Populistische Stimmungsmache gegen Migranten löst keine Probleme
Das Thema Migration dominiert den Wahlkampf zur Bundestagswahl am 23. Februar, aber die damit verbundenen Herausforderungen werden oft holzschnittartig vereinfacht – zulasten der Menschen und der Menschlichkeit. Dieser Zwischenruf möchte mit Blick auf die öffentliche Debatte nachdenklich machen ...
In dem Thema Migration treffen sehr unterschiedliche menschliche Geschichten und Erfahrungen und ebenso verschiedene Aufgaben für die politische Steuerung, für die Ausgestaltung der Migrations- und Integrationspolitik aufeinander. Die internationale Migration wirft Fragen auf, die jeweils nicht nur ein Land und seine nationale Politik betreffen – und die deshalb allenfalls teilweise auf der Ebene nationaler Politik gelöst werden können. Internationale Migration macht Nöte und Probleme, Hoffnungen und Überlebensstrategien der Menschen aus anderen Weltgegenden zu einem Teil der Realität in den Zielländern, also auch in Deutschland.
Migration als grenzüberschreitendes Phänomen der globalisierten Welt
Denn Migration gehört zu den grenzüberschreitenden Phänomenen der globalisierten Welt und sie ist – mindestens in Teilen – selbst eine Folge der globalen Dynamiken, die das Leben der Menschen überall, jedoch mit unterschiedlicher Dramatik, verändern: Die Herausforderungen des Klimawandels und der ökologischen Krise machen nicht Halt an nationalen Grenzen. Wirtschaftliche Dynamiken und Konflikte überschreiten strukturell und gezielt politische Grenzen. Politische Macht- und Hegemonieansprüche ignorieren immer wieder Menschenrechte bestimmter Personen(gruppen) und nicht selten auch die Souveränität nationaler Staaten – siehe etwa Russlands Krieg gegen die Ukraine.
„Um Migration werden in der Öffentlichkeit Stellvertreterdebatten geführt. Migrantinnen und Migranten und Geflüchtete werden pauschal zu Sündenböcken für ungelöste Probleme gemacht.“
In solchen Fällen überziehen sie ganze Gesellschaften mit Gewalt und Krieg und treiben Menschen in großer Zahl in die Flucht. Arbeitsmigration, Armuts- und Klimamigration, Flucht vor Gewalt und Krieg – um einige der dominierenden Formen zu nennen – sind die menschliche Kehrseite globaler Dynamiken; sie sind oft Ausdruck von Not und Unterdrückung, aber sie zeugen auch von menschlicher Initiative, von Mut und Widerstandskraft.
Die Herausforderungen und Zumutungen der Zuwanderung beunruhigen viele Menschen in Deutschland, nähren Sorgen vor Überforderung und vor sozialer Ungerechtigkeit. Ein Beispiel dafür ist die Konkurrenz um Wohnraum in einer Situation, die von drastischem Wohnungsmangel geprägt ist. Wenn manche laute Stimmen den Problemdruck vor allem der Zuwanderung und damit letztlich den Migranten selbst anlasten, ist das eine krasse Problemverschiebung: Dass es in Deutschland viel zu wenig bezahlbaren Wohnraum gibt, daran sind nicht "die Migranten" oder "die Geflüchteten" Schuld, sondern eine seit Jahrzehnten politisch fehlgesteuerte Wohnungswirtschaft.
Um Migration werden Stellvertreterdebatten geführt
Das Beispiel zeigt: Um Migration werden in der Öffentlichkeit Stellvertreterdebatten geführt. Migrantinnen und Migranten und Geflüchtete werden pauschal zu Sündenböcken für ungelöste Probleme gemacht und damit – mindestens rhetorisch – aus dem Land getrieben. Der aggressive Tenor, in dem das Thema öffentlichkeitswirksam intoniert wird, ist einer vernünftigen, sozial gerechten Fortentwicklung dieser Politikfelder nicht dienlich. Die einen inszenieren alles, was mit Migration zu tun hat, als Angst- und Horrorthema, das von Ablehnung, dem Willen zu Abschottung und Ausschließung geprägt ist und blanken Hass schürt. Wer sich davon leiten lässt, ist fast reflexartig bereit, unbekümmert um tatsächliche Gegebenheiten "Fremde", "Ausländer", Migrantinnen und Migranten herabzuwürdigen, zu kriminalisieren, in manchen Fällen gar mit physischer Gewalt zu bedrohen.
Ja, es gibt Zugewanderte, die Unruhe und Gewalt stiften. Es gibt Terroristen, und es gibt radikale ideologische Kräfte, die Menschen mit einer Zuwanderungsgeschichte erreichen und gezielt radikalisieren. Dagegen muss sich unsere Gesellschaft mit allen rechtsstaatlichen Mitteln schützen, mit dem Strafrecht, auch durch Ausweisung von schweren Straftätern. Aber eine pauschale Verdächtigung von Migranten und Migrantinnen, vor allem von solchen mit einem muslimischen Hintergrund, missachtet die Menschen, führt in die Irre und spaltet die Gesellschaft. Das gilt auch für die oft voreilige, zuweilen mutwillige Unterstellung bei Straftaten, dass die Täter einen migrantischen Hintergrund hätten.
Aus der Geschichte der "Gastarbeiter" wäre noch viel zu lernen
Die anderen reduzieren den Umgang mit Migration auf ein Nutzenkalkül: Es geht von der offenkundigen Tatsache aus, dass in Deutschland qualifizierte Fachkräfte dringend benötigt werden, um die Wirtschaft in Gang zu halten und eine Vielzahl von Dienstleistungen aufrecht erhalten zu können. Migrantinnen und Migranten, die hervorragend ausgebildet sind und am besten auch sehr gut deutsch sprechen, werden deshalb als Fachkräfte gesucht. Willkommen sind sie aber auch dann nur bedingt: Für die Zu- und langfristige Einwanderung werden hohe Hürden gefordert. Die Voraussetzungen werden je nach politischem Standort mehr oder weniger restriktiv formuliert. Die Zuwandernden müssen über einen langen Zeitraum beweisen, dass sie mehr nutzen als kosten, dass sie die Sozialsysteme nicht belasten, ehe ihnen Mitwirkungsrechte und ein Anspruch auf soziale Sicherheit zugestanden werden soll. Man kann den Eindruck gewinnen, die hartnäckig gegen die Realität verteidigte politische Doktrin des 20. Jahrhunderts, Deutschland sei "kein Einwanderungsland", regiere nach wie vor viele Köpfe.
Um nicht missverstanden zu werden: Zu Recht unterliegt Einwanderungspolitik – anders als humanitäre Hilfe für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge sowie politisch Verfolgte – den Interessen des aufnehmenden Staates und seiner Gesellschaft. Dazu gehören prominent auch volkswirtschaftliche Gesichtspunkte. Wenn aber die Kriterien, an denen sich die politische Steuerung der Einwanderung orientiert, auf den Bedarf an Arbeitskräften enggeführt werden, bestehen zwei Gefahren: Zum einen leidet die gebotene Fairness gegenüber den Menschen, die als Arbeits- und Fachkräfte kommen. Ihr Beitrag zur Gesellschaft und ihre Bedürfnisse als Mitglieder dieser Gesellschaft (mit oder ohne vollen Bürgerstatus) werden nicht anerkannt. Zum anderen leidet der Zusammenhalt der Gesellschaft, weil die politische Aufgabe der gesamtgesellschaftlichen Integration einer vielfältigen Bevölkerung (nicht nur der Zugewanderten in diese Gesellschaft) unterschätzt wird. Aus der bundesrepublikanischen Geschichte der "Gastarbeiter" in den 1950er bis 1970er Jahren wäre hier immer noch viel zu lernen.
„Ob in einer Gesellschaft die Menschenwürde für jeden Menschen geschützt und verteidigt wird, entscheidet sich nicht zuletzt am Umgang mit den Migrantinnen und Migranten.“
Die seit Jahren populistisch genährte, antimigrantische Stimmungslage beeinflusst die "Migrationswirklichkeit" in unserer Gesellschaft erheblich. Sie nährt teils unverhohlen, teils etwas subtiler den überwiegend nicht gerechtfertigten Verdacht, Zuwandernde beanspruchten ungerechtfertigter Weise "unsere Sozialsysteme". Sie verschleiert die Vielschichtigkeit der Migrationsgesellschaft mit Blick auf die arbeits-, bildungs- und sozialpolitischen Herausforderungen ebenso wie sie den positiven Beitrag vieler Migrantinnen und Migranten zum Funktionieren, zum Zusammenhalt und zur Weiterentwicklung unserer Gesellschaft missachtet.
In welcher Gesellschaft wollen wir heute und in Zukunft leben?
Das Thema Migration wird völlig überbeansprucht, wenn der Eindruck erweckt wird, eine möglichst restriktive Migrationspolitik würde die Probleme des Landes lösen. "Die Migranten" zum Sündenbock für Vieles, ja für fast alles zu machen, was nicht gut läuft, ist ebenso wohlfeil wie ungerecht. Und es werden wichtige Ressourcen eines guten Zusammenlebens geschwächt: die Bereitschaft, Menschen unabhängig von ihrer Herkunft wertschätzend zu begegnen; ein Sinn für Humanität, der nicht von ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit, Hautfarbe oder Nationalität abhängt. Wenn wir zulassen, dass die Anerkennung als "Gleiche" denjenigen Menschen verweigert wird, die als "anders" oder "fremd" wahrgenommen werden, nehmen wir in Kauf, dass dies bald auch andere Personengruppen treffen kann – sei es wegen ihres Glaubens oder ihrer Überzeugungen, wegen ihrer geschlechtlichen oder sexuellen Identität oder wegen einer Beeinträchtigung.
Der Umgang mit Migranten und Migrantinnen stellt uns vor die grundlegende ethische Frage, wie und in welcher Gesellschaft wir heute und in Zukunft leben wollen, wie wir hierzulande, als Teil einer Weltgesellschaft, Gerechtigkeit, Freiheit, Menschlichkeit und Lebensqualität verwirklichen wollen. Im Herbst 2021 veröffentlichten die christlichen Kirchen eine Stellungnahme zum Thema unter der Überschrift "Migration menschenwürdig gestalten". Der Titel ist Programm: Ob in einer Gesellschaft die Menschenwürde für jeden Menschen geschützt und verteidigt wird, entscheidet sich nicht zuletzt am Umgang mit den Migrantinnen und Migranten. Wo die Zuwandernden nicht menschenwürdig behandelt werden, steht Humanität als ganze auf dem Spiel. Das sollte auch im Wahlkampf und in den Entscheidungen an der Wahlurne nicht vergessen werden.
Die Autorin
Marianne Heimbach-Steins (*1959) ist Professorin für Christliche Sozialwissenschaften und sozialethische Genderforschung an der Universität Münster. Seit 2009 leitet sie das dortige Institut für Christliche Sozialwissenschaften und ist Herausgeberin des Jahrbuchs für Christliche Sozialwissenschaften. Sie forscht unter anderem zu Menschenrechtsethik, Ethik der Migration und zu Geschlechterfragen. Außerdem hat sie eine Studie zur Kritik der Programmatik der AfD mitverantwortet, die 2024 veröffentlicht wurde.