"Veronika": Die wahre Legende vom Antlitz Gottes
Ein wahres Bild, die "wahre Ikone" – Vera Ikon, das Antlitz Jesu. Was für eine schöne Legende, deren Hauptperson "Veronika" einen sprechenden Namen hat! Legenden werden meist in einer Schublade knapp unterhalb der Realität abgelegt. "Wenn es nicht wahr ist" - so sagt ein italienisches Sprichwort - "so ist es doch gut erfunden". Es gibt allerdings Wahrheiten, für die müssen wir die Grenze des Sichtbaren übertreten. Wo blieben die großen Wahrheiten ohne solche wahren Erfindungen?
Gott, den Unsichtbaren zu schauen, ist ein himmlisches Sehnsuchtsparadox. Im Buch Exodus (33,18) hatte Mose einmal um das Unmögliche gebeten: "Lass mich doch deine Herrlichkeit schauen!" Gott hat Humor und schlägt ihm seine Bitte nicht ganz ab. Er kommt ihm entgegen indem er an ihm vorüberzieht, ihm aber die Hand vor die Augen hält, seinen "Namen" , sein "Ich bin da" vor ihm ausruft und ihn dann belehrt: "Du kannst mein Angesicht nicht schauen und am Leben bleiben". Jahwe ist da, aber er ist nun mal nicht zu besichtigen. Es ist sein "Name", der bezeugt, dass er da ist, und wie! Eine einzigartige Gleichzeitigkeit von Dasein und Vorenthaltung zeichnet ihn aus. In der großen Segensbitte für Aaron heißt es dann aber doch: "Der 'Ich bin da' lasse sein Angesicht über dich leuchten und sei dir gnädig." (Num 6,25) Das leuchtende Angesicht Gottes einmal doch noch zu sehen, das wäre für Paulus die Erfüllung. Für ihn ist alle Erkenntnis zu Lebzeiten nur verspiegeltes und verrätseltes Stückwerk. Aber einst einmal durch und durch zu erkennen und erkannt zu werden, das sieht er kommen. "Dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht", so heißt es im ersten Korintherbrief (1 Kor 13,12).
"Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen"
In unserer wahren Legende vom wahren Antlitz Jesu entsteht ein Bild auf wunderbare Weise. Es wird nicht "von Menschenhand geschaffen" wie alle Bilder sonst, sondern weil eine Frau mit Jesus leidet. Mitten unter der Folter, auf dem Weg zur Schädelstätte, müssen sich die Blicke getroffen haben, von Angesicht zu Angesicht. Veronika wendet sich diesem Antlitz zu und drückt zur Linderung ein Tuch darauf, um Blut, Schweiß und Tränen zu trocknen. Was auf dem Tuch zurückbleibt, ist echt, die wahre Ikone, das wunderbar echte Bild des göttlichen Antlitzes, von einer Mitleidigen erzeugt, mitten aus Leiden und Mitleiden.
Man kann diese Legende als eine Mischung aus Wundersucht und Neugier abtun. "Wie hat er ausgesehen?" So wird mancher in der jungen Christengemeinde sich und andere gefragt haben. Und wo das Gedächtnis an den Menschen, in dem der Geist Gottes Fleisch geworden war, im Zentrum steht, mag der Gedanke an ein Souvenir nicht weit gewesen sein. Galt eigentlich damals noch das zweite der Zehn Gebote, nach dem es verboten war, sich von Gott ein Bild zu machen?
Aber war es denn ein Gottesbild? "Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen", spricht Jesus im Johannesevangelium (14,9) zu Philippus. Auch der hatte gebeten: "Zeige mir den Vater". Dass der Geist Gottes im Menschenfleisch präsent werden kann, das ist die Botschaft der Inkarnation. Die Geschichte vom Schweißtuch der Veronika kann man als Präzisierung lesen. Wer einem Gequälten Linderung verschafft, sieht das Bild des unsichtbaren Gottes.
In diesen verseuchten Tagen beten wir für die Alten, die man einsam und ohne Beistand hat sterben lassen: Herr zeige ihnen dein Angesicht!