Luthers "Aus tiefer Not": Prototyp einer neuen Liedgattung
Die Psalmen sind liturgischer Grundstoff im jüdischen wie im christlichen Gottesdienst. Das klassische Klanggewand des christlichen Psalmgebets sind die gregorianischen Psalmmodelle. Auch wenn diese Klangwelt im Gotteslob (GL) gut repräsentiert ist, führt doch nichts an der Feststellung vorbei, dass es eine geübte Gruppe braucht, um das Geheimnis echter Einstimmigkeit in seiner Tiefe zu einem Erlebnis werden zu lassen. Häufig geht es im Gottesdienst responsorial zu: Die Gemeinde "respondiert" mit dem stets gleichbleibenden Vers, während die Kantorin den Psalm vorträgt. Wie aber kommt eine – nun vielleicht nicht sonderlich geübte – Gemeinde in nichtresponsorialer Praxis zum Singen ganzer Psalmen oder wenigstens von Teilen daraus?
Vor dieser Frage stand Martin Luther, als er 1523 nach langem Zögern begann, über Gottesdienstreformen nachzudenken und die liturgischen Konsequenzen aus seinen die damalige Kirche in den Fundamenten erschütternden theologischen Neuansätzen zu ziehen. Er bearbeitete die Messliturgie, die Gemeinde bekam einen aktiven Part, die liturgische Konsequenz des Priestertums aller Glaubenden. Luther ging zunächst an die Propriumsgesänge, also jene Teile der Messfeiern, die an jedem Sonntag oder Fest unterschiedlich sind, dem Text nach allesamt Psalmgesänge.
"Den Sinn behalten und die Worte fahren lassen"
Seine Idee war, sich der bekannten Form des Strophenliedes zu bedienen, und auch singbare Melodien zu finden, wobei schon damals die Leute den Eindruck gehabt haben dürften, dass Luthers Lieder nicht immer leicht zu singen sind. Deshalb traten auch erstmal die neuen Gemeindechöre in Aktion. Im Sommer 1523 jedenfalls hatte Luther mit 40 Jahren sein erstes Lied geschrieben, "Ein neues Lied wir heben an", eine Ballade, mit der er den Feuertod der ersten Märtyrer der Reformation auf dem Brüsseler Marktplatz im emotionalen Medium des Liedes publizierte und gleichzeitig theologisch deutete.
Ende 1523 schreibt Luther einen Brief an Georg Spalatin. Der ist Jurist, Theologe, persönlicher Sekretär und Beichtvater des in Wittenberg residierenden Kurfürsten Friedrich des Weisen. Luther bittet Spalatin, ihm bei der Suche nach Dichtern zu helfen, denn er, Luther, wolle in die lateinische Messe deutsche Psalmgesänge einfügen, "damit das Wort Gottes auch durch den Gesang unter den Leuten bleibe". Dabei ging es ihm nicht um wortwörtliche Übertragung Vers für Vers, sondern darum, die theologischen Kerngedanken in freiem Umgang mit der biblischen Vorlage herausheben, "pro captu vulgi" – entsprechend dem Fassungsvermögen des Volkes. Die Lieder sind also Psalmübertragungen und -erklärungen in einem.
Nach Luthers Bibelverständnis ist Christus das Zentrum der Heiligen Schrift, von dem her die ganze Bibel ihren Sinn erhält, also auch die Psalmen. Wenn im Psalm von Gottes Gnade und Erlösung die Rede ist, kann das für Luther nur Gnade und Erlösung durch Christus sein. So wird verständlich, warum Luther mit der Vorlage frei verfährt und an Spalatin schreibt: "man muss den Sinn behalten und die Worte fahren lassen".
Zuerst denkt Luther an die sieben Bußpsalmen. In seinen "95 Thesen" von 1517, eine der Initialzündungen der Reformation, legte Luther dar, dass das ganze Leben der Christen eine Buße sei, aber nicht als fromme Leistung, die eigenes Versagen wieder gutmacht, sondern als permanente Übung des Glaubens, der dieses Gut- und Gerechtmachen allein Gott zuschreibt. Für eine Psalmübertragung wählt Luther als erstes und, wenn man so will, als Experiment den 130. Psalm. Im Brief an Spalatin schreibt er: "De profundis a me versus est." Heißt: "Aus der Tiefe", der 130. Psalm, "ist von mir gewendet", also ins Deutsche übertragen.
Aufgrund dieser Anmerkung ist davon auszugehen, dass Luther seinem Brief ins Wittenberger Schloss als Beispiel dafür, wie er sich die deutschen Psalmgesänge vorstellt, das Lied "Aus tiefer Not schrei ich zu dir" beigelegt hat. Es zählt also zu den frühesten Liedern der Reformation, und Luther hat damit nichts weniger als eine neue Liedgattung erfunden: das Psalmlied. Der Prototyp ist "Aus tiefer Not schrei ich zu dir".
Erfolgsgeschichte einer neuen Liedgattung
Sieben Psalmlieder hat Luther geschrieben. In den neuen evangelischen Gottesdiensten rücken sie an die Stelle der alten lateinischen Propriumsgesänge der Schola oder des Klerus, übernehmen aber auch andere liturgische Funktionen als Eingangs- und Graduallied, auch als Abendmahlslied.
Das Psalmlied wurde, mit dem "Genfer Psalter" eine Generation später vor allem im französischsprachigen Bereich, eine ausgesprochene Erfolgsgeschichte (wie etwa "Nun saget Dank", GL 385). Da wollte auch die katholische Seite nicht nachstehen. Insbesondere der Kölner Priester und Universitätsrektor Caspar Ulenberg machte 1582 in seinem Liederbuch "Psalmen Davids in allerlei Teutsche Gesangreimen gebracht" deutliche Anleihen am Genfer Psalter, wie man an "Nun lobet Gott im hohen Thron" (GL 393) sehen kann. Allerdings hatten volkssprachliche Gesänge in der römischen Messe damals nicht den Hauch einer Chance, sie wurden mehr in Seelsorge und Katechese verwendet.
Zurück zu Luthers "Aus tiefer Not": Es gehört in allen Lieder- und Gesangbüchern der Reformationszeit, die 1524 zu erscheinen beginnen, zum eisernen Bestand. Das Lied wird von Anfang an in zweierlei Fassungen überliefert, einer vier- und einer fünfstrophigen Fassung. In den frühesten Liederbüchern von 1524, dem "Achtliederbuch" und dem "Erfurter Enchiridion", steht die vierstrophige Fassung; die fünfstrophige Version im ebenfalls 1524 in Wittenberg erschienenen "Geistlichen Gesangbüchlein", an dem Luther mitgearbeitet hat, und in den später von Luther selbst herausgegebenen Gesangbüchern. Die Frage, welche Fassung die ursprüngliche ist, bleibt umstritten, vielleicht ist die fünfstrophige Langfassung diejenige, die Luther zuerst geschrieben hat. In der evangelischen Welt ist sie die übliche.
Im heutigen Gotteslob steht das Lied in vier Strophen (GL 277), aber das ist nicht einfach die ursprünglich vierstrophige Fassung. Im Vorgängergesangbuch von 1975 hatte das Lied drei Strophen (GL 163), zusammengekürzt aus der ursprünglichen vierstrophigen Fassung. Die vier Strophen im Gotteslob von 2013 kommen aus der fünfstrophigen Fassung, sind aber auch "zusammengekürzt".
Bereits die erste Strophe zeigt, wie Luther vorgeht. Im Psalm heißt es in Luthers Übersetzung: "Lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens". Im Lied steht: "Dein gnädig Ohren kehr zu mir…", denn wenn Gott hört beziehungsweise erhört, ist schon das ein Akt der Gnade, und das muss gesagt werden. Die Singular-Version im Gotteslob "dein gnädig Ohr neig her zu mir" dürfte der Einheitsübersetzung angeglichen sein.
Glaube, Vergebung, Gnade – eine theologische Eruption
Auch wenn das Wort "Glaube" weder in Luthers Text noch im Psalm vorkommt, ist doch das ganze Lied eben darauf abgestellt – sowie auf die Rechtfertigung "sola fide", allein durch den Glauben. Das wird deutlich in der ursprünglich zweiten Strophe der fünfstrophigen Langfassung, die im Gotteslob aber fehlt. Sie lautet: "Bei dir gilt nichts denn Gnad und Gunst, / die Sünde zu vergeben; / es ist doch unser Tun umsonst / auch in dem besten Leben. / Vor dir niemand sich rühmen kann, / des muss dich fürchten jedermann / und deiner Gnade leben." Dieser die Rechtfertigungslehre zuspitzenden Strophe entspricht der 4. Psalmvers: "Denn bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte."
Wenn Luther das Wort Vergebung liest, kommt es zu einer theologischen Eruption. Den Ausdruck kann Luther nicht einfach nur übertragen, er muss auch in seiner Bedeutung ausgelegt werden. Mit der "Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre" von 1999 ist der konfessionelle Streit um die Rechtfertigungslehre zwar offiziell beigelegt, aber nicht erledigt, wie das Verschweigen dieser Strophe anzeigt. Deshalb ist das "ö" unter der Liednummer auch eingeklammert. Da die originale zweite Strophe fehlt, knüpft die zweite Strophe im Gotteslob mit "Darum" am Strophenbeginn an die Klage der ersten Strophe an und nicht an die Rechtfertigungsbotschaft der ursprünglichen zweiten, im Gotteslob aber verschwiegenen Strophe.
Die dritte Strophe im Gotteslob überträgt und deutet die Verse 6 und 7 des Psalms und streicht zunächst die Glaubensthematik weiter aus: an Gottes Macht nicht zweifeln, sich über Gottes Handeln keine Sorgen machen. Dann steht im Psalm "Israel hoffe auf den Herrn" und Luther überträgt: "So tu Israel rechter Art". Bei Luthers systematisch antijüdischer Einstellung heißt das, "Israel rechter Art" ist die christusgläubige Kirche, das ungläubige Volk der Juden hat seine Erwählung verspielt. Luther meint das antijüdisch. Wir sind aber an Luthers Lesart nicht gebunden, sondern können das Lied auch singen mit einem neuen Israel-Verständnis, zu dem der christlich-jüdische Dialog geführt hat. "Israel rechter Art" ist demnach das thoratreue Judentum und wir dürfen uns durch den Juden Jesus zum Volk Gottes hinzuzählen – aber nicht gegen das jüdische Israel, sondern mit ihm.
Ökumenische Gemeinschaft – sogar mit Luther
Die vierte und letzte Strophe ist auch die letzte der fünfstrophigen Fassung. Wenn im Psalm in Vers 7 steht "Denn bei dem Herrn ist die Gnade" überträgt und erweitert Luther: "Ob bei uns ist der Sünden viel, bei Gott ist viel mehr Gnade". Damit nimmt er das Pauluswort aus Röm 5,20 auf: "Wo die Sünde mächtig geworden ist, da ist die Gnade noch viel mächtiger geworden." Den Erlöser Israels deutet Luther mit Blick auf Ps 23 als den guten Hirten, womit er mit Joh 10,11 Christus als guten Hirten in den 130. Psalm einträgt, den dieser ursprünglich nicht enthält.
Die Luther zugeschriebene Melodie ist eine der klassischen Gesangbuchmelodien, sie lebt von den charakteristischen Intervallsprüngen, Quinten und Quarten auf- und abwärts, und den phrygisch färbenden Sekundfortschreitungen. In der Kirchenmusik hat sie viele Spuren hinterlassen. Als einziges Beispiel sei Johann Sebastian Bachs Bearbeitung des Liedes im "III. Theil der Clavierübung" erwähnt, mit dem einzigen sechsstimmigen Satz des gesamten Bachschen Orgelwerks, ein monumentales Stück.
Schlussendlich muss aus evangelischer Sicht mit Freude festgestellt werden, dass bei allen strittigen Details inzwischen sogar Lutherlieder zum gemeinsamen Liedgut beider Kirchen zählen und damit im Singen – sogar mit Luther – eine ökumenische Gemeinschaft besteht, die wir bei den eucharistischen Feiern noch schmerzlich vermissen.
Der Autor
Der evangelische Theologe und Kirchenmusiker Bernhard Leube (*1954) arbeitete zunächst als Musikrepetent und Pfarrer in der Württembergischen Landeskirche. Bis zu seiner Emeritierung 2020 war er Professor für Hymnologie, Liturgik und Theologische Grundlagen an der Evangelischen Hochschule für Kirchenmusik in Tübingen.
GL 277: Aus tiefer Not schrei ich zu dir
Aus tiefer Not schrei ich zu dir,
Herr Gott, erhör mein Rufen;
dein gnädig Ohr neig her zu mir
und meiner Bitt es öffne;
denn so du willst das sehen an,
was Sünd und Unrecht ist getan,
wer kann, Herr, vor dir bleiben?
[Bei dir gilt nichts denn Gnad und Gunst,
die Sünde zu vergeben;
es ist doch unser Tun umsonst
auch in dem besten Leben.
Vor dir niemand sich rühmen kann,
des muss dich fürchten jedermann
und deiner Gnade leben.]
Darum auf Gott will hoffen ich,
auf mein Verdienst nicht bauen.
Auf ihn will ich verlassen mich
und seiner Güte trauen,
die mir zusagt sein wertes Wort.
Das ist mein Trost und treuer Hort;
des will ich allzeit harren.
Und ob es währt bis in die Nacht
und wieder an den Morgen,
doch soll mein Herz an Gottes Macht
verzweifeln nicht noch sorgen.
So tu Israel rechter Art,
der aus dem Geist geboren ward,
und seines Gottes harre.
Ob bei uns ist der Sünden viel,
bei Gott ist viel mehr Gnade.
Sein Hand zu helfen hat kein Ziel,
wie groß auch sei der Schade.
Er ist allein der gute Hirt,
der Israel erlösen wird
aus seinen Sünden allen.
Text und Melodie: Martin Luther 1523/24
Die [eingeklammerte Strophe] ist im Gotteslob nicht abgedruckt.