Sozialethische Zwischenrufe zur Bundestagswahl – Teil 2

Die Staatsausgaben werden weiter steigen – das sollte uns freuen!

Veröffentlicht am 10.01.2025 um 00:01 Uhr – Von Jonas Hagedorn – Lesedauer: 

Bochum ‐ Weltweit propagieren Libertäre und Rechtspopulisten den schlanken Staat und niedrigere Steuern. Dabei braucht es dringend mehr öffentliche Investitionen in die soziale und technische Infrastruktur, schreibt der Sozialethiker Jonas Hagedorn. Mit einer bloßen Reform der Schuldenbremse sei es aber nicht getan.

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Zur Alltagserfahrung vieler Menschen in Deutschland zählen Notbetreuung in Kitas und monatelange Wartezeiten auf fachärztliche Untersuchungen, die mühsame Suche nach bezahlbarem Wohnraum in Großstädten und die chronische Unzuverlässigkeit von Bussen und Bahnen. Menschen, die sich jahrzehntelang um ihr behindertes Kind gekümmert haben und deren Kräfte erschöpft sind, suchen händeringend nach Einrichtungen, die die Versorgung übernehmen können. Es fehlen Pflegeheimplätze, darunter auch Plätze in der Kurzzeitpflege – und die große Welle pflegebedürftiger "Baby-Boomer" kommt erst noch. Jüngste Zahlen des Statistischen Bundesamtes belegen den Trend, dass seit 2013 immer mehr Personen in Pflegestufe III und (seit 2017) in den Pflegegraden 4 und 5 allein durch Angehörige versorgt werden. Ende 2023 lag dieser Anteil bei knapp 40 Prozent, was darauf hindeutet, dass formelle ambulante Dienste und stationäre Angebote nicht in ausreichendem Maße vorhanden sind oder auf zumeist irreguläre Live-in-Care zurückgegriffen wird.

Die Liste alltagsnaher Stressfaktoren lässt sich beliebig fortsetzen. Obwohl Deutschland – mit Blick auf das Gesamtvermögen – zu den reichsten Ländern der Welt zählt, hakt es an vielen Ecken und Enden, und da, wo es noch läuft, leisten Erzieher:innen und andere Arbeitskräfte oft Mehrarbeit, um notwendige Bedarfe zu decken.

Infrastrukturen vermitteln Vertrauen in das demokratische Gemeinwesen

Die angesprochenen Versorgungsmängel betreffen in der Regel Infrastrukturen, die, wenn sie funktionieren, uns allen den Alltag ermöglichen. Oft wird in diesem Zusammenhang zwischen "sozialen" Infrastrukturen (Kitas, stationäre Pflegeeinrichtungen, etc.) und "technischen" Infrastrukturen (Schienensystem, etc.) differenziert. Beide Infrastrukturbereiche sind gekennzeichnet dadurch, dass sie durch öffentliche Investitionen und staatliche Vorgaben angestoßen und am Laufen gehalten werden. Hocharbeitsteilige, moderne Massengesellschaften leben davon, dass Infrastrukturen verlässlich zur Verfügung stehen.

Diese Infrastrukturen sind Stützen gesellschaftlicher Arbeitsteilung und unternehmerischer Initiative, Gelingensbedingung persönlicher Entfaltung und zugleich Ausdruck wechselseitiger Abhängigkeit. Sie vermitteln Vertrauen in das demokratische Gemeinwesen und regen Leistungsbereitschaft an. So vielfältig und persönlich Lebenswege heute sein können, so abhängig ist jede:r einzelne von den Leistungen anderer: von den Leistungen der Pflegekräfte, von den Mobilitätsdienstleistungen im Nah- und Fernverkehr und so weiter. Infrastrukturen sind das Bindegewebe moderner Gesellschaften.

„Wie hochbemessen die Erbschaftsteuer in Deutschland einmal war und wie selbstverständlich progressive Einkommensteuern auch im konservativen Lager begründet und gefordert wurden, ist heute kaum noch bekannt.“

—  Zitat: Jonas Hagedorn

Die sozialwissenschaftliche Entdeckung, dass in modernen Gesellschaften der eigene Lebenswandel individueller wird – bei gleichzeitig zunehmender Abhängigkeit vom Wohl und Wehe anderer Menschen und von anonymen Leistungserbringer:innen –, geht auf das 19. Jahrhundert zurück. Die Freiheitszuwächse der Bürger:innen waren erst durch Urbanisierung und soziale Verdichtung, wachsende Arbeitsteilung und funktionale Ausdifferenzierung möglich geworden. Um diese neuen gesellschaftlichen Verhältnisse auf den Begriff zu bringen, wurde – zunächst in Frankreich – das Wort "Solidarität" geprägt und in die politischen Debatten eingeführt.

Anders als Nächstenliebe, aber anders auch als familiäre Verbundenheit beschreibt "Solidarität" faktische Interdependenzen und die komplexe Sicherung gegen soziale Risiken unter einer großen Zahl an Menschen, deren Verbundenheit untereinander gerade nicht auf Nahbereichsbeziehungen basiert. Auf diesem Komplexitätsniveau zielte der Begriff der Solidarität dann auch auf den normativen, an den Staat gerichteten Anspruch, Sozialversicherungssysteme und Infrastrukturen auf- und auszubauen – und dafür Beiträge und (progressive) Steuern zu erheben. Diese politischen Innovationen beruhten weniger auf dem Denken des Liberalismus als auf den Aufbrüchen der damaligen solidaristischen Bewegungen. Solidarität war und ist in diesem Sinne die Weiterentwicklung der modernen freiheitlichen Gesellschaften nicht nur mit rechtsstaatlichen, sondern vor allem auch mit sozialstaatlichen Mitteln.

Die soziale Grundlage der Demokratie in Deutschland

Der Rechts- und Sozialstaat wurde zur sozialen Grundlage der Demokratie in Deutschland. Der Ordoliberalismus hatte große Vorbehalte gegen die in den Jahrzehnten der Bonner Republik ausgebildete "reale" Soziale Marktwirtschaft mit ihren starken Sozialversicherungen, da ihm der Sozialstaat grundsätzlich verdächtig war. Er wurde seit den 1950er-Jahren aber von der Christdemokratie und der Sozialdemokratie gleichermaßen ausgebaut und verteidigt. Konkret bedeutete dies, umlagefinanzierte Sozialversicherungssysteme und progressive Besteuerung zu unterstützen. Wie hochbemessen die Erbschaftsteuer in Deutschland einmal war (bis zu 70 Prozent beim Erbgang zwischen nächsten Angehörigen) und wie selbstverständlich progressive Einkommensteuern auch im konservativen Lager begründet und gefordert wurden, ist heute kaum noch bekannt – und soll wohl auch vergessen werden.

Bild: ©privat (Montage: katholisch.de)

Jonas Hagedorn ist designierter Lehrstuhlinhaber für Christliche Gesellschaftslehre an der Theologischen Fakultät Paderborn. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Fragen der Christlichen Sozial- und Wirtschaftsethik, der Wohlfahrtsstaatsforschung und der Organisation der Care-Arbeit.

Oft wird der Eindruck erweckt, dass die Staats- und Sozialausgaben hierzulande ein unerhörtes Niveau erreicht hätten, verbunden mit dem mantrahaften Credo, Staats- und Sozialausgaben müssten zusammengestrichen und Staatsaktivitäten reduziert werden. Solche Vorstellungen sind jedoch aus mindestens zwei Gründen zu hinterfragen:

  1. Bedarfe und damit verbundene Staats- und Sozialausgaben entwickeln sich dynamisch und nehmen in komplexen Gesellschaften selbstverständlich zu. Schon im 19. Jahrhundert sprach man in den Staats- und Wirtschaftswissenschaften vom "Gesetz der wachsenden Staatstätigkeit" (Adolph Wagner). Nur ein Beispiel: Cyber-Sicherheit war vor Jahrzehnten noch kein Thema.
  2. Nicht nur, aber vor allem in den sozialen Dienstleistungsbranchen unterliegen die Leistungen steigenden Arbeitskosten, da die soziale Interaktionsarbeit eine von Industrie- und unternehmensnaher Dienstleistungsarbeit abweichende Entwicklung der Arbeitsproduktivität aufweist. Der US-amerikanische Ökonom William J. Baumol (1922–2017) beschrieb diesen Kostenanstieg als unausweichliche "Kostenkrankheit".

Ausweitung der öffentlichen Ausgaben ist "eine schlichte Selbstverständlichkeit"

Die einzige Therapie, um soziale Dienstleistungen, die eine Gesellschaft erst lebenswert und zukunftsfähig machen, auf Dauer in Quantität und Qualität für alle (!) verfügbar zu halten, ist eine Ausweitung der öffentlichen Ausgaben. Eine schlichte Selbstverständlichkeit, die politisch und gesellschaftlich viel zu wenig anerkannt wird.

Ja, es gibt ärgerliche Steuerverschwendung; ja, es gibt vermeidbare Ineffizienz in der Bürokratie; und ja, im öffentlichen Sektor liegt vieles im Argen. Dies ändert aber nichts daran, dass wir auch in Zukunft mit steigenden Staats- und Sozialausgaben zu tun haben werden. Und darüber sollten wir uns nicht ärgern. Im Gegenteil: Wir sollten froh sein, dass wir als demokratische Gesellschaft mit diesen öffentlichen Investitionen zielgerichtet, klug und nachhaltig unsere gemeinsamen Angelegenheiten mitgestalten und zukunftssicher machen können.

„Wenn die Schuldenbremse in der nächsten Legislaturperiode reformiert wird, entledigt man sich für den Moment der politischen Bearbeitung der Verteilungsfragen und verlagert diese in die Zukunft.“

—  Zitat: Jonas Hagedorn

Stattdessen wird, obwohl Deutschland die niedrigste Schuldenquote unter den G7-Ländern hat und auch mangelnde Staatsausgaben die Transformation der deutschen Wirtschaft gehemmt haben, in weiten Kreisen eisern an der sogenannten Schuldenbremse festgehalten.

Diskutiert wird derzeit erstens, die Schuldenbremse zu reformieren und Schulden für Investitionen in Infrastrukturen und für die Transformation der Wirtschaft aufzunehmen; Schulden, die wir den kommenden Generationen hinterlassen. Zweitens wird ein Ansatz verfolgt, an der Schuldenbremse festzuhalten; das bedeutet, die Transformation der Wirtschaft zu verzögern und den kommenden Generationen marode Infrastrukturen zu hinterlassen – mit anderen Worten: Schulden.

Bei allem geht es um Verteilungsfragen

Bei allem geht es um Verteilungsfragen und eine politisch verantwortete Lastenteilung. Die entscheidenden Fragen sind meines Erachtens: Welche Beitragssätze müssen angehoben werden und welche (progressiv ausgestalteten) Steuern und Sonderabgaben können erhoben werden, um die notwendigen Investitionen zu tätigen? Wie nimmt man die Bezieher:innen (sehr) hoher Einkommen und die Bürger:innen mit hohen und sehr hohen Vermögen in die Pflicht, ihren Solidaritätspflichten nachzukommen? Dass der ökologische Fußabdruck dieser Gruppen groß ist (im Unterschied zur Bevölkerung mit kleinem Portemonnaie), macht die Sache umso dringlicher.

Wenn die Schuldenbremse in der nächsten Legislaturperiode reformiert wird, entledigt man sich für den Moment der politischen Bearbeitung der Verteilungsfragen und verlagert diese in die Zukunft. Dass die drängenden Fragen der Verteilungsgerechtigkeit und der Lastenteilung parteiübergreifend so wenig thematisiert werden, gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt und belastet die Solidaritätsverhältnisse innerhalb von Nationalstaaten schwer. In Österreich ist eine Regierungsbildung unter Ausschluss der FPÖ gerade an unversöhnlichen Positionen zu Steuern gescheitert. Mit Marktliberalismus dürften auf die Probleme des 21. Jahrhunderts wohl kaum adäquate Antworten zu finden sein. Um einen vernünftigen Weg von belasteten zu belastbaren Solidaritätsverhältnissen einzuschlagen und den kommenden Generationen geringere Schulden (auch infrastrukturell) zu hinterlassen, sind andere normative Theorien und praktische Lösungen zu finden.

Von Jonas Hagedorn

Der Autor

Jonas Hagedorn (*1981) ist Junior-Professor für Sozialethik/Christliche Gesellschaftslehre. Von 2022 bis 2024 war er Lehrstuhlinhaber an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Seit Oktober 2024 ist er designierter Lehrstuhlinhaber für Christliche Gesellschaftslehre an der Theologischen Fakultät Paderborn. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Fragen der Christlichen Sozial- und Wirtschaftsethik, der Wohlfahrtsstaatsforschung und der Organisation der Care-Arbeit.