Gottesdienste an Weihnachten? "Religionsfreiheit ist nicht grenzenlos"
Zur Bekämpfung der Corona-Pandemie wird auch immer wieder die Freiheit der Religionsausübung eingeschränkt: Höchstteilnehmerzahlen, Abstandsgebote, Maskenpflicht und Regeln für Gesang – und in einigen Landkreisen in Sachsen wurde zumindest zeitweise sogar das Austeilten der Kommunion untersagt. "Wir sind sehr verwundert darüber. Das ist ein klarer Übergriff in das Recht auf freie Religionsausübung", sagte der Görlitzer Bischof Wolfgang Ipolt zum Kommunionverbot. Welchen Spielraum hat der Staat, Regeln für Gottesdienste zu formulieren? Und wie sollten die Kirchen damit umgehen? Der Göttinger Staatskirchenrechtler Hans Michael Heinig rät zur Gelassenheit – und mehr Vertrauen in Expertenwissen.
Frage: Herr Heinig, einige Landkreis in Sachsen hatten den Kommunionempfang in Gottesdiensten zunächst untersagt, nach Protesten wurde das wieder zurückgenommen. Grundsätzlich gefragt: Überschreitet der Staat mit solchen Anordnungen seine Kompetenz?
Heinig: Die Religionsfreiheit ist nicht grenzenlos gewährt. Zum Schutz von Grundrechten Dritter und anderen Verfassungsgütern kann sie eingeschränkt werden, sogar massiv. Das haben wir schon an Ostern gesehen, als es zu flächendeckenden Eingriffen kam, indem religiöse Versammlungen komplett verboten worden sind. Und natürlich können auch Teilhandlungen im kultischen Bereich verboten werden. Wir sind jetzt in einer verglichen mit dem Frühjahr deutlich dramatischeren Infektionslage in einigen Teilen Deutschlands, insbesondere auch in Sachsen. Sobald man in ein exponentielles Wachstum kommt, sobald droht, dass intensivmedizinische Versorgung nicht mehr gewährleistet ist, dass unser Gesundheitssystem kollabiert, sobald harte Triage droht, sind äußerst einschränkende Maßnahmen im Bereich religiöser Freiheit möglich.
Frage: Der Unmut der Kirchen, den auch Bischof Ipolt zum Ausdruck gebracht hat, liegt wohl daran, dass kleinteilig ausgerechnet das im Wortsinn Allerheiligste geregelt wurde. Ist es klug vom Verordnungsgeber, so vorzugehen?
Heinig: Wahrscheinlich wollte er den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren und hat sich gedacht, bevor wir ein generelles Versammlungsverbot erlassen, verbieten wir nur die Teile des Gottesdienstes, die aus der Infektionslogik heraus besonders gefährlich sind. Und das ist nun einmal die direkte persönliche Begegnung, wie sie beim Überreichen der Kommunion – gar in den Mund hinein! – stattfindet, der Bereich, in dem es um die geteilte physische Präsenz des Heiligen geht.
Frage: Das ist die Infektionslogik. Aber die religiöse Logik ist eine andere.
Heinig: Aber der Gesetzgeber muss sich nicht einfach die religiöse Logik eins zu eins zu eigen machen. Er verfolgt einen legitimen Zweck, den Infektionsschutz, und betrachtet das Geschehen aus dieser säkularen Perspektive. Natürlich gibt es dabei Grenzen. Die wäre zum Beispiel erreicht, wenn der Staat sagen würde, dass die Kommunion eigentlich gar nicht so wichtig und eine ordentliche Predigt eh viel mehr wert sei. Eine solche "Zwangsprotestantisierung" würde zu weit gehen. Dann würden Verpflichtungen der Neutralität, der Säkularität, des religiösen Freiheitsschutzes verletzt. In der staatlichen Regulierung an die objektive Gefährlichkeit einzelner Bestandteile des Gottesdienstes anzuknüpfen, scheint mir dagegen gerechtfertigt zu sein.
Frage: In Nordrhein-Westfalen wurde die Sprachregelung gefunden, dass sich Religionsgemeinschaften an den Regeln der Corona-Verordnung "orientieren" und ihre eigenen Regeln dem Land vorlegen. Ist das ein gangbarer oder sogar besserer Weg, Religionsfreiheit und Infektionsschutz zum Tragen kommen zu lassen?
Heinig: Das klingt nach der Koordinationslehre aus den 1950er Jahren oder zumindest nach dem traditionellen Korporatismus der alten Bundesrepublik bis 1989: Staat und Kirche stehen nebeneinander, niemand soll die Hoheit über den jeweils anderen Bereich haben. Kooperation und Verständigung haben Vorrang vor Subordination und einseitige Regelungen. Wir beobachten inzwischen in den Ländern und auf Bundesebene sehr unterschiedliche religionspolitische Strategien in Deutschland: Die einen betonen stärker, dass Religion ein Politikfeld wie jedes andere ist, das gewissen staatlichen Regulierungen unterliegt und deshalb die normalen Infektionsschutzregelungen auch auf religiöse Belange Anwendung finden, die anderen versuchen – wie in der guten alten Bundesrepublik – die Probleme mit Aushandlung zu traktieren. Das ist ein freiheitsschonender Weg, der gut funktioniert, wenn der Staat auf religiöser Seite verlässliche Partner hat, die er gut kennt, die behördlich durchorganisiert sind und die auch eine gewisse hierarchische Binnenorganisation haben, so dass man sich darauf verlassen kann, dass das, was an Regeln vorgelegt wird, vor Ort auch wirklich implementiert wird. Wir sind aber nicht mehr in den 1950er und auch nicht in den 1980er Jahren, die religiöse Landschaft ist ausgesprochen vielfältig geworden. Wir haben auch mit vielen kleineren religiösen Organisationen zu tun, die ganz anders als die beiden immer noch großen Kirchen organisiert sind. Die NRW-Lösung kann ein möglicher Weg sein, aber ich kann auch verstehen, dass man in der Logik des Infektionsschutzes andere Wege geht.
Frage: Was wäre denn bei der NRW-Variante im Konfliktfall? Ein gleichgeordnetes Nebeneinander von Kirche und Staat käme da an die Grenzen.
Heinig: Die Frage ist, wer effektiv nachhalten will, dass vorgelegte Hygienepläne implementiert werden. Bei Nichtimplementierung müsste eine Sanktionierung erfolgen. Das Instrumentarium kennen wir im Prinzip aus dem Bereich der Kultur und der Gastronomie. Dort gab es auch bereichsspezifische Verhaltensregeln, die den örtlichen Verhältnissen angepasst und dann vorgelegt werden mussten. Wenn die nicht eingehalten wurden, konnte der Staat zu Sanktionen greifen. Der Staat rückt damit quasi in die zweite Reihe. Aber ihn trifft eine Letztverantwortung und er sollte auch einen gewissen Rahmen vorgeben. Ungewöhnlich ist die Durchsetzung staatlichen Rechts auch gegenüber religiösen Akteuren ja nicht: Die baurechtlichen Regeln zur Abwehr von Brandgefahren finden auch auf Gottesdiensträume Anwendung. Da braucht es auch einen Fluchtweg und es dürfen dort nicht einfach leichtentflammbare Gegenstände gelagert werden. Es gehört zur Normalität des Rechtsstaates, dass auch der religiöse Bereich vom Infektionsschutzrecht erfasst wird.
Frage: Immer noch wird viel mit Verordnungen gearbeitet. Wenn Grundrechte wie Religionsfreiheit betroffen sind: Ist das angemessen? Bräuchte es nicht eher Parlamentsgesetze?
Heinig: Der Bundesgesetzgeber hat mit dem § 28a Infektionsschutzgesetz immerhin eine deutlich konkretere Rechtsgrundlage für die Rechtsverordnungen geschaffen. Noch besser wäre es, wenn er für besonders sensible Grundrechtsbereiche ausformulierte Einzelermächtigungen vorgelegt hätte. Davon wollte er aber Abstand nehmen. Die Sorge im Hintergrund ist da offensichtlich, mit parlamentarischer Gesetzgebung nicht genug Flexibilität im System zu haben. Ob diese Sorge berechtigt ist, steht auf einem anderen Blatt, mir scheinen die Verordnungen jedenfalls im Moment auf dieser gesetzlichen Grundlage so gerade noch verfassungsrechtlich zulässig zu sein.
Frage: "So gerade noch" ist nicht viel. Was wäre aus Ihrer Sicht der ideale gesetzliche Rahmen, um Religionsfreiheit und Infektionsschutz zum Tragen kommen zu lassen?
Heinig: Es gibt im Moment kein Ideal. Das müssen wir an den Anfang stellen. Es gibt nur das Hineintasten. Diejenigen, die mit einer religiösen Option leben, haben vielleicht auch einen größeren Sinn dafür, was es heißt, in einer noch nicht erlösten Welt zu leben. Das bezieht sich dann auch auf die Pandemiebekämpfung. Menschen sind nicht allwissend, wir tasten uns heran an neue Lebenslagen, wir machen Fehler – als Individuen und auch als politisches Kollektiv. Als Menschen werden wir zwangsläufig schuldig. An unserem Nächsten und an uns selbst. Die weltliche Pointe dieser theologischen Einsicht ist doch, dass auch der Staat keine diesseitige Erlösungsleistung erbringen kann. Er wird sie auch nicht bei der Pandemiebekämpfung erbringen. Wir werden immer wieder Fehler machen oder die Balance nicht richtig treffen.
Frage: Und wie sollte man politisch damit umgehen?
Heinig: Was wir brauchen, ist eine öffentliche Diskussion, kritisches Bewusstsein, Sinn seitens der Handelnden, dass bei aller Dramatik angesichts der sehr hohen Todeszahlen das Anliegen des effektiven Infektionsschutzes trotzdem immer wieder mit legitimen Freiheitsinteressen abgeglichen werden muss. Leben in Würde meint mehr als der Kampf um das blanke Überleben. Zugleich ist das biologische Leben aber die Grundlage dafür, dass sich Leben in gelingenden sozialen Vollzügen ereignen kann.
„Man beweist als Bürgerin, als Bürger seine Mündigkeit auch darin, dass man Expertenwissen anerkennt und nicht einfach leugnet.“
Frage: Dazu kommt noch eine naturwissenschaftliche Dimension, die es zu berücksichtigen gilt.
Heinig: Politische Entscheidungen hängen gerade in hohem Maße vom Fachwissen der Epidemiologie ab. Das haben nur wenige. Eine moderne, arbeitsteilig organisierte Gesellschaft muss Expertenkulturen an dieser Stelle auch vertrauen können.
Frage: Das klingt unbefriedigend. Menschen wollen selbst handeln und entscheiden.
Heinig: Man beweist als Bürgerin, als Bürger seine Mündigkeit auch darin, dass man Expertenwissen anerkennt und nicht einfach leugnet. Die freiheitliche Demokratie ist auf ein Mindestmaß an politischer Vernunft angewiesen. Politische Vernunft ist angesichts von Klimakrise und globaler nicht ohne naturwissenschaftliche Rationalität zu haben. Wir sind eine Gesellschaft geworden, in der viele selbstbezüglich in kurzen Befriedigungszyklen leben. Das wird durch die Pandemie irritiert. Für ein höheres Gut werden wir von liebgewonnenen Gewohnheiten Abstand nehmen müssen. Wir können jetzt nicht so Weihnachten feiern, als ob es kein Morgen mehr gäbe. Der Staat, aber auch die Kirchen müssen stärker als bislang vom Gegenwartsbezug in den Modus der Zukunftssicherung wechseln.
Frage: … und im Zweifelsfall jetzt wieder zu härteren Maßnahmen greifen?
Heinig: Das heißt im Zweifel, so hart das ist, dass nach Ostern auch an Weihnachten Präsenzgottesdienste ausfallen müssen. Die Kirche besteht ja auch nicht nur aus gottesdienstlichen Versammlungen, so zentral sei sind. Die Kirche und damit letztlich alle Gottesdienstbesucher verantworten zugleich Krankenhäuser und Altenheime. Sie hat auch eine Verantwortung gegenüber den ihr Anvertrauten in diesem Bereich, sowohl für das Personal wie für die Bewohnerinnen und Patienten. Wenn ich dann daran denke, was wir jetzt schon den Pflegerinnen und Pflegern, den Ärztinnen und Ärzten zumuten, dann tun alle, die ihr Leben christlich deuten, gut daran, die immer mit in den Blick und ins Gebet zu nehmen. Und das heißt eben auch, auf den liebgewordenen Heiligabendgottesdienst in traditioneller Form zu verzichten, damit, überspitzt gesagt, die Intensivstation im kirchlichen Krankenhaus nicht kollabiert.
Frage: Diese Gelassenheit, die sie als Christ haben, können Sie die als Staatsrechtler auch haben? Oder gefährden die Kirchen mit einer zu großen Gelassenheit ihren Status und ihre Rechte in der Zeit nach der Pandemie?
Heinig: Diese Krise ist ein Brennglas und ein Katalysator. Manches beschleunigt sich, was wir an Entwicklungen ohnehin haben, manches sehen wir genauer. In der ganz großen Tendenz sehen wir eine immer stärkere säkulare Prägung der Gesellschaft. Die Räume für religiöse Autonomie werden kleiner. Weltliche Rechtsgüter bekommen in Konkurrenz zu religiösen Freiheitsinteressen größeres Gewicht. Diese Entwicklung setzte lange vor Corona ein und möglicherweise beschleunigt sie sich nun. Diese Krise macht etwas mit uns, auch mit der Kalibrierung unserer Freiheitsordnung. Wir wissen aber noch nicht, was genau. Wenn ich mir die großen Herausforderungen im kirchlichen Feld anschaue, sehe ich die eigentlichen Herausforderungen der Zukunft aber jenseits der Folgen von Corona liegen: die Erosion der mitgliedschaftlichen Substanz, der fortschreitende Traditionsabbruch, das adäquate Aufarbeiten eigenen Versagens etwa beim Missbrauchsthema. Das sind die deutlich größeren Herausforderungen. Im Vergleich dazu sind die staatskirchenrechtlichen Folgelasten der Corona-Krise für die Institution Kirche Petitessen.