Pro und Contra: In der Corona-Pandemie Weihnachtsgottesdienste feiern
Pro: Gerade in der Krise brauchen wir Momente der Hoffnung
Er gehört zu Weihnachten einfach dazu: Der Besuch der Weihnachtsmesse oder des Krippenspiels an Heiligabend ist für viele Menschen ein wichtiges Ritual. Der Kirchgang ist selbst für nicht wenige Fernstehende ein fester Bestandteil des Festes. Jahr für Jahr platzen die Gotteshäuser an Weihnachten sprichwörtlich aus allen Nähten, weil so viele Gläubige – seien sie nun praktizierende Katholiken oder Kulturchristen – die Geburt Jesu feiern wollen. Daher ist es verständlich, dass vor dem Christfest die Stimmen derer lauter werden, die eine Aussetzung der Gottesdienste fordern – gerade angesichts eines neuen "harten Lockdowns", wie er von Bund und Ländern gestern beschlossen wurde.
Dabei sollten die Kritiker der offenen Kirchen eines nicht vergessen: Schon jetzt, im "Lockdown light", sind Gottesdienste wie andere öffentliche und private Versammlungen zunächst verboten. Nur wenn die strengen Abstands- und Hygieneregeln eingehalten werden sowie die Bistümer, Landeskirchen und Gemeinden ein Konzept zum Schutz vor einer Ansteckung mit Corona erarbeitet haben, dürfen Messen, Andachten und Co. stattfinden. Das Leben jenseits der Liturgie ist in den Pfarreien hingegen weitgehend heruntergefahren worden, weil Katechese, Gruppenstunden und Kirchenkaffee nicht mehr angeboten werden dürfen. Das ist ein schwerer Schlag, insbesondere für Kinder, Senioren und alle anderen, denen diese Treffen ihren Alltag bunt und lebenswert gemacht haben.
Experten stärken kirchlichen Schutzkonzepten den Rücken
Die kirchlichen Schutzkonzepte sind gut durchdacht, was gerade erst die wissenschaftlichen Experten der Leopoldina bestätigt haben. Die Richtlinien haben sich zudem nach mehreren Monaten in der Praxis bewährt und werden von den Gesundheits- und Ordnungsämtern kontrolliert. Es mag Gemeinden geben, die sich nicht an die erarbeiteten Richtlinien halten, doch das sind lediglich Ausnahmen – schließlich sind Gottesdienste der evangelischen und katholischen Kirche bislang nicht zu Ansteckungsherden geworden. Es gibt keine Zweifel daran, dass das auch an Weihnachten so bleiben wird, denn viele Pfarreien haben schon vor Wochen damit begonnen, die Gottesdienste rund um den Heiligen Abend zu planen: Frühzeitige Hinweise in der Lokalpresse, Anmeldebögen und die bewährte Mundpropaganda haben alle Interessierten bestens informiert. Bei den Gottesdiensten werden Haupt- und Ehrenamtliche Plätze anweisen und die Einhaltung der Regeln überprüfen – und das, obwohl sie wahrscheinlich selbst lieber das Fest in Kreise ihrer Lieben feiern würden. Teilweise werden für Senioren eigene Andachten angeboten, für die sie die Altenheime zu ihrem eigenen Schutz nicht verlassen müssen. Außerdem ist es angebracht, den Gläubigen, die zur Risikogruppe gehören, zu raten, die Weihnachtsmesse im Fernsehen oder Internet zu verfolgen.
All das zeigt: Die Weihnachtsgottesdienste werden in einem sicheren Rahmen stattfinden – wenn auch nicht so, wie aus den letzten Jahren gewohnt. In der Pandemie ist Kreativität gefragt, um möglichst vielen Gläubigen das Mitfeiern zu ermöglichen. Es muss kein pastoraler Kraftakt im Sinne des Münchener Pfarrers Schießler sein, der ein Dutzend Heilige Messen nacheinander feiert. Vielmehr bieten sich Kurz-Andachten auf dem Marktplatz, vor der Kirche oder einem anderen Ort an, an dem ausreichend Abstand zu den anderen Anwesenden gewährleistet ist. Im ländlichen Bereich sind etwa Gottesdienste wie im Autokino oder Krippenspiele in großen Scheunen denkbar.
In der Mannigfaltigkeit dieser Ideen zeigt sich nicht etwa kirchlicher Trotz, die Gotteshäuser unbedingt offenlassen zu wollen, während Fitness-Studios und Theater schließen mussten. Die Kirche wäre schlecht beraten, die im Grundgesetz verankerte Religionsfreiheit als Privileg vor sich herzutragen und sie etwa gegen kulturelle und sportliche Angebote auszuspielen. Der sehnsüchtige Wunsch vieler Menschen nach der Feier von Weihnachten ist ein Widerschein der großen Bedeutung, die das Fest in unserem Kulturkreis hat. Mitten in der dunklen Jahreszeit – in diesem Jahr durch Corona noch dunkler als sonst – benötigen wir einen Hoffnungsschimmer, die frohe Botschaft, dass Einschränkung, Krankheit und Tod nicht das letzte Wort haben. Diese gerade in der Krise so wichtige Hoffnung wird am besten in der Gemeinschaft, in der Liturgie erfahrbar. Deshalb müssen die Kirchen auch an Weihnachten mit Gottesdiensten belebt werden.
Contra: Für den Nächsten verzichten
Weihnachten mag nicht das wichtigste christliche Fest sein (das ist Ostern), das beliebteste ist es auf jeden Fall: Weit verstreute Familien treffen sich an diesem Termin, Verwandte und Bekannte werden besucht – emotional ist der Wert des Weihnachtsfestes nicht zu überschätzen. Allem Mitgliederschwund der Kirchen zum Trotz gehört für viele ein Gottesdienst zum Weihnachtsfest dazu – und wenn es nur einmal im Jahr ist. Soll jetzt auch dieser letzte Faden wegen Corona reißen? Soll den Halt und Gemeinschaft Suchenden auch noch der Gottesdienst an Heiligabend genommen werden?
An Ideen zur Gottesdienst-Rettung mangelt es nicht: Ganz kleine Gottesdienste an unterschiedlichen Orten, Freiluftmessen und sogar einen zwölf-Stunden-non-Stop-Gottesdienst. Außerdem gibt es flächendeckend Hygienemaßnahmen – und nicht zuletzt steht die Religionsfreiheit sogar im Grundgesetz! Auf der anderen Seite stehen allerdings ein harter Lockdown, mittlerweile jeden Tag fast 30.000 Neuinfektionen und viele hundert Tote. Unter diesen Voraussetzungen muss sich der Wille nach einem Weihnachtsgottesdienst rechtlich wie jesuanisch anfragen lassen.
Rechtlich gesehen ist das Recht auf freie Religionsausübung mit aller Berechtigung einer der Grundpfeiler unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft: Dass der Artikel ziemlich weit vorne steht und schrankenlos gewährt wird (Art. 4 Abs. 2 GG: "Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet"), zeigt dessen Relevanz. Doch die Religionsfreiheit ist kein Selbstzweck und steht nicht im luftleeren Raum. Denn nur zwei Artikel vorher (Art. 2 GG) gibt es das Recht auf "Leben und körperliche Unversehrtheit". Und auch, wenn katholische und evangelische Gottesdienste bisher nicht als Superspreader-Events aufgefallen sind, bedeuten sie doch für jeden Einzelnen, eine Stunde im gleichen Raum mit zahlreichen weiteren Personen zu verbringen. In einer Zeit, in der so viele Kontakte wie möglich unterlassen werden sollen, ist auch ein Gottesdienst ein Risiko, besonders für die vielen Älteren dort. Jeder Besucher kann das Virus sowohl in den Gottesdienst hineinbringen wie es auch daraus mitnehmen. Hier muss zwischen Grundrechten abgewogen werden. Angesichts zahlreicher Übertragungen und der vielen tiefen Einschnitte in anderen Teilen der Gesellschaft ist es vertretbar, auf Gottesdienste mit persönlicher Anwesenheit zu verzichten.
Nächstenliebe statt formelhafter Ritualvollzug
Auf der anderen Seite steht nun die jesuanische Perspektive auf die momentane Situation – und damit wiederum eine Abwägung: Wie viel ist der Gottesdienstbesuch wert, wenn er mit so großen Risiken für die Mitmenschen verbunden ist? Ein kurzer Blick in die Bibel zeigt die Haltung Jesu in einer solchen Situation: "Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, sein Herz aber ist weit weg von mir" (Mt 15,8), sagt er etwa mit Blick auf allzu leicht verabsolutierte Überlieferungen. Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht umgekehrt: Nicht der formelhafte Vollzug eines Rituals steht für Jesus im Mittelpunkt, sondern gelebte Nächstenliebe. Dieses Jahr an Weihnachten ist deshalb Demut angesagt: Lieber auf ein liebes Ritual, die eigene Glaubensstärkung verzichten und dafür etwas für den Nächsten tun – und darin die Glaubensstärkung finden.
Denn die Nächstenliebe ist beim Pandemie-Weihnachten wichtiger denn je: "Ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen" (Mt 25,36). Wer sich sonst in der Gottesdienstvorbereitung engagiert hat, kann diese Zeit 2020 nutzen, um vielleicht zwei oder drei einsame, arme, vergessene Menschen anzurufen und ihnen Zeit zu widmen. Damit ist die Weihnachtsbotschaft ebenso weitergetragen wie in einem Gottesdienst.
Auf Gottesdienste zu verzichten heißt auch nicht, die Kirchen zu schließen: Für das persönliche Gebet oder das traditionelle Krippengucken sollen sie geöffnet sein – aber eben ohne große Versammlungen darin zu ermöglichen. Der Kirchbesuch an Corona-Weihnachten heißt dann vielleicht nicht, die ganze Nachbarschaft in der Messe zu treffen, sondern für alle Lieben ein Gebet zu sprechen oder eine Kerze anzuzünden. Es kann ein stilles Weihnachten werden, das die karge Botschaft des geborenen Erlösers ohne durchkommerzialisierten Trubel in die wahrlich stille Nacht hineinflüstert. Unsere Ohren sollten dafür offen sein.