"Golgota": Ort der dunklen Offenbarung
Und in der neunten Stunde schrie Jesus mit lauter Stimme: Eloï, Eloï, lema sabachtani?, das heißt übersetzt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (Mk 15,34)
Die Kreuzigung Jesu nach dem Evangelisten Markus zeigt ab der dritten Stunde seine zunehmende Entblößung und Vereinsamung. In der sechsten Stunde hält die Zeit vollends an. Finsternis bricht herein und dauert bis zur neunten Stunde. Was geschieht in diesen drei langen Stunden? Auch der Text schweigt hier. Das schafft eine gewaltige Spannung, die dann im Schrei Jesu zum Ausbruch kommt. In diesem Schrei kehrt sich das Innerste nach außen. Er ist deshalb sein deutendes Wort für dieses Geschehen: Verlassenheit. Der, den die Stimme Gottes als den geliebten Sohn anredete, der Gott deshalb im Leben seinen Vater nannte, schreit im Sterben seine Finsternis einem distanzierten und fernen Eloi entgegen. Gottesnacht als grausame Realität.
Am Kreuz schreit Jesus, Gott schweigt, und Jesus haucht den Geist aus. Erst nach diesem Tod in der Finsternis und nach dem Schrei ins Schweigen Gottes wird Gottes Handeln sichtbar: Jetzt zerreißt der Vorhang des Tempels, der symbolische Himmel vor dem Allerheiligsten. Es zerreißt die Grenze von Diesseits und Jenseits. Der Vorhang trennte die Welt von der Heiligkeit Gottes, als es noch galt: „"Kein Mensch kann mich sehen und am Leben bleiben." (Ex 33,20) Jetzt, danach aber, ist jeder Ort Gottes Ort. Das Allerheiligste hat sich an einem anderen Ort geöffnet, den jeder betreten kann. Dieser Ort ist das Gegenteil eines heiligen Tempels: Golgota, ein verfluchter Hinrichtungsort außerhalb der heiligen Stadt, ein Ort menschlichen Richtens und Verurteilens, ein Ort der Finsternis, des Todes und der Gottverlassenheit. Dort geschieht nun die Offenbarung Gottes. Es ist eine dunkle Offenbarung: Gottes Gegenwart im Gekreuzigten und Verlassenen. Und weil der Vorhang endgültig zerrissen ist, spricht nun der Heide aus, was die Jünger nicht erkannten, weil es erst in der Begegnung mit dem Gekreuzigten zu sehen ist: "Dieser Mensch war Gottes Soh." (Mk 15,39) Im Tempel galt: wer Gott sieht, muss sterben. Auf Golgota gilt: Jesus stirbt, damit wir Gott sehen können.
Über diesem Karfreitag 2020 liegt eine Finsternis, und keiner weiß, wie lange sie dauert. Und keiner weiß, welcher Schrei unser Schrei sein wird. Nach wem werden wir schreien? Wonach werden wir schreien? Nach dem Ende der Pandemie, dem Durchhalten des Gesundheitswesens, dem Ende der Angst um unsere Existenz, dem Ende unserer erzwungenen Isolation und Vereinsamung? Dem Ende der Selbstbedrohung durch die Zerstörung der Umwelt? Nach einer neuen Solidarität unter den Menschen und Staaten? Gläubige Menschen richten ihren Schrei an Gott und wissen nicht, ob er ihn hört. Manche erleiden die Finsternis über der Welt auch als eine Nacht ihres Glaubens.
Was hat der Hauptmann auf Golgota gesehen? Einen Menschen, der an seinem Gott festhält, selbst wenn dieser für ihn nicht mehr spürbar, sichtbar ist. Für den Evangelisten ist dies eine Aussage über Jesu radikale Hingabe, Glaubenskraft. Sich diesem Gott radikal überlassen zu können, selbst in die Gottesnacht hinein – das kann nur jemand, dem sich Gott seinerseits ganz und gar überlassen haben muss.
Golgota als Ort der dunklen Offenbarung spricht hinein in die Gottferne dieser Tage. Jesus verliert die Nähe Gottes, und gerade darin macht er sie offenbar und schenkt sie uns. In Jesus, dem Verlassenen, kommt Gott dem Menschen in seiner Verlassenheit ganz nah. Der Vorhang zerreißt ein für alle Mal: Die Trennung zwischen Orten, an denen Gott nahe ist, wie im Tempel, und Orten, an denen er fern ist, wie auf Golgota und allen Orten des Todes, ist hinfällig geworden. Ist die Gottverlassenheit Jesu der Ort der Offenbarung Gottes, kann es nichts mehr geben, was uns von der Liebe Gottes in Christus scheiden kann (vgl. Röm 8,39). Selbst die eigene Gottferne wird zum Ort der Nähe, weil sie uns in den Augen Gottes dem ähnlich macht, der sein geliebter Sohn ist. Für die Augen des Glaubens – die dies freilich als Geheimnis "mit Furcht und Zittern", oder besser: mit bebender Ehrfurcht bewahren mögen – ist die Gottesnacht der Menschen geheiligt durch die Gegenwart des allein Heiligen.