwischen den Pontifikaten. Die Kirche steht immer vor nur einer Herausforderung: das Evangelium so zu verkünden, dass es zur Zeit passt, in der wir leben. Und schon mit der Namenswahl stellt sich Papst Leo XIV. auf den Weg der Soziallehre der Kirche.
Frage: Bis vor Kurzem standen Sie an der Spitze der Päpstlichen Akademie für das Leben. Unter Ihrer Leitung wurde das Themenspektrum erweitert, auch Stimmen mit liberaleren Positionen in bioethischen Fragen wurden einbezogen. Wie ziehen Sie persönlich Bilanz?
Paglia: Sehr positiv. Heute sind die Herausforderungen für das Leben global und betreffen nicht nur den Beginn oder das Ende der Existenz. Vor uns stehen Kriege, Pandemien, Ungleichheiten in den sozialen Sicherungssystemen, auch der Hunger ist alles andere als besiegt. Es sind außergewöhnliche und schreckliche Herausforderungen, verbunden mit der Notwendigkeit, uns an die Frauen und Männer unserer Zeit zu wenden, um auf die drängende Frage nach dem Sinn des Lebens zu antworten. Und wir müssen unbedingt mit allen sprechen und vor allem die naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Disziplinen miteinander ins Gespräch bringen. Denn es braucht einen neuen Humanismus für eine bessere und friedlichere Gesellschaft. Vielleicht hätten wir noch mehr tun können, um zu verdeutlichen und zu erklären, dass die Ausweitung der Themenbereiche, wie sie ausdrücklich von Papst Franziskus gewollt war, niemals eine Abkehr vom ursprünglichen Auftrag der Akademie bedeutete, den Johannes Paul II. festgelegt hatte.

Kurienerzbischof Vincenzo Paglia war von 2016 bis 2025 Präsident der Päpstlichen Akademie für das Leben. Unter dessen Führung waren das Themenspektrum und die personelle Zusammensetzung der päpstlichen Denkfabrik für ethische Fragen deutlich pluralistischer geworden.
Frage: In der öffentlichen Wahrnehmung wird “Lebensschutz” häufig mit dem Thema Abtreibung gleichgesetzt. Sie hingegen haben sich für ein umfassenderes Verständnis stark gemacht. Wie hat sich Ihr Blick darauf im Laufe der Jahre verändert?
Paglia: Die globale Bioethik ist die Perspektive, die sich uns heute bietet. Es ist nicht mehr die Zeit für eine kasuistische Moral, die konkretes Verhalten vorschreibt. Es ist die Zeit, über globale Herausforderungen nachzudenken: Wir haben nur einen Planeten, auf dem wir leben können, und wir müssen ihn bewahren, um ihn den kommenden Generationen zu hinterlassen. Wir haben nur ein Leben in dieser Welt, und wir müssen allen Menschen ermöglichen, dieses Leben immer besser zu leben und sich in einem Kontext von Gerechtigkeit und menschlicher Entwicklung zu entfalten. Ich wiederhole: Es geht um globale Bioethik im Geist von Laudato si’ und Fratelli tutti. Zwei Dokumente, die einen Weg für die ganze Menschheit aufzeigen, nicht nur für uns Katholiken.
Frage: Die Bioethik steht vor neuen Herausforderungen – etwa durch Entwicklungen in der Künstlichen Intelligenz. Was ist aus Ihrer Sicht derzeit die vordringlichste Aufgabe der Kirche in diesem Feld?
Paglia: Zu bekräftigen, dass der Mensch im Mittelpunkt stehen muss, nicht die Maschine, nicht der Profit einiger weniger Unternehmen auf Kosten einer respektvollen Entwicklung. Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus dem Jahr 2019, nach einem internationalen Kongress der Päpstlichen Akademie für das Leben zur "Roboethik". Nach diesem Kongress wurde ich vom Präsidenten von Microsoft, Brad Smith, kontaktiert. Er sagte mir offen, dass man sich in seiner Welt der Ingenieure und IT-Fachleute, die unter ständigem Innovationsdruck stehen, zunehmend mit ethischen Fragen und den ethischen Konsequenzen der Einführung hochentwickelter Technologien in den Markt auseinandersetze – Technologien, die zur Kontrolle und Manipulation von Menschen eingesetzt werden können. Und er sagte mir, er wolle mit der Kirche, mit menschlicher Weisheit und mit der ethischen Sichtweise der Religion in Dialog treten.
Frage: Folgten darauf auch konkrete Ideen?
Paglia: Daraus entstand die Idee des "Rome Call for AI Ethics", der 2020 von der Päpstlichen Akademie für das Leben ins Leben gerufen und zunächst von Microsoft, IBM, der Welternährungsorganisation und der italienischen Regierung unterzeichnet wurde. Ein einfaches Dokument mit Prinzipien, um zu sagen: Die Entwicklung von Produkten im Bereich Künstlicher Intelligenz muss von Anfang an – by design – auf das Gemeinwohl ausgerichtet sein, nicht auf Ausbeutung. In fünf Jahren wurde der Aufruf von Hunderten lateinamerikanischer Universitäten unterzeichnet, von weiteren Unternehmen wie Cisco, von jüdischer und muslimischer Seite sowie von asiatischen Religionen. Das ist es, was die Kirche für eine echte menschliche Entwicklung tun kann.
„Heute sind die Herausforderungen für das Leben global und betreffen nicht nur den Beginn oder das Ende der Existenz.“
Frage: Wie weit darf – oder sollte – der Dialog mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen gehen?
Paglia: Es gibt kein "wie weit". Wir müssen in den Dialog treten. Papst Franziskus hat uns das immer wieder gesagt – etwa, wenn er auf die Arbeit des französischen Jesuiten und Anthropologen Teilhard de Chardin verwies. Es gibt keine Grenze zwischen Wissenschaft und Glauben. Es gibt nur den kontinuierlichen Dialog.
Frage: Was folgt daraus?
Paglia: Wir brauchen einen neuen Humanismus, einen zukunftsgerichteten Impuls, der sagt: Schluss mit Kriegen und Konflikten, ja zum vollen Leben für alle und jeden. Es braucht ein Bündnis aller Disziplinen. Kurz gesagt: eine neue "universitas scientiarum", aus der einst die Renaissance hervorging. Für dieses Ziel möchte ich mich persönlich einsetzen.
Frage: Viele Gläubige empfinden die moralische Lehre der Kirche als lebensfern oder zu rigide. Was antworten Sie jenen, die mehr Empathie und Wirklichkeitsnähe fordern?
Paglia: Wir haben in den letzten Jahren daran gearbeitet, Distanzen zu überwinden. Ich denke konkret an das Buch La Gioia della Vita ("Die Freude des Lebens"), das auf Italienisch, Französisch und Spanisch erschienen ist und demnächst in weiteren Sprachen veröffentlicht wird. Darin hat eine Gruppe von Theologen eine globale Vision dessen entworfen, was theologische Ethik heute ist und wie man auf ethische Fragen ohne vorgefertigte Antworten, sondern im Zeichen ständiger Suche antwortet. Und ich denke an das Buch Etica Teologica della Vita ("Theologische Ethik des Lebens"), das die Ergebnisse eines Kongresses zusammenfasst, bei dem Wissenschaftler und Theologen aus unterschiedlichen Perspektiven La Gioia della Vita gelesen, kommentiert und diskutiert haben. Papst Franziskus sagte uns, dass man Theologie nicht mit einem "Nein" vor Augen betreiben könne. Theologen müssen arbeiten, reflektieren und im Dialog stehen, um zur Weiterentwicklung des Lehramts beizutragen.

"Papst Franziskus sagte uns, dass man Theologie nicht mit einem 'Nein' vor Augen betreiben könne. Theologen müssen arbeiten, reflektieren und im Dialog stehen, um zur Weiterentwicklung des Lehramts beizutragen", so Erzbischof Vincenzo Paglia.
Frage: Was erwarten Sie in diesem Zusammenhang von der nächsten Generation von Theologen und Ethikern?
Paglia: Ich wünsche ihnen, dass sie weitermachen, und zwar in dem Wissen, dass es Kritik und Missverständnisse geben wird. Es gibt leider einen Teil der katholischen Welt, der vielleicht Angst hat, voranzugehen. Doch in der Theologie und insbesondere der Moraltheologie muss es ständige Forschung geben. Das Evangelium bleibt dasselbe, aber die Zeiten ändern sich, und wir müssen in ihnen die Antworten auf die heutigen Fragen suchen. Beispielsweise: Was sagt die Theologie angesichts von Kriegen, Konflikten, Geburtenrückgang, Ungerechtigkeiten, Ungleichheiten? Sind diese von Gott gewollt, wie manche protestantischen Strömungen meinen? Oder sind sie Folge der Kurzsichtigkeit und Gier von uns Menschen? Und was sagt uns das Evangelium dazu? Ich denke an den barmherzigen Samariter und daran, was wir gegenüber Migranten tun müssen. Ich denke an das Thema des Jüngsten Gerichts, wie es im Matthäusevangelium beschrieben wird, und an die vielen Armen, Gefangenen, Ausgegrenzten, Hungernden von heute und zu allen Zeiten. An diesen Fronten ist die Kirche gefordert. Aber ohne den zentralen Punkt unserer Verkündigung zu vergessen – den letzten Satz des Credos: Ich glaube an die Auferstehung der Toten und das ewige Leben. Ohne diesen Glauben gibt es keine christliche Sicht auf das Leben.