Dem Geheimnis des Weihnachtsfestes durch Corona näherkommen
"Stille Nacht … einsam wacht … nur das traute Paar …". Was wir sonst an Weihnachten in übervollen Kirchen und im Kreis der Familie besingen, müssen viele Menschen in diesem Jahr schmerzhaft am eigenen Leib erleben: In den Seniorenheimen und anderen sozialen Einrichtungen, in denen die Zahl der Infizierten und Corona-Toten am höchsten und die Einsamkeit am größten ist. In den Krankenhäusern, in denen unzählige Erkrankte um ihr Leben ringen und medizinische Fachkräfte bis über die Grenzen ihrer Belastung hinaus arbeiten. Zuhause, wo Kinder und Erwachsene darunter leiden, dass sie Weihnachten nicht als Familienfest feiern können. In den Betrieben, in denen viele um den Arbeitsplatz oder ihre wirtschaftliche Existenz bangen. Auch die Weihnachtsgottesdienste haben einen anderen Charakter als sonst – mit Zugangsbeschränkungen und Abstandsregeln, dafür ohne Heizung und Gemeindegesang. Von hoffnungsvoller Weihnachtsfreude kann da kaum die Rede sein, oder?
Auch ich hätte Weihnachten 2020 lieber wie sonst – im vollen Speyerer Dom und zusammen mit Angehörigen und Freunden – gefeiert. Doch habe ich im Zugehen auf den 25. Dezember immer mehr zu ahnen begonnen, dass wir in diesem Jahr dem Ursprung und Geheimnis dieses Festes vielleicht näherkommen als sonst. Auch Jesus kam ja nicht in der Behaglichkeit der eigenen vier Wände und erst recht nicht im Glanz eines Königspalastes auf die Welt, sondern in der rauen Abgeschiedenheit eines Stalles. Wie sehr bereits die Menschwerdung Jesu auf das bevorstehende Schicksal seines Kreuzestodes verweist, hat der evangelische Theologe und Schriftsteller Jochen Klepper 1938 in einem eher ungewöhnlichen Weihnachtslied ins Wort gebracht, das er unter dem Eindruck der zunehmenden Repressalien des NS-Regimes verfasst hat. Ein Lied, das dem Licht und der Freude der Heiligen Nacht die grausame Realität von Leid und Tod gegenüberstellt und gerade darin die Weihnachtsbotschaft in ihrer ganzen Tiefe und Radikalität zum Ausdruck bringt. Die ersten Strophen lauten:
Du Kind, zu dieser heilgen Zeit gedenken wir auch an dein Leid, das wir zu dieser späten Nacht durch unsere Schuld auf dich gebracht. Kyrieeleison.
Die Welt ist heut voll Freudenhall. Du aber liegst im armen Stall. Dein Urteilsspruch ist längst gefällt, das Kreuz ist dir schon aufgestellt. Kyrieeleison.
Die Welt liegt heut im Freudenlicht. Dein aber harret das Gericht. Dein Elend wendet keiner ab. Vor deiner Krippe gähnt das Grab. Kyrieeleison. (Gotteslob, Nr. 254)
Diese Zeilen zeigen, dass Weihnachten etwas völlig anderes ist als eine kurze heimelige Unterbrechung des beschwerlichen Alltags, viel mehr als das vorübergehende Aufflackern eines Strohfeuers inmitten der dunklen Stunden in unserem Leben. All das wäre kein Grund zu Freude und Hoffnung, weil wir die anschließende Rückkehr in das alltägliche Leben nur umso schmerzlicher erfahren würden. An Weihnachten aber feiern wir, dass Gott sich mit der ganzen Menschheit in all ihrer Endlichkeit, Verwundbarkeit und auch Schuldigkeit aufs Innigste und bleibend verbunden hat. Wir feiern, dass Gott nicht mehr nur vom Himmel auf uns herabsieht, sondern dass er uns ansieht: von Angesicht zu Angesicht. Durch die Augen des kleinen, verletzlichen Kindes in der armseligen Krippe. Und damit zugleich durch jeden Menschen, in dem und durch den er stets aufs Neue Mensch wird, um jedem von uns tröstend und heilend nahe zu sein.
Auch wenn sich die Geburt des Gottessohnes in der Abgeschiedenheit und Schlichtheit des Stalls von Bethlehem ereignet hat, so wurde dadurch ein neuer, größerer, ja universaler Horizont eröffnet. Ein Horizont, der all unsere irdischen Begrenztheiten übersteigt, weil an Weihnachten der Himmel die Erde berührt hat und sie seither nicht mehr loslässt. Ein Horizont, der unseren oft nur auf das Eigene verengten Blick aufreißt und auf den Nächsten, ja auf die ganze Menschheit richtet, mit der Gott in der Geburt seines Sohnes untrennbar eins geworden ist. Ein Horizont, der unser ängstliches Sorgen in hoffnungsvolle Freude, unsere fehlende Zuversicht in neues Vertrauen verwandeln kann, weil auch uns die Zusage des Engels gilt: "Fürchtet euch nicht! Heute ist euch der Retter geboren!"
Viele Menschen machen mir in Zeiten der Pandemie Hoffnung
Mir machen auch und gerade in der Zeit der Pandemie die vielen Menschen – in unserer Kirche, aber auch weit darüber hinaus – Hoffnung, die sich von dieser Botschaft einer neuen, universalen Weite ergreifen lassen und daran ihr Leben ausrichten. In ihrem Reden und Handeln spiegelt sich etwas wider vom unscheinbaren und zugleich machtvollen Glanz des Kindes in der Krippe. In ihrer Solidarität mit Armen und Schwachen wird etwas spürbar von der allumfassenden Liebe Gottes. In ihrer Haltung und ihrem Tun erschließt sich für mich zugleich etwas für unseren Auftrag als Kirche in dieser Zeit der Krise und darüber hinaus. Drei Lernerfahrungen möchte ich – unter dem unmittelbaren Eindruck der Pandemie und damit in aller Vorläufigkeit – herausgreifen. Drei Lernerfahrungen, die allesamt mit der Weitung unseres oft so begrenzten Horizonts zu tun haben und die mich hoffnungsvoll stimmen, auch über die Zeit der Krise hinaus.
Eine erstes: Corona hat unsere Räume geweitet – im wörtlichen Sinn. In unseren Breiten hat sich kirchliches Leben bislang vorrangig in Kirchen, Pfarrheimen oder Bildungshäusern abgespielt. Weil aber in Corona-Zeiten öffentliche Gottesdienste und Gemeindeaktivitäten nur sehr eingeschränkt stattfinden können, werden diese Räume derzeit weit weniger genutzt. Dafür wurden andere Räume neu- oder wiederentdeckt: vor allem Häuser und Wohnungen in ihrer Bedeutung als Ecclesiola, als Hauskirche. Viele Familien und Hausgemeinschaften feiern seit Ausbruch der Pandemie Sonntag für Sonntag Hausandachten, um sich im gemeinsamen Hören auf Gottes Wort, im Beten und Singen stärken zu lassen. Durch Kerzen in ihren Fenstern, durch Krippendarstellungen im Garten oder durch das Singen von Kirchenliedern auf dem Balkon senden sie zugleich Hoffnungszeichen für die Menschen in ihrer Nachbarschaft. Genauso wichtig sind für die Kirche die digitalen Räume geworden. Durch gestreamte Gottesdienste, Podcasts oder Web-Bibeltreffen erleben Menschen trotz räumlicher Distanz Gemeinschaft, in der zugleich etwas von Gottes Liebe erfahrbar wird. Auch wenn Gottesdienste in Kirchen und gemeindliches Leben wesentlich zum Sein der Kirche gehören, ist doch zu hoffen, dass Kirche auch nach Corona in den Lebensräumen über unsere Kirchengebäude und Pfarrzentren hinaus lebendig und erfahrbar bleibt, damit der Glaube immer mehr auch das alltägliche Miteinander der Menschen durchdringt.
Eine zweite Weitung hat Corona mit sich gebracht: ein vertieftes Bewusstsein für den caritativen Auftrag der Kirche. In den ersten Wochen der Pandemie war das Augenmerk vieler kirchlich Engagierter vor allem auf die Aufrechterhaltung des gewohnten kirchlichen, vor allem liturgischen Lebens gerichtet. Die Armut des Stalls von Bethlehem verweist uns jedoch darauf, dass sich die Feier von Weihnachten und damit kirchliches Leben insgesamt nicht nur auf Gottesdienste und auf den Verkündigungsdienst beschränken darf, sondern dass das solidarische Handeln für Menschen am Rande und in Not wesentlich zum Auftrag der Kirche dazugehört. Seit Verhängung des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 haben deshalb allerorts Christinnen und Christen damit begonnen, Einsame und Kranke zu besuchen und für sie Botengänge zu übernehmen, Familien mit Betreuungsproblemen zu unterstützen, Essensausgaben für Bedürftige zu organisieren und vieles andere mehr. Hierzu gehört für mich auch der verantwortungsvolle Umgang mit den geltenden Abstands- und Hygieneregeln, in dem sich ebenfalls die Solidarität mit den besonders gefährdeten Personen in unserer Gesellschaft zeigt. Wie auch umgekehrt jedes klare Nein gegenüber allen, die derzeit lautstark Misstrauen säen gegenüber Hygiene- und Schutzmaßnahmen, Impfstoffen und der Berichterstattung in den Medien. In all dem verwirklicht sich der Auftrag von Kirche, Zeichen und Werkzeug des Heils zu sein und zum Aufbau einer menschlicheren und friedlicheren Welt beizutragen.
Noch eine dritte Weitung möchte ich nennen, die mit den ersten beiden Lernerfahrungen aufs Engste verbunden ist: Ein noch tieferes Gespür dafür, dass nicht nur hauptamtliche Seelsorgerinnen und Seelsorger kirchliches Leben tragen und gestalten, sondern dass alle Gläubigen gemeinsam verantwortlich sind für die Weitergabe des Glaubens. Viele der genannten Neuaufbrüche und Aktivitäten in der Corona-Zeit sind aus dem eigenverantwortlichen Engagement zumeist von Ehrenamtlichen vor Ort – oft im ökumenischen Schulterschluss, worin eine zusätzliche Weitung der konfessionellen Grenzen zu sehen ist – erwachsen, ohne dass zuvor ein Amtsträger seine Erlaubnis gegeben oder ein kirchliches Gremium darüber befunden hat. Auch hierin wird aufs Neue deutlich, wie sehr der universale Horizont des Geheimnisses der Menschwerdung alle äußeren Hierarchien und Abgrenzungen durchbricht, Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit zusammenbindet und zum gemeinsamen Handeln ermutigt.
Gewohnheiten und Strukturen wurden aufgebrochen
All das zeigt mir: Corona hat zwar auf den ersten Blick das kirchliche Leben deutlich eingeschränkt. Zugleich wurde dadurch unser oft so begrenzter, in Gewohnheiten und Strukturen gefangener Horizont aufgebrochen und weiter gespannt. Dies gilt mit Blick auf die Räume, in denen sich kirchliches Leben ereignet. Mit Blick auf die konkreten Vollzüge, in denen Kirche erfahrbar wird. Und mit Blick auf die Personen, die der Kirche – und damit Gott selbst – ihr Gesicht und ihre Hände geben. Diese Erfahrungen der Weite geben mir Hoffnung in Zeiten, in denen uns unsere Begrenztheit und Ohnmacht deutlich vor Augen stehen. Sie lassen mich darauf vertrauen, dass auch in der aktuellen Erfahrung von Einsamkeit, Angst und Verzweiflung Gott selbst verborgen da ist und uns sein Mensch gewordenes Wort der Hoffnung zusagt: "Fürchte dich nicht! Heute ist dir der Retter geboren!"
An Weihnachten stehen wir vor der Krippe und sind berührt von dem Gott, der sich aus solidarischer Liebe zu uns so verletzbar macht wie ein kleines wehrloses Kind. Corona ist ein Einschnitt in der Menschheitsgeschichte. Auch wenn wieder eine weitgehende "Normalität" eintreten wird, bleiben doch die wunden Spuren, die uns unsere globale Verletzbarkeit gezeigt haben. So wie die Wunden auch noch den auferstandenen Christus prägen. In unserem Glauben werden diese Wunden nicht verdrängt, sondern zur größten Lernerfahrung: Sie können in eine neue Vision des Lebens verwandelt werden. Sie können ihre Bitterkeit verlieren, weil unser Horizont geweitet wurde für eine bessere, solidarischere, menschlichere Welt. So schauen wir über Weihnachten hinaus auf das, was unserem Glauben die stärkste Antriebsfeder zum Handeln gibt: auf den wiederkommenden Christus, der die Wunden der ganzen Schöpfung heilt. Und wir können mit Jochen Klepper die letzte Strophe seines so wunden und doch tief erlösten Weihnachtsliedes singen:
Wenn wir mit dir einst auferstehn und dich von Angesichte sehn, dann erst ist ohne Bitterkeit das Herz uns zum Gesange weit. Hosianna!