Serie zum Gotteslob: Den Glauben singen – Teil 1

"So sie's nicht singen" – Die Entstehung des deutschen Gemeindelieds

Veröffentlicht am 26.06.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
Ein historisches Gesangbuch
Bild: © KNA

Essen ‐ Die deutschen Lieder der Reformation verbreiteten sich so rasch wie ihre Lehre. Doch auch katholische Gesangbücher ließen nicht lange auf sich warten – so beginnt die lange Tradition des deutschen Gemeindelieds. Unser Gastautor Stefan Klöckner führt in die neue katholisch.de-Serie zum Gotteslob ein.

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Es war kurz vor Weihnachten im Corona-Jahr 2020: In einem der öffentlich-rechtlichen Sender wurde ein Bericht über die Advents- und Weihnachtsgottesdienste ausgestrahlt. Eine ältere Frau stand Rede und Antwort, was ihr denn in diesem Jahr am meisten gefehlt habe: "Das gemeinsame Singen der Lieder", sagte sie mit einem traurigen Gesicht. "Sonst ist da immer mein Herz aufgeblüht." Und leise fügte sie hinzu: "Ohne 'Macht hoch die Tür' wird es doch nicht Advent, oder?"

Wie dieser Frau ging es sehr vielen Christen – über die Konfessionsgrenzen hinweg. Ein Gottesdienst ohne Gesang, ohne Lieder – das ist im wahrsten Sinne des Wortes sang- und klanglos gewordener Glaube, fade wie ungewürztes Essen. Viel gäbe es zu sagen oder zu schreiben über die wissenschaftlichen Erkenntnisse, wie zentral das Singen in sozialer, emotionaler, physischer und psychischer Hinsicht ist; aber kaum ein Ereignis hat den Menschen die Bedeutung des Singens so sehr vor Augen geführt wie das Interdikt, das mit der Corona-Pandemie einherging: Nun weiß man, was man dran hatte!

Die Entstehung muttersprachlicher Gesänge

Singen und Glauben sind aufs Engste miteinander verbunden: Der Glaube drängt zum Sich-Äußern im Gesang – die Lieder stellen die vielen Farben bereit, um den unterschiedlichen Facetten des Ringens, Zweifelns, Jubelns und Bekennens Ausdruck zu verleihen. Kaum jemand hat das besser ins Wort gebracht als Martin Luther, als er feststellte: "So sie's nicht singen, gleuben (glauben) sie's nicht!"

Dass sich aus der lateinischsprachigen christlichen Liturgie des abendländischen Frühmittelalters einmal ein großes Repertoire muttersprachlicher Gesänge entwickeln würde, war weder selbstverständlich noch zu Beginn abzusehen. Nicht lange nach der Einführung des Gregorianischen Chorals im Frankenreich scheint die Beteiligung des Volkes bei Prozessionen und Bittgängen jedoch dazu geführt zu haben. So taucht mit dem "Freisinger Petruslied" (um 880/900) das erste Beispiel eines altbairischen Bitt-Gesangs auf, der zu diesen Gelegenheiten gesungen worden ist.

Als weiteres Beispiel sei das Osterlied "Christ ist erstanden" genannt, das bereits im 12. Jahrhundert entstanden und in liturgischen Handschriften dieser Zeit nachweisbar ist – so in einem um 1180 geschriebenen Liber ordinarius: "Populus intonet (Das Volk beginne zu singen) Khrist ist erstanden"; über dem Textincipit finden sich hochmittelalterliche Neumen, also Musikzeichen, die auf Gesang schließen lassen. Möglicherweise sang man dieses Lied direkt zur oder nach der Sequenz "Victimae paschali laudes", die im Ostergottesdienst von den Klerikern vorgetragen wurde; eine enge melodische Verwandtschaft zwischen den beiden Liedern ist auf jeden Fall nicht zu leugnen.

Luther im Kreise seiner Familie musizierend
Bild: ©Public Domain / https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=9091147

Martin Luther dichtete selbst Liedtexte und komponierte eigene Melodien dazu. Seine deutschen Lieder waren nicht nur für den Gottesdienst bestimmt, sondern prägten auch die religiöse Bildung und das Privatleben. ("Luther im Kreise seiner Familie musizierend", Gemälde von Gustav Spangenberg um 1875)

Eine ganz neue Qualität erlangte das Singen muttersprachlicher Gesänge im Gottesdienst jedoch durch die Reformation. Martin Luther selber war im Dichten und Komponieren von Liedern sehr virtuos; er nutzte dafür gerne auch Vorlagen des Gregorianischen Chorals wie Hymnen, Sequenzen und Antiphonen. So formte er beispielsweise aus dem Adventshymnus "Veni redemptor gentium" das Lied "Nun komm, der Heiden Heiland"; aus der Antiphon "Media vita in morte sumus" entstand "Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen" – und aus "Da pacem, Domine, in diebus nostris" wurde "Verleih uns Frieden gnädiglich".

Die Lieder Luthers und seiner Zeitgenossen verbreiteten sich mindestens so rasch wie seine Traktate. Der Reformator schuf sie nämlich nicht nur für den Gottesdienst, sondern für Katechese und gute Bildung. Sein Konzept verriet er im Vorwort zu einem der ersten reformatorischen Gesangbücher, dem "Erfurter Enchiridion", das 1524 gedruckt wurde: Die Lieder seien "dazu auch in vier Stimmen bracht … nicht aus anderer Ursache, denn daß ich gerne wollte, die Jugend, die doch sonst soll und muß in der Musica und anderen rechten Künsten erzogen werden, etwas hätte, damit sie die Buhllieder und fleischlichen Gesänge los würde und an derselben statt etwas heilsames lernete, und also das Gute mit Lust wie den jungen Geburt (wie mit der Muttermilch) einginge." Die Rezeptur: ein guter Text, der sich qualitativ abhebt von dem anderer Gesänge – und ein musikalisch packendes Gewand: eine schöne Melodie, gekonnte Vierstimmigkeit ...

Katholische Antwort auf ein protestantisches Erfolgsrezept

Den Glauben nicht nur betend, sondern auch singend zu verbreiten und das auch noch in der Muttersprache zu tun, war einer der klügsten Schachzüge der Reformation. Wohl kaum etwas hat sich so nachhaltig auf die geistliche Kultur ausgewirkt wie das deutsche Kirchenlied, das sich ab dem Beginn des 16. Jahrhunderts rasant und flächendeckend verbreitete. Es war so erfolgreich, dass es rasch auch katholische Gemeinden ergriff – in denen man aber schnell erkannte, welche Gefahr dort drohte, wo deutsche evangelische Lieder mit der Musik einen unerwünschten theologischen Inhalt transportierten. Es zu verbieten hatte keinen Sinn; die einzige Chance war, selbst Sammlungen herauszugeben: So erschienen 1537 (ediert vom Dominikanerpater Michael Vehe) und 1567 (Herausgeber war der Bautzener Dompropst Johannes Leisentrit) große Gesangbücher mit katholischen deutschen (!) Liedern.

Wenn sich in Deutschland eine so starke Liedtradition auch auf katholischer Seite herausgebildet und bis in die Gegenwart gehalten hat, so liegt dies also nicht zuletzt an der evangelischen Herausforderung. Es war wohl auch dieser Tatbestand, der einen ungenannten Kardinal auf dem Konzil von Trient seufzen ließ: "Mit ihren Liedern haben sie uns mehr geschadet als mit all ihren theologischen Schriften!"

Inzwischen hat man sich auf die gemeinsamen Wurzeln besonnen und viele Lieder in ökumenischen Fassungen bereitgestellt: Bei diesen mit "ö" markierten Liedern stimmen Text und Melodie in den Gesangbüchern der unterschiedlichen Konfessionen überein; wo Abweichungen in der Strophenzahl oder im Text bestehen, wird dies durch das eingeklammerte "(ö)" angezeigt. Auch wurden bereits gemeinsame Gesangbücher herausgegeben, vornehmlich auf dem Gebiet des sogenannten Neuen Geistlichen Liedes. Schließlich ist dieses spezielle Kirchenlied-Repertoire, das stark von der Popularmusik beeinflusst wird, konfessionell nicht mehr spezifisch zuzuordnen.

Römische Widerstände – damals und heute

Was Wunder, dass römische Wächteraugen diese nun über Jahrhunderte gewachsene Gemeinsamkeit mit Argwohn und Skepsis betrachten, stehen die deutschen Katholiken doch dort seit langer Zeit sowieso unter dem Generalverdacht schleichender Protestantisierung. Zudem gilt es manchem heute noch (oder wieder) als problematisch, das muttersprachliche Kirchenlied als vollgültigen Ersatz des offiziell aller Kirchenmusik vorgeordneten Gregorianischen Chorals zu akzeptieren.

Dies ist – historisch betrachtet – nichts Neues: Schon der bereits erwähnte Bautzener Propst Leisentrit, der im 16. Jahrhundert das deutsche Lieder- und Psalmensingen einführen wollte, um die Gemeinde zu binden, wurde von Rom daran gehindert. Ähnlich erging es dem letzten Konstanzer Generalvikar und gewählten (aber nie bestätigten) Bischof Ignaz Heinrich von Wessenberg, einem profilierten Vertreter des aufgeklärten Katholizismus: Seine Bemühungen, in seinen Gemeinden ein Bistumsgesangbuch mit deutschen Liedern und Psalmen zu etablieren, liefen seinerzeit ebenfalls ins Leere – das Bistum Konstanz wurde kurzerhand aufgelöst! Die deutschen Psalmen des Bistumsverwesers Wessenberg sind übrigens im gemeinsamen Gotteslob-Anhang von Freiburg und Rottenburg-Stuttgart (den Erben des Bistums Konstanz) bis heute präsent.

Deutlich zutage traten die Konflikte um das Kirchenlied noch einmal im Zuge der Erstellung des 2013 erschienenen Gemeinsamen Gebet- und Gesangbuches (GGB) "Gotteslob". Die Probleme begannen im Jahr 2001 mit der Instruktion "Liturgiam authenticam", die den "Gebrauch der Volkssprache bei der Herausgabe der Bücher der römischen Liturgie" regelt. In Artikel 108 dieser Instruktion wird über die liturgischen Gesänge und Hymnen (also die Kirchenlieder), die in der sonntäglichen Messe zum Einsatz kommen, festgestellt: "Wenn sie beim gläubigen Volk weiter verbreitet sind, sollen sie von hinreichend fester Gestalt sein, so dass im Volk eine Verwirrung vermieden wird."

Das alte und das neue Gotteslob nebeneinander
Bild: ©Bistum Mainz

Nach rund zwölfjähriger Vorbereitung wurde 2013 das Gemeinsame Gebet- und Gesangbuch (GGB) "Gotteslob" veröffentlicht und löste damit das "alte" Gotteslob von 1975 ab. Die mit "ö" markierten Lieder gehören zum ökumenischen Liedgut – bei ihnen stimmen Text und Melodie in den Gesangbüchern der verschiedenen Konfessionen überein.

Als Konsequenz hatte jede Bischofskonferenz eine Liste mit den muttersprachlichen Gesängen, die für die Feier der Messe vorgesehen sind, in Rom zur Rekognoszierung vorzulegen. Die implizite Unterstellung, die Deutsche Bischofskonferenz sei nicht katholisch genug, um selbst entscheiden zu können, welches Lied in den Gemeinden gesungen werden kann, ohne dass dieselben "verwirrt" werden (was auch immer man in Rom darunter verstanden haben will), brachte nicht wenige Bischöfe auf die Palme – darunter sogar den damaligen Vorsitzenden der Liturgiekommission, Kölns Kardinal Joachim Meisner, nicht eben bekannt für eine romkritische Haltung.

Die Konsequenz aus diesen Vorgängen sind übrigens zwei kleine Buchstaben – "Li" –, die im neuen Gotteslob über Abschnitten mit Liedern stehen, welche für die "Feier der Liturgie" geeignet sein sollen. Wer diese Buchstaben bis jetzt nicht entdeckt hat, braucht sie allerdings nicht mehr eigens zu suchen: Angesichts einer derart starken und lebendigen Liedtradition wie der deutschsprachigen ist es unmöglich, auf diese Weise normierend eingreifen zu wollen nach dem Motto – Luthers Diktum variierend –: "So sie dies singen, glauben sie's nicht!"

Interessanterweise gab es diese Probleme bei der Herausgabe des ersten Gotteslobs von 1975 nicht. Offensichtlich reichte der Reformimpetus des Zweiten Vatikanischen Konzils in Rom damals noch aus, derartige Fragen in ortskirchlicher Kompetenz regeln zu lassen. Eine gute Entscheidung, denn die deutschen Bischöfe waren in Sachen Gesangbuch schon vorher tätig geworden, indem sie 1947 die "Einheitslieder" herausgegeben hatten: eine Sammlung von 74 Liedern, die verbindlich als gemeinsames Repertoire der deutschen Bistümer gelten und ein einheitliches Gesangbuch vorbereiten sollten.

Ein Schatz, der alle Facetten des Glaubens umfasst

Die Geschichte unserer Gesangbücher zeigt eines sehr deutlich: Die jeweilige Auswahl der Lieder und Gesänge ist von zwei Achsen geprägt – einer vertikalen, die sehr stark von den Bedürfnissen und Geschmäckern einer Zeit bestimmt ist, und einer horizontalen, die gleichsam einen diachronen Abriss der Kirchenliedgeschichte bietet. Auf diese Weise wird auch in den beiden Editionen des Gotteslobs (1975 und 2013) der riesige Schatz deutlich, den die Geschichte des deutschen Kirchenliedes inzwischen angehäuft hat. Durch die zahlreichen ökumenischen Verbindungen (wie die Arbeitsgruppe "Ökumenisches Liedgut"/AÖL) konnten die Konfessionen in den letzten Jahrzehnten voneinander viel lernen und auch übernehmen. Zudem haben sich in der hymnologischen Arbeit gemeinsame Standards herausgebildet, wie mit Liedern, ihren Quellen und ihrer Rezeption umzugehen ist.

Man kann und darf den Schatz unserer Kirchenlieder mit den Psalmen vergleichen, die ja schließlich auch eine Art "Gesangbuch" (sogar zweier Religionen) sind. Wie bei den Psalmen ist auch beim Kirchenlied die Vielfalt der Stimmungen und Anliegen, der Formen und Themen, die zum Ausdruck gebracht werden, das eigentlich Wertvolle. Nichts sollte hierbei ausgeblendet sein – auch das Klagen und das Anklagen muss neben dem Lob und dem Jubel seinen Platz haben, eben die ganze Spannbreite der Regungen des Glaubens, die aus dem betenden Herzen zur Stimme drängen. So atmen wir singend das aus, was Gott bei der Schöpfung in den Menschen hineingeatmet hat und was seitdem als sein Geist in uns seufzt, wenn wir nicht wissen, "worum wir in rechter Weise beten sollen" (Röm 8,26). Möglicherweise hat der Märtyrerbischof Ignatius von Antiochien das gemeint, als er im Jahr 107 an eine Gemeinde schrieb: "Nehmt Gottes Melodie in euch auf!"

Von Stefan Klöckner

Der Autor

Der Musiker, Musikwissenschafter und Theologe Stefan Klöckner (*1958) ist Professor für Musikwissenschaft/Geschichte der Kirchenmusik und Gregorianischen Choral an der Folkwang Universität der Künste in Essen. Als Gründer und Leiter des "ensemble VOX WERDENSIS" widmet er sich der Interpretation mittelalterlicher Musik.