Papst-Experte: Franziskus warnt vor Idealisierung vergangener Epochen
Einerseits muss er mutig sein, andererseits der Tradition und der Lehre treu bleiben – und immer auf den Heiligen Geist hören. Klar, dass Papst Franziskus oft missverstanden wird, weil er viele Güter abwägen muss, meint der britische Journalist und Vatikanexperte Austin Ivereigh. Er gilt als profunder Kenner von Papst Franziskus und schrieb bereits 2014 eine Biografie über das argentinische Kirchenoberhaupt mit dem Titel "The Great Reformer". Fünf Jahre später folgte die zweite Biografie "Wounded Shepherd", gefolgt von dem gemeinsamen Buch mit dem Pontifex "Wage zu träumen". Zuletzt merkte der Experte in den Medien an, dass das neue Papst-Buch nicht viel Neues enthalte. Was Franziskus jedoch mit "Hoffe" erreichen will, warum Traditionalisten darin schlecht wegkommen und warum das Buch dennoch lesenswert ist, erklärt Ivereigh im Interview mit katholisch.de.
Frage: Herr Ivereigh, Sie haben kürzlich in einem Artikel geschrieben, die Autobiografie des Papstes "Hoffe" enthalte viel aufgewärmtes öffentliches Material. Das Neue komme nicht von Franziskus. Was wäre das?
Ivereigh: Es gibt "Neues" in der Autobiografie, beispielsweise eine Reihe von Geschichten und Anekdoten, vor allem über seine Kindheit, die sehr gut beschrieben und erzählt wird. Aber es ist keine Autobiografie in dem Sinne, dass er seine Lebensgeschichte über die frühen zwanziger Jahre hinaus erzählt. So besteht der größte Teil des Buches aus seinen Reflexionen über aktuelle Themen mit gelegentlichen Ausflügen in die Vergangenheit. Und diese Reflexionen ähneln denen des Buches "Leben" vom letzten Jahr. Es handelt sich also um eine Überarbeitung bereits vorhandener Texte, die allen, die das Pontifikat aufmerksam verfolgen, bekannt sind: Die Presseinterviews und die vielen offenen Fragestunden mit Jesuiten, denen er auf seinen Reisen begegnet, oder mit Gruppen, die er in Rom empfängt.
Frage: Gab es für Sie also keine Überraschungen?
Ivereigh: In diesem Sinne enthält das Buch nur wenige Überraschungen. Es gibt auch Momente, in denen Material eingefügt wurde, wahrscheinlich vom Co-Autor des Buches, Carlo Musso, um einen Kontext zu schaffen. Manchmal ist das aber nicht gut in den Text integriert. Das jedoch sind Kleinigkeiten. Es ist allemal ein schönes Buch, das uns Franziskus und seine außergewöhnliche Menschlichkeit näher bringt. Sein Humor und seine Weisheit scheinen auf jeder Seite durch.
Frage: Franziskus greift die üblichen Themen auf: Er spricht von Migration, dann von Segnungen Homosexueller, von Begegnungen mit transsexuellen Menschen, er spricht von Frauen in Führungspositionen, betont noch einmal, dass die Frage des Frauendiakonats offen sei. Was will Franziskus mit dieser Autobiografie eigentlich erreichen?
Ivereigh: Ich habe nicht im Detail mit ihm darüber gesprochen und kann daher nicht sagen, was er konkret erreichen wollte. Aber der italienische Verlag Mondadori hat ein TikTok-Video von Papst Franziskus veröffentlicht, in dem er dem Co-Autor dafür dankt, dass er ihm geholfen habe, sich an Details seines Lebens zu erinnern. Er sagt: "Es ist eine Autobiografie, aber für mich sind Autobiografien dazu da, Gott für das Gute zu danken, das er in meinem Leben getan hat. Der eigentliche Protagonist ist der Herr, der meine Hand gehalten und mich vorwärts geführt hat." Das gibt uns also einen Hinweis. Ganz allgemein würde ich sagen, dass dies das letzte in einer Reihe von Büchern ist, die er seit 2020 in Zusammenarbeit mit Autoren oder Herausgebern geschrieben hat. Das erste war unser Corona-Lockdown-Buch, "Wage zu träumen" (2020), das dieses neue Genre der päpstlichen Kommunikation hervorgebracht hat.
Frage: Wie sieht dieses Genre aus?
Ivereigh: Es ermöglicht Franziskus, mit einem breiten und vielleicht neuen Publikum zu kommunizieren, indem er ein Format verwendet, das irgendwo zwischen der eher formalen Kommunikation des Vatikans und dem oft oberflächlichen Interview in den Nachrichten angesiedelt ist. Er selbst hat nicht die Zeit, ein Buch zu schreiben, aber er hat die Zeit, Fragen zu beantworten und Texte zu überarbeiten, die ein professioneller Autor oder Redakteur aus seinen Antworten erstellt hat. Außerdem profitiert er von den redaktionellen, Marketing- und Vertriebskapazitäten der großen internationalen Verlage. In all diesen Fällen evangelisiert er natürlich, indem er die Fragen der Gegenwart im Licht des Evangeliums behandelt.
Frage: An anderer Stelle übt er scharfe Kritik an den Traditionalisten, spricht von "sektiererischer Modernität", von Affektstörungen und Verhaltensproblemen. Warum greift Franziskus vor allem Traditionalisten an?
Ivereigh: Er greift die Menschen nie an. Er warnt nur vor Versuchungen und Hindernissen für das geistliche Leben, geht auf das sogenannte "Phänomen des Traditionalismus" ein, die Idealisierung vergangener Epochen, und erklärt, warum er den Gebrauch des vorkonziliaren Messbuchs regeln musste: Weil es "ungesund ist, wenn die Liturgie zur Ideologie wird". Zu Recht sieht er hinter dem Gewandfetischismus und dem rigiden Moralismus einiger junger Seminaristen ungelöste psychologische Probleme und stellt klar, dass es keine pastorale Notwendigkeit oder Sehnsucht nach Traditionalismus gibt. Aber ich glaube nicht, dass er den Traditionalismus anprangert; er wendet sich auch sehr entschieden gegen das, was von Seiten Progressiver kommt, und führt als Beispiel die Gender-Theorie an.
Frage: Warum aber spricht Franziskus nicht mehr über die Reform der römischen Kurie oder über die Akten zu Missbrauchs- und Korruptionsfällen, die ihm sein Vorgänger übergeben hat?
Ivereigh: Ich weiß es natürlich nicht, weil ich nichts mit dem Buch zu tun hatte. Wenn ich aber raten müsste, ist es vermutlich eine redaktionelle Entscheidung gewesen. Sie wollten ein warmherziges, persönliches und spirituelles Buch und keine Entschuldigung für politische und administrative Entscheidungen.
Frage: Während er die Zukunft der Kirche optimistisch sieht, kritisiert er an anderer Stelle Reformvorhaben in einigen Ländern. Wie kommt es, dass die einen in Franziskus einen Konservativen sehen und die anderen einen progressiven, teilweise häretischen Papst?
Ivereigh: Es ist ganz normal, dass Päpste sowohl Konservative als auch Progressive enttäuschen und durch die verzerrende Brille der Ideologie gesehen werden. Franziskus ist da keine Ausnahme. Er wird oft missverstanden, weil seine Entscheidungen auf seinem Urteilsvermögen beruhen, das viele Güter abwägen muss: Er muss mutig und prophetisch sein, aber gleichzeitig der Tradition treu bleiben und seine Herde zusammenhalten – und schließlich offen für das Wirken des Heiligen Geistes. Es ist nicht verwunderlich, dass viele dieser Entscheidungen nicht den Erwartungen der Menschen entsprechen.
Frage: Warum ist die Autobiografie des Papstes trotzdem lesenswert?
Ivereigh: "Hoffe" ist lesenswert, weil es Franziskus von seiner nachdenklichsten Seite zeigt, im Rückblick auf ein außergewöhnliches Leben. Er ist ein erstaunlicher Mensch, dessen Demut und Heiligkeit inspirierend sind, und der Aufruf zur Umkehr, den er an uns richtet, ist das, was unsere Zeit hören muss.