Sozialethische Zwischenrufe zur Bundestagswahl – Teil 7

Das Bürgergeld als soziale Hängematte? Warum dieser Vorwurf falsch ist

Veröffentlicht am 14.02.2025 um 00:01 Uhr – Von Bernhard Emunds – Lesedauer: 8 MINUTEN

Frankfurt am Main ‐ Das Bild vom faulen Arbeitslosen, der es sich in der sozialen Hängematte bequem macht, hält sich hartnäckig – gerade in Wahlkampfzeiten. Und doch hat es mit der Realität wenig zu tun, so der Sozialethiker Bernhard Emunds. Gerade zum Bürgergeld seien viele Falschinformationen in Umlauf.

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Wirtschaftliche Schwächephasen sind schlechte Zeiten für "kleine Leute". Nach der Corona-Krise hatte Deutschland ökonomisch schnell wieder Fuß gefasst. 2023 jedoch ist das Land in eine Rezession abgerutscht, aus der es bis heute nicht herausgefunden hat. So werden aktuell vom Zustand der deutschen Wirtschaft vor allem Katastrophenbilder und Untergangsszenarien gemalt, ganz wie in der Rezession 2002/2003. Vor allem jedoch nimmt, wie vor gut zwanzig Jahren auch, die Zahl der Arbeitslosen deutlich zu – dieses Mal allerdings von einem viel niedrigeren Niveau aus (Arbeitslose 2022: 2,4 Millionen; 2001: 3,9 Millionen) und mitbedingt durch den Bürgergeld-Bezug vieler Geflüchteter aus der Ukraine. Zugleich mehren sich, wie damals, die Stimmen, die in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, die soziale Absicherung von Arbeitslosen gleiche hierzulande einer Hängematte, in der es sich zahllose arbeitsscheue Leistungsempfänger bequem gemacht hätten.

Parteien zielen mit ihren Wahlkampfstrategien vor allem auf die Mitte. Diese imaginieren die Parteiprogramme zur Bundestagswahl vorrangig als engagierte Erwerbstätige, die ehrlich Steuern und Abgaben zahlen. Die FDP etwa bezieht den von ihr so hochgeschätzten Begriff der Leistung auch auf die Beschäftigten und würdigt sie als "diejenigen, die mit ihrer Leistung Solidarität überhaupt erst möglich machen". Nach einem patriotischen Vorspann startet die Union ihre Vorstellung des Regierungsprogramms gleich mit einer "Agenda für die Fleißigen". Die SPD schließlich wirbt um die Gunst der "arbeitenden Mitte". Wer zu dieser von ihr hofierten Mitte nicht dazugehört, ob es dabei vor allem um Reiche geht, die von ihrem Vermögen leben, oder um Empfänger von Sozialleistungen, die nicht erwerbstätig sind, das bleibt offen. Sicher nicht zufällig.

Vor allem das Bürgergeld wird heftig kritisiert

Heftig kritisiert wird vor allem das Bürgergeld. Steine des Anstoßes sind der Name, die Einschränkung der Sanktionspraxis gegenüber den bis 2022 geltenden Hartz-IV-Regeln und die Höhe der Leistung. Skandalisiert werden dabei vermeintlich faule Arbeitslose – in einer Rezession, also bei steigenden Fallzahlen, ein "Aufregerthema", das viele Parteien für sich zu nutzen suchen. So nehmen Forderungen zum Bürgergeld in den Parteiprogrammen der Union und der FDP breiten Raum ein. Beim TV-Duell am 9. Februar traten Kanzler Olaf Scholz und Kandidat Friedrich Merz in einen regelrechten Überbietungswettbewerb, wer denn nach der Wahl die arbeitsunwilligen Arbeitslosen am härtesten sanktionieren würde. Keine vergleichbaren Ankündigungen hört man aktuell von den Grünen und von der Linken. Letztere propagiert in ihrem Wahlprogramm sogar den Umbau des Bürgergelds "in eine sanktionsfreie Mindestsicherung".

Aufgrund eines gemeinsamen Beschlusses der Ampel-Parteien mit der Union waren Anfang 2023 das Arbeitslosengeld II und das Sozialgeld in Bürgergeld umbenannt worden. Der Namenswechsel sollte den Leistungsbezug entstigmatisieren. Aber genau dies weckte und weckt Widerstände in der Gesellschaft. Viele sehe es so: Wenn jemand im erwerbsfähigen Alter nicht von seiner Arbeit lebt, sondern vom Staat bezahlt wird, dann stellt dies einen Makel dar. "Bürgergeld" dagegen klingt nach etwas Selbstverständlichem oder gar Ehrenhaftem.

„Mit dem neuen Namen verbinden viele einen grundsätzlichen Systemwechsel in der Sozialpolitik. Aber das ist falsch.“

—  Zitat: Bernhard Emunds

Mit dem neuen Namen verbinden viele einen grundsätzlichen Systemwechsel in der Sozialpolitik, nämlich den Wechsel von einer bedarfsbezogenen Grundsicherung, die gegenüber Erwerbseinkommen und Sozialversicherungsansprüchen nachrangig gewährt wird, zu einem bedingungslosen Grundeinkommen. Aber das ist falsch. Zwar war es in den Debatten des Jahres 2022 um einige weitreichende Reformvorschläge gegangen. Aber was 2023 dann wirklich geändert wurde, war vor allem der Name der Grundsicherung. Die Regelungen dagegen blieben im Wesentlichen erhalten: für die erwerbsfähigen Arbeitslosen (1,7 Millionen), für die "Aufstocker", die das Bürgergeld ergänzend zu einem niedrigen Arbeitseinkommen beziehen (0,8 Millionen), für Erwerbsfähige, die vor allem aufgrund von Sorgeverpflichtungen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen (2,1 Millionen), und für Kinder und Jugendliche, die mit einer Person aus einer der anderen Gruppen zusammenleben (1,8 Millionen). Institutionelle Veränderungen gab es fast ausschließlich in Details.

Lediglich zwei der beschlossenen Reformschritte sind etwas substanzieller. Zum einen soll bei der Begleitung erwerbsfähiger, aber arbeitsloser Bürgergeldempfänger das vorrangige Ziel der Jobcenter nicht die möglichst schnelle Vermittlung, sondern die Vermittlung in eine dauerhafte Arbeitsstelle sein. Gibt es prekäre Jobs, die dem Leistungsempfänger voraussichtlich nur für kurze Zeit "Lohn und Brot" verschaffen würden, und zugleich Qualifizierungsmöglichkeiten, die ihm den Zugang zu sichereren Arbeitsstellen erschließen könnten, dann dürfen die Jobcenter-Mitarbeiter seit 2023 auf Qualifizierung setzen. Die Weiterbildung wird dabei auch mit einem kleinen Bonus gefördert.

Schwächen Neuregelungen den Aspekt des "Forderns"?

Zum anderen gibt es in den ersten sechs Monaten des Bürgergeldbezugs keine Sanktionen. Damit soll es dem jeweils zuständigen Mitarbeiter der Jobcenter erleichtert werden, mit dem arbeitslosen Bürgergeldempfänger ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, um gemeinsam mit diesem die für eine dauerhafte Integration in Erwerbsarbeit notwendigen Schritte zu planen und einzuleiten. In den Augen der Bürgergeld-Kritiker schwächen diese beiden Regelungen massiv den Aspekt des "Forderns", der vor 20 Jahren bei der Einführung des Arbeitslosengelds II verstärkt worden war.

Union und FDP kritisieren zudem die Höhe des Bürgergelds für erwerbsfähige Arbeitslose (Regelbedarf eines Alleinstehenden aktuell: 526 Euro, ohne Kosten der Unterkunft). Die Leistungen seien in den letzten Jahren deutlich stärker gestiegen als die Löhne. Deshalb lägen sie heute nicht mehr deutlich unter dem Nettoeinkommen einer Vollzeit-Arbeitsstelle zu Mindestlohnkonditionen, so dass der sogenannte Lohnabstand nicht mehr gewahrt sei. Um die Arbeitsanreize wieder zu stärken, versprechen CDU/CSU, in Zukunft starke Erhöhungen der Leistungen zu verhindern, während die Liberalen den Regelsatz sogar senken möchten.

Bild: ©KNA/Julia Steinbrecht

Bernhard Emunds ist Professor für Christliche Gesellschaftsethik und Sozialphilosophie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen.

Aus christlich-sozialethischer Sicht ist es problematisch, wenn Parteien Ressentiments gegen Arbeitslose schüren oder sie zumindest für ihren Wahlkampf zu nutzen suchen. Gegen eine solche Individualisierung der Arbeitslosigkeit und moralisierende Abwertung der Arbeitslosen rückt die christliche Sozialethik die strukturelle Dimension in den Vordergrund, insbesondere die Besonderheiten einer kapitalistischen Arbeitsgesellschaft. Westliche Gesellschaften werden als Arbeitsgesellschaften charakterisiert, weil sie nicht nur regelmäßiges Einkommen und soziale Sicherheit an Erwerbsarbeit binden, sondern auch die meisten Chancen der persönlichen Entfaltung, der sozialen Integration jenseits von Familie und Freundschaften sowie der Wertschätzung als ein ebenbürtiges Mitglied der Gesellschaft bieten.

Aufgrund der arbeitsgesellschaftlichen Strukturen ist davon auszugehen, dass sich die allermeisten der 1,7 Millionen arbeitslosen Bürgergeldempfänger nichts dringlicher wünschen als eine gute Arbeitsstelle. Kapitalistisch ist diese Arbeitsgesellschaft, weil die meisten Güter von privatwirtschaftlichen Unternehmen bereitgestellt werden, die dazu auf die Mitarbeit abhängig Beschäftigter zurückgreifen. Weil also die gesamtwirtschaftliche Entwicklung weithin von privaten Unternehmen bestimmt wird, hat Arbeitslosigkeit vor allem strukturelle und konjunkturelle Gründe.

Arbeitsmarktregeln brauchen eine solide empirische Grundlage

Dies bedeutet allerdings nicht, dass individuelle Ursachen gar keine Rolle spielen. Bestimmte Personengruppen sind häufig arbeitslos und andere nicht – das hat auch etwas mit den Betroffenen selbst zu tun. Häufig sind sie nicht ausreichend qualifiziert oder verfügen nicht über jene Qualifikationen, die gerade gesucht werden. Eine Gesellschaft, auf deren Arbeitsmarkt es vor allem an Fachkräften mangelt, ist gut beraten, Arbeitslose nicht möglichst schnell in den nächstbesten prekären Job zu drängeln, sondern sie erst einmal weiter zu qualifizieren. Andere der 1,7 Millionen Arbeitslosen, die Bürgergeld bekommen, haben psychische Probleme oder können sich aus problematischen sozialen Beziehungen nicht befreien. Es erscheint sinnvoll, dass es Jobcenter-Mitarbeitern ermöglicht wird, diese Leistungsempfänger glaubwürdig zu ermutigen und auf ihrem langen Reintegrationsweg zu unterstützen.

Die beiden substanziellen Änderungen an der Grundsicherung für Arbeitslose, die 2022 beschlossen wurden, waren genau auf diese Ziele ausgerichtet. Falls sie in dieser Hinsicht kontraproduktiv sind, wird sich das bei einer soliden sozialwissenschaftlichen Untersuchung des Bürgergelds auch zeigen. Eine entsprechende Studie war 2022 mit der Reform der Grundsicherung gleich mitbeschlossen worden und kann erst 2026 fertiggestellt werden. Für die Weiterentwicklung von Arbeitsmarktregeln braucht es eine solche solide empirische Grundlage – auch wenn es Parteien in Wahlkampfzeiten schwerfällt, dies zu akzeptieren.

„Wer ankündigt, die Grundsicherung für Arbeitslose so umzukrempeln, dass sie in Zukunft "nicht mehr" als Hängematte missbraucht werden könne, beteiligt sich daran, dass Arbeitslose öffentlich diskreditiert werden.“

—  Zitat: Bernhard Emunds

Dass unsere Gesellschaft eine kapitalistische Arbeitsgesellschaft ist, bedeutet zugleich: Von den Einzelnen oder von dauerhaften Lebensgemeinschaften wird prinzipiell erwartet, dass sie, wo es ihnen möglich ist, durch Erwerbsarbeit für ihren Lebensunterhalt selbst aufkommen. Das wird auch aus der hier eingenommenen christlich-sozialethischen Perspektive nicht in Frage gestellt. Ein bedingungsloses Grundeinkommen oder die von der Linken geforderte "sanktionsfreie Mindestsicherung" könnte prinzipiell – zu erheblichen Kosten – allen Menschen ein auskömmliches Einkommen garantieren. Aber woher kommen dann die Entfaltungs-, Integrations- und sozialen Anerkennungschancen, die in Arbeitsgesellschaften mit der Beteiligung an der Erwerbsarbeit verbunden sind? Vor diesem Hintergrund ist es auch berechtigt, auf die eher kleine Minderheit jener Erwerbslosen zu schauen, die nicht (mehr) erwerbstätig sein wollen, und zu fragen, welche Arbeitsanreize für sie sachlich angemessen und ethisch vertretbar sind. Eine Vorstellung von der Größenordnung, um die es dabei geht, vermittelt die Anzahl der Bürgergeldempfänger, die jegliche Mitwirkung verweigern. Diese lag 2023 gerade einmal bei 16.000.

Aus sozialethischer Sicht ist es grundsätzlich nicht illegitim, dass der Staat bei massiven Versäumnissen von Leistungsempfängern Sanktionen verhängt – vorausgesetzt, die sanktionierten Arbeitslosen und ihre Familien werden dadurch nicht von den Ressourcen abgeschnitten, die sie für ein menschenwürdiges Leben in unserer Gesellschaft benötigen. Zum anderen kann über das Konzept der Arbeitsanreize auch die Forderung begründet werden, dass Menschen, die "in Vollzeit" erwerbstätig sind, über mehr Einkommen verfügen sollten als Arbeitslose in der Grundsicherung.

Arbeitsunwillige Arbeitslose? Dafür gibt es keinen Beleg!

Um diesen Lohnabstand korrekt zu bestimmen, muss allerdings das Arbeitseinkommen nicht nur um die Lohnsteuer vermindert, sondern auch durch familienpolitische Leistungen für Geringverdiener und das Wohngeld ergänzt werden. So berechnet ist der Lohnabstand nicht nur gegenwärtig garantiert; vielmehr hat er sich seit Anfang 2022 sogar vergrößert. Denn in den letzten drei Jahren ist der Regelsatz der Grundsicherung zwar stärker gestiegen als die durchschnittlichen Arbeitseinkommen; die nominalen Steigerungen letzterer lagen in der Summe eben nur knapp über der Inflation. Aber für den Lohnabstand und damit für die Arbeitsanreize entscheidend ist der Mindestlohn, der in den letzten drei Jahren deutlich stärker gestiegen ist (real insgesamt um 14,8 Prozent) als die Leistungen der Grundsicherung (+9,7 Prozent).

Kurzum, für die Behauptung, die meisten Arbeitslosen seien arbeitsunwillig, gibt es keinen belastbaren empirischen Beleg. Wer ankündigt, die Grundsicherung für Arbeitslose so umzukrempeln, dass sie in Zukunft "nicht mehr" als Hängematte missbraucht werden könne, beteiligt sich daran, dass Arbeitslose öffentlich diskreditiert werden. Entsprechende Wahlkampfstrategien sind ethisch problematisch.

Von Bernhard Emunds

Der Autor

Bernhard Emunds (*1962) ist Professor für Christliche Gesellschaftsethik und Sozialphilosophie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen und Leiter des dortigen Oswald von Nell-Breuning-Instituts für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik.