Wir haben die Wahl – Überlegungen zu Freiheit und Verantwortung
Die Weihnachtsbotschaft klingt noch nach: Fürchtet euch nicht! Die vielfältigen Krisen und die komplexen Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, mögen manchmal dazu verleiten, zu resignieren und die Schultern zu zucken, weil man ja vermeintlich nichts ändern kann. Aber Gesellschaft lässt sich gestalten. Und es liegt in der Verantwortung aller das zu tun. Das "Fürchtet euch nicht" ermutigt dazu.
Verantwortliches Handeln und eine verantwortliche (Wahl-)Entscheidung benötigen Sachkenntnis. Bis zur Bundestagswahl am 23. Februar erscheinen an dieser Stelle bei katholisch.de kurze sozialethische Reflexionen zu gesellschaftlich relevanten Themen – von Klima über Gesundheit zu KI und anderen. Es handelt sich um kleine fundierte Beiträge, die die persönliche Meinungsbildung unterstützen und zum öffentlichen Diskurs beitragen, ohne parteipolitisch enggeführt zu werden. Der heutige Beitrag eröffnet diese Reihe und bleibt zugleich etwas allgemeiner als die folgenden. Er fragt danach, was eigentlich auf dem Spiel steht und welche Rolle dabei jedem und jeder Einzelnen zukommt.
Bei der Bundestagswahl steht besonders viel auf dem Spiel
Jede Wahl ist wichtig. Aber bei der Bundestagswahl steht besonders viel auf dem Spiel: die freiheitliche Demokratie. Sie ist vielfach gefährdet, vor allem dann, wenn Würde und Freiheit der Einzelnen zur Disposition stehen und die Institutionen, die sie schützen, angegriffen werden.
„Die Freiheit, die zu verteidigen ist, ist die Freiheit aller, nicht nur die eigene. Das wäre nicht Freiheit, sondern Egoismus.“
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das ist eine christliche Grundüberzeugung, und das steht im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vor allem anderen und bestimmt die gesamte staatliche Ordnung. Die Menschenwürde kommt allen zu und ist wechselseitig anzuerkennen. Wenn es um Würde geht, geht es also immer auch und vor allem um die Würde und das menschenwürdige Leben der Anderen. Eine Reklamation allein der eigenen Würde, die mit der Diffamierung anderer einhergeht, widerspricht dem Würdekonzept fundamental. Niemand kann legitimerweise Ansprüche erheben, die er oder sie anderen verweigert. In ihrer im vergangenen Februar veröffentlichten Erklärung "Völkischer Nationalismus und Christentum sind unvereinbar" warnen die deutschen Bischöfe daher vor extremistischem Denken, in dem die "gleiche Würde aller Menschen entweder geleugnet oder relativiert und somit zu einem für das politische Handeln irrelevanten Konzept erklärt [wird]." Ein solches Denken entzieht unserer Rechtsordnung den Boden, es ist gefährlich.
Wie für die Würde gilt für die eng mit ihr verbundene Freiheit: Die Freiheit, die zu verteidigen ist, ist die Freiheit aller, nicht nur die eigene. Das wäre nicht Freiheit, sondern Egoismus. Freiheit ist auch nicht einfach eine individuelle Eigenschaft, und sie erschöpft sich nicht in Selbstverwirklichung, sondern sie ist ein gesellschaftliches Verhältnis. Bei allen unterschiedlichen Verständnisweisen meint Freiheit als politisches Prinzip immer Freiheit des einzelnen Menschen (verstanden als Selbstbestimmung und Handlungsfreiheit) im Zusammenleben mit anderen. Freiheit ist relational. Daher stößt die eigene Handlungsfreiheit dort auf Grenzen, wo sie anderen schadet.
Zu den großen Errungenschaften durch verschiedene Freiheitskämpfe gehört, Übergriffe des Staates auf die individuelle Freiheit abzuwehren. Die Freiheitsrechte, die über Jahrhunderte erkämpft wurden, sind zu verteidigen. Allerdings ist Freiheit missverstanden, wenn sie darauf reduziert wird. Staatliche Maßnahmen und Institutionen schränken Freiheit nämlich nicht nur ein, sondern sie ermöglichen sie überhaupt erst. Nur innerhalb gerechter Strukturen und gesicherter Institutionen können die Einzelnen ihre Freiheit verwirklichen. Man kann diese Freiheit mit Axel Honneth als "soziale Freiheit" bezeichnen. Sie hebt hervor, dass das Subjekt die anderen Subjekte und die Institutionen zum eigenen Freiheitsvollzug notwendig braucht. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung ist daher mit dem Rechtsstaatsprinzip verknüpft: Alle sind an das Recht gebunden. Damit wird sichergestellt, dass alle vor dem Recht gleich sind, dass es keine willkürlichen Eingriffe in individuelle Rechte gibt, aber auch, dass staatliche Gewalt geteilt ist: dass also Macht kontrolliert wird. Was nach einem banalen Grundkurs in Staatskunde klingen mag, wird hochaktuell angesichts zahlreicher Angriffe auf den Rechtsstaat weltweit durch autoritäre Parteien und Bewegungen oder durch starke Interessen von mächtigen Einzelpersonen. Rechtsstaatliche Institutionen schützen die Freiheit aller vor diesen Angriffen. Deshalb sind wiederum diese Institutionen zu schützen und weiterzuentwickeln.
Freiheit erschöpft sich nicht darin, "in Ruhe gelassen zu werden". Gemeint ist immer auch die Freiheit etwas zu tun beziehungsweise etwas tun zu können. Das hat viele Voraussetzungen, welche von Bildung und der Möglichkeit, eine Persönlichkeit zu entwickeln, bis zu einer gewissen materiellen Sicherheit reichen. Besonders prägnant akzentuiert einen positiven Freiheitsbegriff Amartya Sen: Freiheit bedeutet für ihn, Lebenschancen zu haben und sie realisieren zu können. Da also die Ausübung der Freiheit auch der materiellen Grundlagen bedarf, kann es Freiheit nicht losgelöst von Gerechtigkeit geben: Um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, müssen Individuen die Möglichkeit haben, ihre Fähigkeiten und Kräfte zu entwickeln. Und da die Freiheit stets die Freiheit aller ist, ist ihre Ausübung und Gestaltung politisch auch allen zu ermöglichen und alle müssen an dieser Gestaltung im Sinne einer Partizipationsgerechtigkeit mitwirken können.
Freiheit und Gerechtigkeit müssen zusammengedacht werden
Freiheit und Gerechtigkeit sind daher nicht, wie es manchmal scheint, Gegensätze. Sie müssen vielmehr zusammengedacht werden, damit allen Menschen Chancen auf Freiheitsverwirklichung zukommen. Die Verantwortung der Einzelnen für ihr Handeln wird dadurch nicht aufgehoben. Aber die selbstverantwortliche Lebensgestaltung benötigt eine – auch materielle – Grundsicherung. Zur freiheitlichen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland gehört deshalb das Sozialstaatsprinzip. Die Sozialstaatlichkeit ist kein beliebiger Zusatz, sie ist Verfassungsprinzip, das in direktem Bezug zum Menschenwürdegrundsatz steht: Allen muss ein Leben in Würde und Freiheit möglich sein. Auch das ist zu verteidigen.
Jede Wahl ist wichtig. Aber bei der bevorstehenden Bundestagswahl steht besonders viel auf dem Spiel. Deshalb kommt den Wählerinnen und Wählern eine besondere Verantwortung zu. Gesellschaftliche Verantwortung kann auf sehr unterschiedliche Weise übernommen werden: Jede und jeder Einzelne kann im Nahbereich versuchen, in erhitzten Diskussionen sachlich zu bleiben; eigene Positionen zu begründen und Gegenargumente anzuhören und zu prüfen; sich der Polemik und der Verunglimpfung zu enthalten – einfach gesagt: respektvoll mit anderen umgehen. Dann gibt es jene mittlere Ebene, die nicht zu unterschätzen ist: Indem Menschen sich zusammenschließen, können sie sich für gemeinsame Ziele einsetzen, sich engagieren in Kirchengemeinde, Kommune oder Verein und Räume der Begegnung und des Austauschs öffnen. Auf diese Weise entstehen soziale Netze, auf die Gesellschaft angewiesen ist, und zugleich wird Gesellschaft aktiv mitgestaltet. Und schließlich gibt es die Ebene der verfassten Politik, hier insbesondere die anstehende Wahl. Wer sich zur Wahl stellt, übernimmt im Namen der Wählerinnen und Wähler Gestaltungsaufgaben. Und wer wählt, entscheidet mit darüber, wie diese Gestaltungsaufgaben ausgeführt werden. Das ist eine wichtige und verantwortungsvolle Entscheidung. Denn es gilt, die freiheitliche und soziale Demokratie zu verteidigen und weiterzuentwickeln.
Die Autorin
Michelle Becka (*1972) ist Professorin für Christliche Sozialethik an der Universität Würzburg und Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik. Sie arbeitet zu verschiedenen Themen politischer Ethik.