Sozialethische Zwischenrufe zur Bundestagswahl – Teil 4

Ein Richtungswahlkampf mit prekären Aussichten

Veröffentlicht am 24.01.2025 um 00:01 Uhr – Von Matthias Möhring-Hesse – Lesedauer: 

Tübingen ‐ Prekäre Regierungskoalitionen sind nach Ansicht des Tübinger Sozialethikers Matthias Möhring-Hesse "das neue Normal" in Deutschland. Ein Grund zur Sorge sei das zwar nicht. Die demokratischen Parteien seien aber umso mehr gefordert, bei allen inhaltlichen Differenzen dennoch bündnisfähig zu bleiben.

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Dass wir bereits am 23. Februar zur Bundestagswahl gerufen werden, verdanken wir dem vorzeitigen Ende der Ampelkoalition. Schon viele Monate vor deren Ende hatten viele auf das Scheitern der Koalition spekuliert – und viele, auch aus den beteiligten Parteien, hatten es ersehnt. Entsprechend erleichtert waren viele, als die Koalition Anfang November, dann doch ein wenig überraschend, beendet wurde: Die Zeit des prekären Regierens ist endlich vorbei; der ständige Streit in der Regierung und zwischen den sie tragenden Parteien hat ein Ende, die wechselseitigen Blockaden der Regierungsparteien untereinander auch.

Dass aus der Wahl eine "verlässliche", eine stabile und weniger zerstrittene Regierungskoalition hervorgehen wird, ist aber wenig wahrscheinlich. Bekanntlich wird die Bundesregierung nicht direkt durch die Wahl, sondern durch den neu gewählten Bundestag bestimmt. Sollten es die Parteien, die in aktuellen Meinungsumfragen bei fünf Prozent liegen, in den nächsten Bundestag schaffen, dann braucht es für eine Regierungsmehrheit voraussichtlich wieder eine Koalition aus drei Parteien – und zwar aus Parteien, die im gegenwärtigen Wahlkampf gegeneinander opponieren. Wenn nur wenige Parteien in das Parlament einziehen, sind – mit Blick auf die aktuellen Meinungsumfragen – nur zwei Zweiparteienkoalitionen wahrscheinlich, beide mit einer agonalen Konstellation aus den Unionsparteien auf der einen und entweder SPD oder den Grünen auf der anderen Seite. Anders als die Großen Koalitionen früherer Zeiten oder die schwarz-grünen Regierungen in einigen Bundesländern werden diese Zweierkoalitionen ähnlich widerstreitend und deshalb ähnlich unberechenbar sein, wie es die Ampelkoalition in den vergangenen drei Jahren gewesen ist. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird es also nach der Bundestagswahl erneut zu einer prekären Koalition kommen. Mehr noch: Vermutlich sind prekäre Regierungskoalitionen das neue Normal.

"Radikale" Parteien mindern die Entschlusskraft des Bundestags

Im politischen System der Bundesrepublik sammelt sich die politische Entschlusskraft im Parlament; von dort her wird die vom Parlament bestellte Regierung mit Durchsetzungskraft versorgt. Sind mehr Parteien, zumal mehr "radikale" und antagonistische Parteien im Parlament vertreten, mindert dies die Entschlusskraft des Bundestags. Was im Parlament kontrovers debattiert, aber nicht mit überzeugender Mehrheit beschlossen wird, muss in der Regierung ausgehandelt werden. Dadurch gewinnt diese nicht an Durchsetzungskraft, sondern verliert sie. An der Ampelregierung haben wir genau das erlebt.

„Die Leistungsbilanz der Ampelregierung ist deutlich besser als ihr Ruf. Wichtige Reformen, die sie sich vorgenommen hatte, sind ihr gelungen.“

—  Zitat: Matthias Möhring Hesse

Durch die hohe (und womöglich weiter steigende) Anzahl von Abgeordneten aus der extrem rechten, sich weiter radikalisierenden AfD wird diese Entwicklung weiter verstärkt. Denn diese Partei soll nicht an der Regierung beteiligt werden; auch sollen deren Abgeordnete keinen Einfluss auf die Regierungsbildung oder auf die parlamentarischen Entscheidungen haben. Damit fällt ein relevanter Teil des Parlaments schlichtweg aus. Zwar wird über die AfD ein anti-demokratisch gestimmter Teil der Bevölkerung repräsentiert und damit im Bundestag sichtbar. Indem sie aber diese Stimmung in das Parlament trägt und indem sie entsprechend destruktiv wirkt, belastet sie die Arbeit des Bundestags. Wiederum wird dadurch dessen Entschlusskraft gemindert – und in der Folge auch die Durchsetzungskraft der vom Parlament bestellten Regierung.

Mit der Aussicht auf eine prekäre Koalition sollten wir einen Rückblick auf die vergangene Ampelkoalition nehmen. So können wir besser verstehen, was uns erwartet. Zunächst einmal: Die Leistungsbilanz der Ampelregierung ist deutlich besser als ihr Ruf. Wichtige Reformen, die sie sich vorgenommen hatte, sind ihr gelungen – und dies teilweise gegen massiven Widerspruch aus den Ländern oder von Teilen der Gesellschaft. Vor allem aber hat die Ampelregierung akute Krisen bewältigen können, nicht zuletzt die durch den russischen Angriffskrieg ausgelöste Energiekrise. Sie hat Deutschland in Solidarität mit der Ukraine gehalten – und zwar so, dass über die Politik der "Zeitenwende" eine breite gesellschaftliche Zustimmung bestand. Nach den Erfahrungen mit der Ampel müssen wir kommende prekäre Regierungskoalitionen nicht fürchten. Mit dieser neuen Normalität scheint die Demokratie in der Bundesrepublik klarzukommen.

Lehrreiches Scheitern der Ampelregierung

Lehrreich ist auch das Scheitern der Ampelregierung. Wissend um ihre Differenzen hatten sich die beteiligten Parteien auf ein gesellschaftspolitisches "Fortschritts"-Programm verständigt, konnten sich aber darauf nicht fokussieren, als die großen Krisen der Gegenwart auf sie einbrachen. Hinzu kam, dass das Bundesverfassungsgericht die für das "Fortschritts"-Programm notwendigen Investitionen aus einem dafür vorgesehenen Haushaltstopf verbot. Dadurch wurde die Staatsfinanzierung zu einem ihrer größten Probleme – und dies, obgleich man von Beginn an wusste, dass man in dieser Frage kein Einvernehmen erzielen wird. Die Ampel wäre eine starke Koalition für die Agenda gewesen, die sie sich selbst gesetzt hatte – nicht aber stark genug für die Umstände, die auf sie zukamen. Weil auch künftige Koalitionen die Umstände beherrschen müssen, in denen sie regieren, wird man auch für die Zukunft mit dem Aufbrechen tief liegender Differenzen zwischen Regierungsparteien und dem Scheitern von Regierungen rechnen – und dies auch dann, wenn diese bestens vorbereitet und abgesprochen wurden. Auch damit wird die Demokratie in der Bundesrepublik klarkommen.

Gescheitert ist die Ampel vor allem am Unmut derer, die die beteiligten Parteien gewählt hatten. Das Wahlvolk vermochte es 2021 nicht, zueinander passende Parteien mit einer hinreichenden Mehrheit auszustatten. Aus dieser Not wurde die prekäre Regierungskoalition aus SPD, Grünen und FDP notwendig. Was sich die Wähler:innenschaft erwählte, trugen die Wähler:innen der jeweiligen Parteien nicht, wenigstens nicht über den Verlauf der Legislaturperiode. Denn sie hatten ihre Parteien für eine Politik gewählt, die diese in der Ampelkoalition nicht oder bestenfalls in Kompromissen und nach zermürbenden Konflikten umsetzen konnten. In den folgenden Wahlen auf anderen politischen Ebenen haben sie ihre Parteien dafür abgestraft. Diese Niederlagen konnten die Regierungsparteien kaum aushalten – zumal die FDP nicht, die dadurch aus Landesparlamenten fiel. Damit sollte man auch für künftige prekäre Regierungskoalitionen rechnen: Parteien in prekären Koalitionen werden von ihren Wähler:innen bestraft, weil sie nicht "liefern" können, was diese erwarten. Ihre Koalitionen bestehen nur so lange, wie die Parteien ihre Abstrafung aushalten – oder "Gegengifte" dazu finden.

Bild: ©Hartmuth Schröder

Professor Matthias Möhring-Hesse ist Lehrstuhlinhaber für Theologische Ethik und Sozialehtik an der Universität Tübingen.

Im gegenwärtigen Wahlkampf bieten die Parteien genau die eindeutigen, kompromisslosen Angebote, die ihre Wähler:innen von ihnen verlangen. SPD und Grüne werben darum, ihre Politik eindeutiger als in den vergangenen drei Jahren umsetzen zu können – und versprechen viel von dem, woran sie an der FDP gescheitert sind. Die Unionsparteien kündigen einen Politikwechsel an – und versprechen, nicht nur die Ampel "ungeschehen" zu machen, sondern gleich auch viel von dem, was in der Regierungszeit von Angela Merkel erreicht wurde. Auf diese Seite schlägt sich die FDP – und verrät mit ihrem Angriff auf den "links-grünen Mainstream" (Christian Lindner) zugleich die Regierung, an der sie bis vor wenigen Monaten beteiligt war. Die Wähler:innen haben in dieser Bundestagswahl tatsächlich die Wahl zwischen unterschiedlichen Politikangeboten – und dies auch jenseits des von der AfD vertretenen völkischen Extremismus.

Dass die Wähler:innen eine echte Wahl haben, ist im Interesse einer lebendigen Demokratie gut. Doch es ist zugleich problematisch, insofern die Parteien nicht auf prekäre Koalitionen vorbereiten, denen sie vermutlich angehören werden, sollten sie in Regierungsverantwortung kommen. Wofür werden die Parteien stehen, wenn sie zusammen mit anderen Parteien regieren müssen, die für deutlich anderes stehen? Dass sie auf diese Frage keine Antwort geben, gilt nach meinem Eindruck insbesondere für die Unionsparteien: Den angekündigten Politikwechsel werden sie nicht durchsetzen können, wenn sie mit SPD oder Grünen regieren müssen. Weil aber genau das aller Wahrscheinlichkeit eintreten wird, sollten die Unionsparteien sagen können, was es statt des angekündigten Politikwechsels geben wird. Zur Transparenz auf die Politik "nach" der Wahl trägt nicht bei, wenn Koalitionen "ganz felsenfest" (Markus Söder) ausgeschlossen werden, von denen man weiß, dass sie alternativlos sind.

Alle Parteien stehen vor einem Paradox

Mit Aussicht auf eine prekäre Regierungskoalition stehen alle Parteien vor einem Paradox: Sie müssen eindeutige Angebote für ihre Regierungsarbeit machen, die ihre Wähler:innen überzeugen; und sie müssen zugleich sagen können, mit welchen Kompromisslinien sie diese in einer Koalition aus programmatisch unterschiedlich gestimmten Parteien umsetzen werden. Anspruchsvolle Wähler:innen sollten ihre Parteien daraufhin prüfen, ob sie diesem Paradox Rechnung tragen und wie und in welcher Richtung sie es aufzulösen suchen.

Prekäre Regierungskoalitionen werden in allen Ländern notwendig, wo extrem rechte Parteien größere Zustimmung erhalten. Über ihre programmatischen Differenzen hinweg müssen demokratische Parteien zusammenfinden, damit niemand von ihnen "gezwungen" wird, mit einer extrem rechten Partei zu koalieren und diese dadurch in die Regierungsverantwortung zu bringen. Nun sehen wir in Österreich, dass dies keine theoretische Gefahr, sondern eine realistische Möglichkeit ist: Zu Beginn des Jahres sind die Koalitionsgespräche zwischen ÖVP, SPÖ und Neos gescheitert. Das Unvermögen zu einer prekären Regierungskoalition könnte nun zu einer Koalition der ÖVP mit der FPÖ und damit zur "Machtübernahme" der extremen Rechten führen.

„Politische Versprechen, die für potenzielle Koalitionspartner unannehmbar sind, machen es nach der Wahl unwahrscheinlich, demokratische Parteien in einer Koalition zusammen zu bringen.“

—  Zitat: Matthias Möhring Hesse

Wer diese Möglichkeit für die Bundesrepublik ausschließen will, sollte wissen: Im Wahlkampf geht es für die demokratischen Parteien nicht nur darum, nach der Wahl mit einem möglichst starken Mandat in Koalitionsverhandlungen zu treten. Es geht zugleich darum, andere Parteien nach der Wahl davon überzeugen zu können, dass man eine seriöse Koalitionspartnerin ist, dass man mit ihr in Koalition treten kann, ohne eigene Anliegen aufgeben und eigene Wähler:innen verprellen zu müssen. Im Wahlkampf müssen sich demokratische Parteien also auch für andere demokratische Parteien sympathisch machen. Ob dafür polarisierende Aussagen wie etwa aus der CSU und der FDP hilfreich sind, darf bezweifelt werden.

Was sollten wir von uns Wähler:innen erwarten?

Wichtiger noch: Politische Versprechen, die für potenzielle Koalitionspartner unannehmbar sind, machen es nach der Wahl unwahrscheinlich, demokratische Parteien in einer Koalition zusammen zu bringen. Das gilt zumal für Versprechen, die hart an der Grenze dessen oder sogar diesseits dieser Grenze liegen, was die Parteien der extremen Rechten vortragen. All dies macht das Unwahrscheinliche wahrscheinlicher, dass man nämlich zur Koalition mit der AfD genötigt wird, mit der man – vor der Wahl aus guten Gründen – jedwede Zusammenarbeit ausgeschlossen hatte.

Was sollten wir mit Aussicht auf eine prekäre Koalition von uns Wähler:innen erwarten? Von den Parteien sollten wir nicht nur eindeutige Angebote auf unsere Anliegen fordern, sondern auch seriöse Hinweise darauf, wie sie diese Angebote in einer prekären Koalition verfolgen werden. Ferner sollten wir unter uns dafür werben, dass möglichst viele ihre Stimme für eine der demokratischen Parteien geben, die miteinander in eine, wenngleich prekäre Koalition treten können. Schließlich sollten wir Parteien nicht dafür bestrafen, dass sie die undankbare Aufgabe einer prekären Regierungskoalition übernommen, die Mühen der ständigen Kompromisssuche getragen und unüberbrückbare Differenzen zwischen den Koalitionspartnern ausgehalten haben. Wähler:innen sollten die Fähigkeit von Parteien prüfen, prekäre Koalitionen einzugehen und durchzuhalten und sie sollten Parteien wählen, denen sie genau dies zutrauen.

Von Matthias Möhring-Hesse

Der Autor

Matthias Möhring-Hesse (*1961) ist Professor für Theologische Ethik/Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen.