"Simon von Kyrene": Gottes Gegenwart in der Begegnung mit Anderen
Oft hören wir, dass Unfallwagen oder Rettungssanitäter dabei behindert werden, verletzten oder erkrankten Menschen zu helfen. Gaffer und Neugierige blockieren die Rettungswege, machen nicht Platz oder fotografieren an der Unglücksstelle. Was wollen sie mit den Bildern anfangen? Herumzeigen? Freuen sie sich, dass sie nicht betroffen und noch einmal davon gekommen sind? Gefühle zwischen Schadenfreude, gruseligem Schauder und Faszination?
Am Weg eines Delinquenten zu seiner Hinrichtung standen schon von jeher immer Menschen. Nicht anders beim Passionsweg Jesu. Auch hier gab es hämische Gaffer, die nicht nah genug herantreten konnten oder ängstliche Sympathisanten, die sich nicht weiter herantrauten und nur von Ferne ohnmächtig zuschauten.
Die synoptischen Evangelien berichten davon, dass ein zufällig von der Feldarbeit kommender Passant gezwungen wird, einem fremden Verurteilten dabei zu helfen, das Werkzeug seines Todes zu tragen. Er kann nicht sagen: "Nein, mir passt es gerade nicht, bin müde." Die Soldaten der römischen Besatzungsmacht zwingen ihn zu diesem Dienst. Eine schreckliche Art des Helfens – dem anderen sein Kreuz tragen zu müssen! Simon von Kyrene trägt das Kreuz Jesu nach Golgatha. In dem Moment, als er den Balken aufnimmt, kommt ihm erst zu vollem Bewusstsein, welche schwere Bürde man dem gefolterten Delinquenten zusätzlich auferlegt hatte. Wer bloß zuschaut, für den bleibt sie abstrakt.
Es ist nicht überliefert, ob Jesus und Simon in dieser Situation miteinander sprachen. Eine elementare Kommunikation wird sicher stattgefunden haben: Jesus sieht Simon an, Simon sieht Jesus an – was ist da in beiden wohl vorgegangen? Jesus mag ihm einen dankbaren Blick zugeworfen haben, denn Simon ist der letzte Mensch vor seiner Hinrichtung, der, wenn auch unfreiwillig, menschlich an ihm handelte. Alle anderen sind dann seine Folterknechte. Und Simon? Hat er in dem geschundenen Antlitz Jesu mehr erblickt als Blut, Schweiß und Tränen?
Der französische Philosoph Emanuel Levinas macht eine ungewöhnliche Rechnung auf: 1+1=3; sie gilt, wenn wir in das Antlitz eines anderen Menschen schauen. Levinas sagt Antlitz, nicht Gesicht. Antlitz ist mehr als nur die Vorderseite des Kopfes. Antlitz beinhaltet die Essenz, die Würde einer Person, die immer auch als Gottes Ebenbild erkannt werden muss. In Beziehungen unter Menschen ist Gott der imaginäre Dritte. Das gilt für alle Menschen, in besonderer Weise für den Gottes- und Menschensohn. Das gilt auch unter den fürchterlichsten Rahmenbedingungen des Sterbens. So wird der kurze Blicktausch Simons und Jesu zum gegenseitigen, blitzartigen Erkennen des Fremden, des Anderen und zu einer leisen Ahnung von Gottes Gegenwart und von der Verantwortung für den anderen. Simon von Kyrene wird später in der Bibel nicht weiter erwähnt, eventuell haben sich seine Söhne der christlichen Lehre angeschlossen. Aber das innere Bild des Fremden, dem er geholfen hat, den er und der ihn im vollsten Sinn erkannt hat, wird ihn wohl nicht losgelassen haben.
Die Aufforderung "Einer trage des anderen Last" gewinnt in dieser ethischen Mathematik 1+1=3 besonders in diesen schwierigen Zeiten der Coronakrise einen tieferen, spirituellen Sinn.