Kirchenhistoriker Damberg über Priesterberufungen und Kirchgängerzahlen

"Das Konzil ist nicht an allem Schuld"

Veröffentlicht am 07.01.2015 um 00:10 Uhr – Lesedauer: 
Mit Kardinälen voll besetztes Kirchenschiff
Bild: © KNA
Dossier: Zweites Vatikanisches Konzil

Bochum ‐ Der Bochumer Kirchenhistoriker Wilhelm Damberg warnt davor, das Konzil für die Krisenerscheinungen in der Kirche verantwortlich zu machen. Der Rückgang von Kirchenbesuchern und Priesterberufungen habe bereits früher eingesetzt, betont er.

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Frage: Herr Professor Damberg, die Piusbrüder und viele konservative Katholiken machen das Zweite Vatikanische Konzil für die gegenwärtige Krise der Kirche verantwortlich. Können Sie das aus den wissenschaftlichen Daten bestätigen?

Damberg: Nein, das kann ich nicht. Solche Einschätzungen haben viel mit privaten Erinnerungen und Enttäuschungen zu tun. Diese Menschen haben mitbekommen, dass die geschlossene katholische Welt, die sie vielleicht selbst in ihrem eigenen Umfeld noch erlebt haben, zusammengebrochen ist. Und dafür werden dann das Konzil oder die Abkehr von der lateinischen Messe verantwortlich gemacht. Wenn man aber die kirchlichen Statistiken der vergangenen Jahrhunderte anschaut, dann muss man sagen, dass diese Veränderungen Ergebnis von sehr langwierigen Prozessen sind.

Frage: Können Sie konkrete Beispiele nennen?

Damberg: Nehmen Sie beispielsweise den Priestermangel. Über den wird schon im 19. Jahrhundert geklagt, und nicht ohne Grund. Nehmen wir das Erzbistum München und Freising: Dort gab es 1830 450.000 Katholiken und 1.094 Diözesanpriester; um 1900 hatte sich die Zahl der Katholiken wegen des allgemeinen Bevölkerungswachstums auf ca. 950.000 mehr als verdoppelt, aber die Zahl der Priester war praktisch konstant geblieben und lag immer noch bei 1.100. Um 1980 gab es dann 2,3 Millionen Katholiken - und 1.277 Diözesanpriester. Die Zahl der Priester ist also erstaunlich konstant geblieben, nur die Zahl der Katholiken ist enorm gestiegen. In den anderen Diözesen verhält es sich im Prinzip nicht anders. Schon 1958 - also kurz vor dem Konzil - fand in Wien ein internationaler Kongress statt, der die Probleme der europäischen Priesterfrage thematisierte.

Wilhelm Damberg (* 3. Mai 1954 in Münster) ist ein deutscher Kirchenhistoriker und Professor für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit an der Ruhr-Universität Bochum.
Bild: ©KNA

Wilhelm Damberg (* 3. Mai 1954 in Münster) ist ein deutscher Kirchenhistoriker und Professor für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit an der Ruhr-Universität Bochum.

Frage: Und wie sieht es bei den Orden aus?

Damberg: Man muss die langfristigen Relationen in den Blick nehmen und nicht nur kurzfristige absolute Zahlen. Dann kommt man auch in Bezug auf die Orden zu ähnlichen Ergebnissen. Die Geschichte der Frauenorden ist in diesem Zusammenhang vielleicht der am meisten unterschätzte Faktor: Parallel zur relativen Stagnation des Priesternachwuchses war es seit 1850 zu einem enormen Aufsschwung der apostolisch tätigen Frauengemeinschaften gekommen: Um 1950 arbeiteten in der Bundesrepublik Deutschland rund 90.000 Schwestern neben 25.000 Priestern; in den USA waren es etwa 120.000 Schwestern und 50.000 Welt- oder Ordenspriester und -brüder. Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg setzte jedoch ein spürbarer Einbruch beim Ordensnachwuchs der Frauen ein, als nur noch halb so viele Frauen in ein Kloster eintraten wie zuvor. Praktisch spürbar wurden die Konsequenzen für die katholische Welt aber erst nach dem Konzil.

Frage: Auch der Gottesdienstbesuch gilt ja als wichtiger Krisenindikator.

Damberg: Richtig ist, dass die Zahlen seit dem Konzil beständig zurückgegangen sind. Richtig ist aber auch, dass die prozentualen Kirchenbesuchszahlen, die es seit den 1920er Jahren gibt, 1935 einen Höhepunkt erreichten. Und von da an ging es - mit einem kurzen Zwischenhoch von 1945 bis 1950 - bereits dauerhaft bergab. Es handelt sich also um einen Prozess von langer Dauer. Schaut man auf die grafische Darstellung des gesamten Jahrhunderts, so ist das Konzil gar nicht groß erkennbar - höchstens als vorübergehende Phase der Beschleunigung.

Frage: Haben die Menschen vor dem Konzil auch schon so empfunden, dass es eine Krise gab?

Damberg: Nehmen Sie beispielsweise Papst Pius XI., der schon in den 1920er Jahren angesichts des "Abgleitens der Gesellschaft in das Heidentum" und der zu geringen Zahl der Priester die Laien unter Berufung auf das "Allgemeine Priestertum" dazu aufrief, auch zu Aposteln des Glaubens, zu "Laienaposteln" zu werden.

Frage: Nicht nur die Piusbrüder, sondern auch manche konservative Katholiken wollen die alte tridentinische Messe wiederhaben, weil sie die würdigste und vollkommenste Form der Messe darstelle. Was sagt der Historiker zu dieser Einschätzung?

Damberg: Schaut man in die Zeit unmittelbar vor dem Konzil zurück, so gab es jedenfalls kein statisches Bild. Eine liturgische Erneuerung war schon in Gang gekommen - was diejenigen Seelsorger begrüßten, die erkannten, dass viele Katholiken kein inneres Verhältnis mehr zur alten Messform hatten. 1960 brachte eine Umfrage unter 9.000 Jugendlichen zutage, dass der Messbesuch kaum emotional besetzt war und vor allem eine Institution sozialen Lebens darstellte. Was sich dort theologisch vollzog, vermochten selbst die eifrigen Jugendlichen kaum zu artikulieren. Die Umfrage wurde übrigens niemals publiziert. Vor diesem Hintergrund ist nicht überraschend, dass es nach der Messreform bei Umfragen eine sehr große Zustimmung gab.

Frage: Ist also auch Romantisierung dabei, wenn sich manche Katholiken die alte Messe zurückwünschen?

Damberg: Ich sehe das so. Gerade diese Umfrage von 1960 zeigt, dass es eine nicht mit den Tatsachen übereinstimmende Erinnerung ist, wenn man meint, dass die Menschen damals während der Messen stundenlang andächtig lateinischen Gebeten und Gesängen gelauscht hätten. Fakt ist - das spiegeln auch die Ermahnungen des Klerus wider -, dass viele Leute zu spät in den Gottesdienst kamen oder sich während eines Teils der Messe außerhalb der Kirche aufhielten. Dass sie auch gleich nach der Wandlung wieder gingen, weil sie mit dem Besuch der Wandlung ihre Messpflicht erfüllt hatten. Während der lateinischen Messe beteten viele mit einem privaten Gebetbuch oder den Rosenkranz. Die meisten kommunizierten ja auch nicht, weil sie das Nüchternheitsgebot nicht einhalten konnten oder auch nicht vorher gebeichtet hatten. Gerade bei den Jüngeren ging damals die Beichtfrequenz schon deutlich zurück - was wiederum auch Rückwirkungen auf den Gottesdienst hatte. All diese Zusammenhänge sind den meisten, wenn sie heute von der "alten Messe" sprechen, gar nicht mehr bekannt.

Frage: Also ist die Liturgiereform des Konzils nicht einfach vom Himmel gefallen?

Damberg: Auch diese Reform hat einen langen Vorlauf. Schon seit den 1920er Jahren hatte die Liturgiebewegung die Idee der "participatio actuosa", der aktiven Teilnahme an der Liturgie, auf ihre Banner geschrieben und damit ein neues Kirchenverständnis verbunden. Einzelne Jugendgruppen feierten die "missa versus populum" schon damals. In diesem Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts - und nur in diesem - können wir übrigens in Deutschland tatsächlich auch einen steigenden Gottesdienstbesuch beobachten. Allerdings: Dass es sich dabei um eine verkappte Protestantisierung handele, ist auch damals schon ein Vorwurf an die Neuerer gewesen. Pius XII. hat sich dieser Einschätzung aber nicht angeschlossen.

Das Interview führte Christoph Arens (KNA)

Zur Person

Wilhelm Damberg (* 3. Mai 1954 in Münster) ist ein deutscher Kirchenhistoriker und Professor für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit an der Ruhr-Universität Bochum.