Ein Liebesbrief an Romane und Poesie

Warum der Papst mehr Literatur in der Priesterausbildung will

Veröffentlicht am 07.08.2024 um 00:01 Uhr – Von Christoph Brüwer – Lesedauer: 

Bonn ‐ Mit seinem Brief "Über die Bedeutung der Literatur in der Bildung" outet Papst Franziskus sich als Bücherwurm. Gerade Priester und Priesteramtskandidaten sollten mehr lesen, wünscht sich das Kirchenoberhaupt – und ruft zu einem "radikalen Kurswechsel" auf.

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Eine "ernsthafte intellektuelle und spirituelle Verarmung der künftigen Priester" droht der Kirche, fürchtet Papst Franziskus. Und dafür macht das Kirchenoberhaupt einen spezifischen Grund aus: "Generell muss man jedoch mit Bedauern feststellen, dass in der Ausbildung derjenigen, die sich auf dem Weg zum geweihten Amt befinden, die Beschäftigung mit der Literatur derzeit keinen angemessenen Platz einnimmt." (Nr. 4) Für angehende Priester hat das weitreichende Konsequenzen, warnt der Papst: Ihnen fehlt ein privilegierter Zugang zu den Herzen der Menschen.

Die Worte, mit denen Franziskus die Literaturvergessenheit der Priesterseminare verurteilt, sind deutlich. Wie wichtig ihm das Thema Literatur ist, erkennt man auch daran, dass der am Wochenende überraschend veröffentlichte Brief "Über die Bedeutung der Literatur in der Bildung" zehn Seiten lang ist und in acht Sprachen publiziert wurde. Nicht wenige Beobachter werten das Dokument als Liebeserklärung des Papstes an die Literatur. Und Papst Franziskus weiß, wovon er schreibt.

"Für Bergoglio sind Literatur und Kunst Leben"

"Für Bergoglio sind Literatur und Kunst Leben", schreibt Jesuit Antonio Spadaro in einem Beitrag über den Brief in der italienischen Zeitung "La Repubblica". Schon bei einem Gespräch kurz nach dessen Papstwahl habe er erkannt, dass Franziskus "ein Mensch ist, der Poesie und künstlerischen Ausdruck als integralen Bestandteil seiner Spiritualität und Seelsorge erfährt", so Spadaro. Der Untersekretär im Dikasterium für Bildung und Kultur gilt als Papstvertrauter, ist selbst Essayist, war lange Jahre Chefredakteur der Jesuitenzeitung "Civilta Cattolica" – und wird im Literaturbrief von Franziskus gleich mehrfach zitiert. Und tatsächlich schreibt Franziskus sehr persönlich über das Thema Literatur. Er berichtet von seinen Erfahrungen als Literaturlehrer an einer Jesuitenschule in Argentinien zwischen 1964 und 1965. Als die Schüler das vorgegebene Werk nicht studieren wollten, gab der damals 28-jährige Bergoglio ihnen auf, das Buch zuhause zu lesen. Im Unterricht sprachen sie stattdessen über Bücher, die die Jugendlichen lesen wollten. "Letztlich sucht das Herz nach mehr, und jeder findet seinen eigenen Weg in die Literatur", fasst der Papst seinen didaktischen Ansatz zusammen.

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Und der Bücherwurm Franziskus verrät auch gleich seinen eigenen Literaturgeschmack: "Ich zum Beispiel liebe tragische Künstler, weil wir alle ihre Werke als unsere eigenen empfinden können, als Ausdruck unserer eigenen Dramen." (Nr. 7) Wer über die Schicksale der Figuren weine, weine gleichzeitig über die eigene Leere, Unzulänglichkeiten und Einsamkeit. Aber nicht alle müssten die gleichen Bücher lesen wie das Kirchenoberhaupt. "Jeder wird die Bücher finden, die sein eigenes Leben ansprechen und zu wahren Wegbegleitern werden."

Eine spirituell ausgerichtete Theorie des Lesens

Dass der Papst in seinem Brief keinen Kanon von im katholischen Sinn lesenswerter Literatur vorschlägt oder auf der anderen Seite – wie bis vor einigen Jahrzehnten üblich – sogar andere Werke verbietet, hält Religionspädagoge Markus Tomberg für bemerkenswert. "Franziskus bietet hier eine spirituell ausgerichtete Theorie des Lesens, die keine Angst mehr davor haben muss, dass bestimmte Bücher beispielsweise gefährlich, zu trivial, verführerisch oder Schund seien", sagt Tomberg.

Der Papst hat dabei auch den Rezeptionsprozess beim Lesen im Blick: Leserinnen und Leser schulen Sprache, Wortschatz, Fantasie und Ausdrucksfähigkeit (Nr. 16), sie reichern das Gelesene darüber hinaus auch mit ihren eigenen Erfahrungen an und werden so zu Ko-Autorinnen und -Autoren der Texte (Nr. 17). Literatur bedeutet aus Sicht des Papstes, "die Stimme von jemandem" zu hören (Nr. 20). Oder etwas bildhafter ausgedrückt: "So tauchen wir ein in die konkrete, innere Existenz des Obstverkäufers, der Prostituierten, des Kindes, das ohne die Eltern aufwächst, der Frau des Maurers, der alten Frau, die immer noch glaubt, ihren Prinzen zu finden." (Nr. 36)

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Bei dieser Meta-Beschreibung und Liebeserklärung an Literatur und Lesen bleibt das Kirchenoberhaupt aber nicht stehen. Franziskus möchte mit seinem Brief nicht weniger als einen "radikalen Kurswechsel" in der Priesterausbildung anregen (Nr. 5). Wie der Papst am Anfang schreibt, war das die eigentliche Motivation für das Verfassen des Briefs. Erst später habe er darüber nachgedacht, die Aussagen auf die persönliche Reifung aller pastoralen Mitarbeitenden und Christen zu beziehen.

Warum dem Papst mehr Literatur in der Priesterausbildung so wichtig ist? "Die Aufgabe der Gläubigen und insbesondere der Priester besteht gerade darin, das Herz der Menschen von heute zu 'berühren', damit sie angerührt werden und sich für die Verkündigung Jesu, des Herrn, öffnen, und in diesem Bemühen ist der Beitrag, den die Literatur und die Poesie leisten können, von unschätzbarem Wert." (Nr. 21). Die Literatur sei dazu da, "Bilder des Lebens zu 'entwickeln', um nach ihrem Sinn zu fragen", schreibt Franziskus. "Sie dient, kurz gesagt, dazu, das Leben wirklich zu erfahren."  

Literatur wird zum "Übungsort"

Das passt zu Franziskus' Ansatz. Er sieht sich und alle Priester in erster Linie als Seelsorger, die nahe bei den Menschen sind, sie mit ihren Verwundungen und Ecken und Kanten annehmen. Deutlich wurde das beispielsweise in seiner Antwort auf die Dubia von fünf Kardinälen im vergangenen Jahr. Statt dogmatisch klarer Ja- oder Nein-Antworten rief er zu "pastoraler Klugheit" und "Unterscheidung" auf – ein typischer Jesuiten-Ansatz. Denn der Orden steht seit jeher den Künsten nahe. Auch den "belles lettres", also der schönen Literatur: In ihr sieht der Papst die Möglichkeit, Herzen und Verstand der "künftigen Hirten" für diese Unterscheidung zu bilden (Nr. 41): Literatur wird für Papst Franziskus zu einem "Übungsort, in dem der Blick geschult wird" (Nr. 32). Wer liest, begibt sich damit aus Sicht von Franziskus auf "unsicheres Terrain", wo die "Grenzen zwischen Heil und Verderben nicht a priori festgelegt und getrennt sind" (Nr. 29).

Priesterseminaristen
Bild: ©stock.adobe.com/wideonet (Symbolbild)

Im Hinblick auf die Priesterausbildung vollzieht Papst Franziskus in seinem Literatur-Brief einen Perspektivwechsel.

Religionspädagoge Tomberg sieht in den Ausführungen des Papstes einen "Primat der Anderen", der das in vielen Priesterseminaren und auch katechetischen Entwürfen immer noch geläufige Konzept der Formatio, der Formung der Persönlichkeit, hinterfragt. Die "Ratio Fundamentalis Institutionis Sacerdotalis" zur Priesterausbildung von 2016 formuliere mit Blick auf die ästhetische Bildung noch: "Im Rahmen der menschlichen Formung darf die Ästhetik nicht vernachlässigt werden. Es ist eine Unterweisung anzubieten, die es ermöglicht, verschiedene künstlerische Formen und Ausdrucksweisen kennenzulernen. Der 'Sinn für das Schöne' muss geschult werden." Hier wird der Perspektivwechsel des Papstes deutlich: "Nicht das Schöne, sondern die oder der Andere steht im Mittelpunkt – und das darf dann nicht nur für die Bedeutung 'der Literatur im Rahmen der Ausbildung der Priesteramtskandidaten' gelten, sondern ganz grundsätzlich", sagt Tomberg.

"Lektüre ist eine Übung für Synodalität"

Der Fuldaer Religionspädagoge erkennt in den Ausführungen des Papstes aber auch einen anderen theologischen Schwerpunkt des Pontifikats. "Wenn man genau hinschaut, klingt hier das Synodalitätskonzept des Papstes an", sagt Tomberg, der selbst der Jury des Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreises angehört. Wie beispielsweise auch im Zusammenhang mit der Weltsynode, betont Franziskus auch in seinem Literatur-Brief die Bedeutung des Zuhörens und der geistigen Entscheidung. "Lektüre ist eine Übung für Synodalität, und gerade deshalb sind die fremden, die ungewöhnlichen, sogar die langweilig scheinenden Texte wichtig – und zu lesen."

Dass gerade die Sommerzeit Lesezeit ist, ist auch Papst Franziskus nicht verborgen geblieben. "Oft wird in der Langeweile des Urlaubs, in der Hitze und Einsamkeit verlassener Stadtviertel ein gutes Buch zu einer Oase, die uns von anderen Entscheidungen, die uns nicht guttun, abhält." (Nr. 2). Insofern ist auch die Veröffentlichung des Briefs mitten in der päpstlichen Sommerpause vielleicht nicht weiter verwunderlich. Am Mittwoch endet die Sommerpause und die wöchentlichen Generalaudienzen werden wieder aufgenommen. Das Plus an Freizeit wollte Franziskus nach eigener Aussage übrigens dazu nutzen, mehr zu schlafen, mehr zu beten, mehr Musik zu hören und – wenig erstaunlich – mehr zu lesen.

Von Christoph Brüwer