Gegen das Zaudern: Plädoyer für eine sozial-ökologische Transformation

Klimawandel und ökologische Fragen seien dieses Mal kein wahlentscheidendes Thema heißt es allerorten. Wirtschaft und Migration sind die großen Motive. Dabei gibt es kaum ein Feld, in dem sich die Positionen der Parteien stärker unterscheiden, als bei der Frage nach dem Umgang mit Klimawandel und ökologischen Veränderungen:
"Und ich kann ihnen sagen, wenn wir am Ruder sind, wir reißen alle Windkraftwerke nieder. Nieder mit diesen Windmühlen der Schande." (Alice Weidel beim AfD-Parteitag in Riesa im Januar)
"Außerdem bedarf es insbesondere einer Diversifizierung der Gasversorgung, damit keine einseitige Abhängigkeit von Gasimporten entsteht. Dafür sollte die heimische Erdgasförderung ausgebaut werden, wozu sich aktuell das Gasfeld in Borkum und Fracking-Verfahren anbieten." (FDP-Wahlprogramm für die Bundestagwahl)
"Wir halten an der Option Kernenergie fest. Dabei setzen wir auf die Forschung zu Kernenergie der vierten und fünften Generation, Small Modular Reactors und Fusionskraftwerken. Die Wiederaufnahme des Betriebs der zuletzt abgeschalteten Kernkraftwerke prüfen wir. Wir schaffen das Heizungsgesetz der Ampel ab. Mit dem bürokratischen Reinregieren in den Heizungskeller muss Schluss sein." (CDU-Wahlprogramm für die Bundestagswahl)
"Zur Sicherstellung der Mobilität und zur Unterstützung unserer Autoindustrie wollen wir das klimapolitisch unsinnige Verbrenner-Verbot aufheben und nach französischem Vorbild ein Volksleasing für E-Autos und verbrauchsarme Verbrenner (unter 5 l) ab 58 Euro im Monat einführen." (Kurzwahlprogramm des BSW für die Bundestagswahl)
"Ziele unserer Klimaschutzpolitik sind die Vermeidung von Treibhausgasemissionen durch den beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien, effizientes Energiemanagement, Dekarbonisierung der Industrie und eine umfassendere Kreislaufwirtschaft. Wir folgen deshalb dem Grundsatz 'CO2Vermeidung vor CO2-Abscheidung'." (Regierungsprogramm der SPD für die Bundestagwahl)
"Wir setzen weiterhin auf den Ausbau von Wind- und Solarenergie, für eine klimaneutrale Industrie und modernste klimafreundliche Technologien, für globale Klimapartnerschaften. Für unsere Zukunft auf diesem Planeten und unsere Wettbewerbsfähigkeit kann es kein Zurück geben." (Regierungsprogramm von Bündnis 90/Die Grünen für die Bundestagwahl)
„Fast scheint es, als trauten sich viele Parteien nicht so ganz ran, an die großen, die umwälzenden Fragen und Aufgaben der sozial-ökologische Transformation. Genau dies wäre aber geboten, um das große Zaudern zu überwinden.“
Alice Weidel ruderte nach heftiger Kritik bereits zurück und bezog sich plötzlich nur noch auf die Windräder im hessischen Reinhardswald. Auch die CDU bekam Gegenwind ausgerechnet aus der Energiebranche selbst, die den Ausstieg aus der Kernenergie für irreversibel hält: "Eine Diskussion über die weitere Nutzung der Kernkraft hat sich für uns vor diesem Hintergrund erledigt", sagte zum Beispiel EnBW-Kernkraftchef Jörg Michels der "Augsburger Allgemeinen". Expert:innen sind sich einig, es fehlt an Brennstäben und Personal. Dringend benötige Sicherheitsprüfungen müssten nachgeholt werden. Der Ausstieg vom Ausstieg würde Milliarden kosten und das mit ungewissem Ausgang.
Warum dann aber diese Diskussionen über den Abriss aller Windräder oder den kaum durchführbaren Wiedereinstieg in die Atomenergie? Es scheint sich die These zu bestätigen, dass nicht Klima, Ökologie und Energie der Zukunft die Themen des Wahlkampfs sind. Stattdessen geht es hier um Populismus. Ökologische Maßnahmen und Energiewende werden als ein Projekt "links-grün verseuchter Eliten" dargestellt, die einen nur scheinbar nötigen Klimaschutz predigen, so das "Volk" für dumm verkaufen und die Zukunft Deutschlands gefährden.
Zeit des großen Zauderns
"Wir leben in einer "Zeit des großen Zauderns" (141), diagnostiziert die Biologin und Philosophin Donna Haraway in ihrem Buch "Unruhig bleiben" von 2016. Sie trifft damit die Situation auf den Punkt. Der Klimawandel ist da, das Anthropozän, die Umweltverschmutzung, die Ausrottung von Tier- und Pflanzenarten, eine Zeit voller Geflüchteter, Kriege und sozialer Spaltungen. Einige suchen dafür Lösungen im Gestern, in einem vermeintlich besseren Früher als es keine Windräder und noch Atomenergie gab. Oder sie hoffen auf irgendwie geartete technologische Lösungen, die in einer fernen Zukunft schon alles regeln werden. Fast scheint es, als trauten sich viele Parteien nicht so ganz ran, an die großen, die umwälzenden Fragen und Aufgaben der sozial-ökologische Transformation. Genau dies wäre aber geboten, um das große Zaudern zu überwinden. Stattdessen wird Soziales und Ökologisches gegeneinander ausgespielt, gebremst, auf die Notwendigkeit einer starken Wirtschaft und auf ökonomische Sachzwänge verwiesen, die nicht durch klimatische Regulierungen zu stark beschränkt werden dürften.

Anna Maria Riedl ist Juniorprofessorin für Christliche Sozialethik mit Forschungsschwerpunkt Nachhaltigkeit an der Universität Bonn.
Die "sozial-ökologische Transformation" hat etwas anderes im Blick. Der Begriff wurde wesentlich durch den Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) und seinen Bericht "Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation" aus dem Jahr 2011 geprägt. Er steht genau für das, was in der Zeit des großen Zauderns fehlt, nämlich für einen wirklichen Wandel: einen ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Veränderungsprozess. Es geht darum, nationale Ökonomien und Weltwirtschaft innerhalb der planetaren Grenzen so umzubauen, dass irreversible Schäden am Erd- und Ökosystem vermieden werden. "Transformation" meint damit gerade kein "Weiter so" (und schon gar kein "Bremsen" oder "Zurück in die Vergangenheit"). Der Begriff steht auch nicht für kleinteilige umweltpolitische Maßnahmen oder alleinige Hoffnung auf technologische Lösungen. Sozial-ökologische Transformation verlangt nach einem Handlungsplan in der Gegenwart. Diese muss nicht allein aus der Politik kommen, sondern auch von Bürger:innen, der Zivilgesellschaft und Unternehmen vorangetrieben werden, aber ohne Politik wird es nicht gehen.
Eine Politik, die die für diese Wahl so wichtigen Themen von Migration und Wirtschaft angehen will, müsste genau dieses bieten: Einen realistischen Handlungsplan für die sozial-ökologische Transformation in den nächsten Jahren. Wer denkt, dass Klimawandel kein Thema ist, verkennt, dass die Gefährdungen des Planeten bereits heute zu einer Vielzahl an Folgeproblemen führen, die sich in Zukunft noch massiv verstärken werden. Sozial und ökologisch ist keine Entweder-Oder-Entscheidung. Schon jetzt investieren wir Milliarden in die Beseitigung und soziale Abfederung für die durch den Klimawandel verursachten Schäden (etwa das Ahrhochwasser 2021 oder das Hochwasser in Süddeutschland 2024). Hier in Prävention zu investieren wird kosten, aber es wird weniger kosten als nachträgliche Notfallfinanzierungen.
Fehlende ökologische Lösungen verstärken Flucht und Migration
Zudem wird sich keines der anderen Themen von Migration bis Wirtschaftskrise lösen lassen, wenn wir keine Idee haben, wie wir mit Klimawandel und ökologischen Veränderungen umgehen wollen. Flucht und Migration werden durch fehlende ökologische Lösungen verstärkt, weil immer größere Zonen der Erde unbewohnbar werden. Eine Wirtschaft, die sich in einer vermeintlich sicheren, nationalen Blase vor den Zumutungen, Kosten und Regeln der Ökologie versteckt, wird von visionäreren Entwicklungen überholt werden und dann auf jeden Fall abgehängt sein. Wir sehen das jetzt schon zum Beispiel bei der Entwicklung von E-Autos. Das große Zaudern der Politik hilft hier weder Bürger:innen noch Unternehmen, es lähmt letztlich, weil es verunsichert und weil es Innovation ausbremst.
„Unruhig bleiben kann jede:r von uns vor und nach und während der Wahl. Es heißt, sich nicht einlullen zu lassen von scheinbar schönen Versprechungen, sondern zu fragen: Was ist wirklich notwendig, wenn auch unbequem?“
Haraway empfiehlt im Umgang mit der ökologischen Krise, unruhig zu bleiben. "Unruhig bleiben" meint keine Position lähmender Angst, auch keinen blinden Aktivismus, sondern: "Es ist unsere Aufgabe, Unruhe zu stiften, zu wirkungsvollen Reaktionen auf zerstörerische Ereignisse aufzurütteln, aber auch die aufgewühlten Gewässer zu beruhigen, ruhige Orte wieder aufzubauen. (...) Unruhig zu bleiben erfordert aber gerade nicht eine Beziehung zu jenen Zeiten, die wir Zukunft nennen. Vielmehr erfordert es zu lernen, wirklich gegenwärtig zu sein. Gegenwärtigkeit meint hier nicht einen flüchtigen Punkt zwischen schrecklichen oder paradiesischen Vergangenheiten und apokalyptischen oder erlösenden Zukünften" (Haraway: Unruhig bleiben 2018, S. 9).
"Unruhig bleiben"
Vielleicht liegt im "Unruhig bleiben" eine gute Orientierung für die Entscheidung bei dieser Bundestagswahl: Welche Partei und welche Politiker:innen haben ein Programm für den Umgang mit den ökologischen und klimatischen Veränderungen? Und wie sind diese Programme: rückwärtsgewandt in eine vermeintlich gute Vergangenheit, richten sie sich in eine ferne (vielleicht nie kommende) technologische Zukunft oder enthalten sie konkrete Gegenwartsschritte für die nächsten Jahre?
Unruhig bleiben kann jede:r von uns vor und nach und während der Wahl. Es heißt, sich nicht einlullen zu lassen von scheinbar schönen Versprechungen, sondern zu fragen: Was ist wirklich notwendig, wenn auch unbequem? Es heißt Politik nicht zu misstrauen, aber auch nicht blind zu vertrauen. Nur wenn wir unruhig bleiben, wird auch Politik die notwendige Unruhe zur Transformation aufbringen.
Die Autorin
Anna Maria Riedl ist Juniorprofessorin für Christliche Sozialethik mit Forschungsschwerpunkt Nachhaltigkeit an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn.