KI wird die Zukunft prägen – eine Erkenntnis, die Folgen haben muss
Technik ist traditionell kein großes Wahlkampfthema. Neben Innen-, Außen- und Wirtschaftspolitik fristet Technologiepolitik ein Schattendasein. Allerdings: Es müsste anders sein. Seit einigen Jahren sind deutliche Fortschritte bei den Technologien Künstlicher Intelligenz zu verzeichnen. Wir merken dies vor allem an den Produkten, die uns Konsumentinnen und Konsumenten zur Verfügung stehen, wie etwa ChatGPT und andere KI-Tools, die Texte, Bilder und Videos auf Befehl generieren können. Darüber hinaus finden sich KI-Technologien im Hintergrund vieler Apps und Webanwendungen.
Die Fortschritte in Sachen KI sind aber vor allem in der Wirtschaft höchst relevant. In Produktion, Industrie, Landwirtschaft, Dienstleistung, Gesundheit und Pflege, Finanzen, Handwerk – KI-Technologien sind dabei, alle Branchen stark zu verändern. Und damit ist eine Zukunftsfrage für die Gesellschaft angesprochen. In einer solchen ökonomischen Transformationsphase wird Wirtschaftspolitik zu Gesellschaftspolitik: Die ganze Wirtschaft steht vor einer Veränderung, die vielleicht vergleichbar ist mit der industriellen Revolution, aber eventuell auch darüber hinausgeht. Es spricht viel dafür, dass in naher Zukunft sämtliches Wirtschaften (und damit Arbeitsplätze und über Steuern Geld für sozialpolitische Umverteilungen und Bildung) sehr stark von KI-Technologien abhängt. Große, vor allem auch mittlere und kleine Unternehmen müssen diese Transformation mitmachen und gestalten, dafür braucht es Anreize und Unterstützung.
Die Möglichkeiten der KI erkennen, ausbauen und nutzen
Zu einem außenpolitischen Thema wird dies auch, wenn man die Wirtschaftsmacht der USA gerade im Kontext der KI-Transformation in Rechnung stellt: Kooperationen mit US-amerikanischen Unternehmen sind für deutsche Firmen unerlässlich, aber in den neuen Zeiten mit Trump und Musk schwierig. So oder so: Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und der gesamte gesellschaftliche Wohlstand, und damit auch Potenziale für sozialen Ausgleich und Beteiligung, werden sich nur erhalten und steigern lassen, wenn man die Möglichkeiten der KI erkennt, ausbaut und nutzt.
„Beim Gebrauch von Technologien machen sich immer die Werte und Standards bemerkbar, die bei der Entwicklung und Kommerzialisierung von diesen Technologien eine Rolle gespielt haben.“
Ein wichtiger Punkt kommt hier hinzu: Beim Gebrauch von Technologien machen sich immer die Werte und Standards bemerkbar, die bei der Entwicklung und Kommerzialisierung von diesen Technologien eine Rolle gespielt haben. KI-Technologien und Businessanwendungen aus Amerika und China zuzukaufen bedeutet also auch, diese Wertsphären zuzukaufen und ihnen zur weiteren Durchsetzung zu verhelfen. Auch der Datenschutz spielt bei fremden KI-Produkten eine Rolle. Das heißt: Um unsere Ideen vom gesellschaftlichen Zusammenleben umzusetzen, müssen wir in Europa eigene KI-Technologien und Produkte entwickeln und nutzen. Das ist nicht nur eine ökonomische Standortfrage, sondern betrifft auch Kernwerte der Gesellschaftsvorstellungen in Europa. Die EU ist hier aktiv, Deutschland muss unbedingt mitziehen.
Vor allem Bündnis 90/Die Grünen und der Wirtschaftsrat der CDU sind im Zuge des Wahlkampfes mit reichhaltigen und überlegenswerten Vorschlägen für eine KI-Politik aufgefallen, die die Innovationsnotwendigkeiten in diesem Bereich richtigerweise betonen, jeweils mit erwartbaren Schwerpunkten. Insgesamt spielt das Thema KI leider eine zu untergeordnete Rolle angesichts einer sich gerade formierenden KI-Gesellschaft.
Große Fragen, die gerade eine Christliche Sozialethik stellen muss
Das Thema der Ethik der KI hat sich schon angedeutet: Standardprobleme sind Datenschutz, Verzerrungen in den Daten, Sicherstellung menschlicher Autonomie, Sicherheit der Technologien, Urheberrechte, Verantwortung und Zurechenbarkeit, Umweltschutz sowie Waffentechnik. Neben diesen wichtigen Anwendungsproblemen, die immer im Blick bleiben müssen, stellen sich größere Fragen, die auch und gerade eine Christliche Sozialethik stellen muss: Wie verändern sich Begriffe von Gemeinschaft, Solidarität und Gesellschaft, welche Rolle soll Bildung spielen, in welchem Verhältnis stehen zukünftig Mensch, Tier, Natur, Technik und (mehr oder weniger autonome) Maschinen? Wer hat Zugriff auf die mächtigen Technologien, wer kontrolliert sie? Welche globalen Machtungleichheiten werden damit verfestigt und welche entstehen neu? Ist oder wird KI ein Mittel neuer und alter kolonialer Strukturen?

Alexander Filipovic ist Professor für Sozialethik am Institut für Systematische Theologie und Ethik der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.
Ein im Januar veröffentlichtes umfangreiches Papier des Vatikans unter dem Titel "Antiqua et nova" befasst sich auf der Basis "alter und neuer Weisheit" mit dem Epochenwandel, den Technologien Künstlicher Intelligenz darstellen. Es müssen, so betont der Text, "sowohl die Ziele und Mittel, die bei einer bestimmten Anwendung der KI eingesetzt werden, als auch die Gesamtvision, die sie verkörpert, bewertet werden, um sicherzustellen, dass sie die Menschenwürde achten und das Gemeinwohl fördern" (42). Die Gemweinwohlfrage ist die sozialethische Schlüsselperspektive auf Technologien Künstlicher Intelligenz.
Politische Mega-Aufgaben
Viele der Argumente des Papiers basieren auf einer kategorialen Unterscheidung von Menschen und Maschinen: Nur erstere seien als verkörperte Beziehungswesen in umfassendem Sinne offen für Erfahrung und Reflexion von Realität (33) und könnten als Freiheitswesen und darauf aufbauend als moralische Akteure verstanden werden (39). Das klingt beruhigend. Aber hilft das? Können wir überhaupt Körper und Beziehungen sowie Erfahrung und Reflexion unabhängig von Technologien denken? Und: Moralische Akteurialität ist schon lang nicht mehr nur bei Menschen anzutreffen (und auch dort in unterschiedlichem Maß), autonome Fahrzeuge, Roboter, viele Arten von Technologien haben einen Akteursstatus, der auch moralische Fragen betrifft.
Informativ und argumentativ gelungen in "Antiqua et nova" sind vor allem die Passagen mit den besonderen Fragestellungen: Hier werden Probleme in Sachbereichen wie KI und Arbeit/Wirtschaft, Gesundheit, Umwelt, Krieg, sowie KI und Bildung angesprochen. Jeweils werden diese Bereiche als dringliche Gestaltungsfelder eingeschätzt. Es sind gleichsam politische Mega-Aufgaben, die hier dargestellt werden. Die Komplexität mag verunsichern, aber es entscheidet sich heute, wie wir in Zukunft in einer KI- Welt zusammenleben werden.
„KI kann unser Leben nur verbessern, wenn wir um die Möglichkeiten wissen und sie auch praktisch realisieren können.“
Für mich ist die Bildungsfrage mit am dringlichsten: Es geht um Kompetenz im Umgang mit KI-Technologien. KI kann unser Leben nur verbessern, wenn wir um die Möglichkeiten wissen und sie auch praktisch realisieren können. Verantwortungsvoll mit KI-Technologien umgehen bedeutet, die Folgen des Gebrauchs von KI-Tools absehen und KI so einsetzen zu können, dass niemand zu Schaden kommt (auch die Umwelt nicht) und Ungerechtigkeiten vermieden werden. Das muss man lernen, an Schulen, in der Berufsausbildung, in der betrieblichen Weiterbildung, an Universitäten, an Volkshochschulen.
Plädoyer für ein eigenständiges KI-Ministerium
Bereits hier sieht man, dass mit der Forderung nach mehr KI-Kompetenz noch nichts gewonnen ist, schon gar nicht, wenn damit nur gemeint ist, die Menschen sollen sich schleunigst fit machen im Umgang mit KI. KI-Kompetenz in der Bevölkerung ist das Ergebnis einer bildungstheoretischen, praktisch-didaktischen sowie sozial- und (aus-)bildungspolitischen Anstrengung, die Geld und andere Ressourcen, etwa von Bildungsinstitutionen, kostet. Und der Förderung von KI-Kompetenz (wie auch der Medienkompetenz) muss eine Regulierung entgegenkommen, die den Rahmen einer menschengerechten KI-Gesellschaft absteckt. Denn oft genug wird die Forderung nach mehr Kompetenzen verbunden mit der Politik einer möglichst zurückhaltenden Regulierung. Kompetenz aber kann Regulierung nie ersetzen. Insofern muss die Forderung lauten: Regulierungen verbessern (nicht leicht in einer technisch dynamischen Situation, aber die EU tut ihr Bestes ...) und KI-Kompetenz auf allen Ebenen als sozial- und bildungspolitische Aufgabe ernst nehmen.
Bei der KI geht es zwar auch um individuelle Chancen, schließlich werden wir unsere Vorstellungen von einem guten Leben in Zukunft nicht unabhängig von KI verwirklichen können. Aber mit dieser individuellen Ebene ist eine gesellschaftspolitische Ebene verknüpft. Eine persongerechte KI-Gesellschaft entsteht nicht von alleine. Es ist die Verantwortung der Politik auf der Basis gesellschaftlicher Debatte und Verständigung, die Transformation zu gestalten. KI ist ein Querschnittsthema und droht deswegen ohne klare Zuständigkeit aus der Politik zu verschwinden. Ein KI-Minister oder eine KI-Ministerin, die auch die anderen digitalen Fragen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft behandelt, ist aus dieser Perspektive sinnvoll.
Der Autor
Alexander Filipović ist Professor für Sozialethik am Institut für Systematische Theologie und Ethik der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Er arbeitete 2018-2020 als sachverständiges Mitglied in der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur Künstlichen Intelligenz und forscht zu sozialethischen Problemen der KI.