"Sagt an, wer ist doch diese" – Maria als Rätselfigur des Glaubens
Wenn die Orgel die kraftvolle Melodie intoniert, ist die Eingangsfrage des Liedes nur noch eine rhetorische: "Sagt an, wer ist doch diese, die auf am Himmel geht?" Klar, gemeint ist Maria. Ob als Marienlob am Ende des Gottesdienstes oder zur Eröffnung der Maiandacht, es gehört zu den bekanntesten und beliebtesten Marienliedern im Gotteslob.
Anders als viele marianische Schmachtfetzen, die sich nur in den Diözesananhängen finden, weil sie je nach Landstrich mit den verschiedensten Text- und Melodievarianten gesungen werden, ist "Sagt an, wer ist doch diese" schon seit den Anfängen der katholischen Einheitsgesangsbücher fester Bestandteil des gemeinsamen Liedguts aller deutschen Bistümer. Tatsächlich kann das Lob der Gottesmutter als "schönste aller Frauen" aber auf eine sehr viel längere und wechselvolle Geschichte zurückblicken – und enthält mehr Rätselhaftes, als der Einstieg zunächst vermuten lässt.
Die ursprüngliche Fassung des Liedes stammt von dem Priester und Barockdichter Johannes Khuen (1606-1675) und wurde 1638 erstmals veröffentlicht. Dass der Urheber des Textes so eindeutig identifiziert werden kann, ist keine Selbstverständlichkeit für ein Kirchenlied dieses Alters. Vermutlich verdankt sich dieses Wissen dem Umstand, dass Khuen das Lied anlässlich eines weltlichen Ereignisses verfasst hat: nämlich der Hochzeit der Erzherzogin und Kaiserstochter Anna Maria von Österreich mit dem Kurfürsten Maximilian I. von Bayern.
Ein Marianisches Brautlied zu Ehren der Erzherzogin
Johannes Khuen, der aus einer einfachen Bauersfamilie stammte, hatte es nach einem Stipendium am Münchener Jesuitenkolleg bis an die ehrwürdige Stadtpfarrei St. Peter geschafft. Seine volksliedhaften Dichtungen waren äußerst populär und hatten weitreichenden Einfluss: Noch Clemens Brentano nahm 1805 zwei Lieder des Münchener Priesters in seine berühmte Sammlung "Des Knaben Wunderhorn" auf. Zu Ehren Anna Marias veröffentlichte Khuen 1638 sein "Epithalamium Marianum" (Marianisches Brautlied), eine Sammlung von zwölf Liedern, in der auch "Sagt an, wer ist doch diese" enthalten ist. Und mit dieser Widmung an die fürstliche Braut tritt die Mehrdeutigkeit des Liedes zutage:
O gnadenreiche Zeiten, / o gnadenreiche Post,
o Zeitung voller Freuden, / o freudenreicher Trost!
Der Tag ist endlich kommen, / der so vil bei den Frommen
hat tieffe Seuffzer kost.
So lautet die erste Strophe in der Originalfassung von Khuen, mit der er äußerst geschickt eine Verwechslung der Erzherzogin mit der Gottesmutter und umgekehrt ermöglicht. Welchem Ereignis gilt denn nun die "gnadenreiche Post"? Der Titel des Liedes gibt "Ortus Mariae" als offizielle Lösung des Rätsels: Mariä Geburt – aber der Bezug zum weltlichen Fest lässt sich kaum leugnen. In verschiedenen Ausgaben wurde das Lied mit bis zu zwölf Strophen abgedruckt, die "Der Mutter Gottes Ehrentittl" besingen.
Auf ein viele Jahrhunderte älteres Rätsel greift die zentrale Frage-Strophe zurück, die heute am Anfang des Liedes steht. In der ursprünglichen Fassung von Khuen lautet sie:
Sagt mir, wer ist doch dise, / die glantzent herfür geht?
Daß ich den Namen wisse, / sie gleicht der Morgenröth.
Sie kommt herauff von feren, / geziert mit Mon und Steren,
findt Ruhe zu Nazareth.
Hier zitiert der Dichter fast wörtlich aus dem Hohenlied der Liebe. Das alttestamentliche Buch ist eine lose Sammlung profaner Liebesgedichte, die in zärtlicher, teils explizit erotischer Bildsprache die Sehnsucht und die Leidenschaft zweier Liebender beschreibt. An der entsprechenden Stelle werden "sechzig Königinnen, achtzig Nebenfrauen und Mädchen ohne Zahl" aufgeführt, nur um den Kontrast zur Schönheit der eigenen Geliebten hervorzuheben. Und so tuscheln die überbotenen Frauen bewundernd untereinander: "Wer ist, die da erscheint wie das Morgenrot, wie der Mond so schön, strahlend rein wie die Sonne, Furcht erregend wie Heerscharen" (Hld 6,10).
Wer liebt wen? Die Identifikationen verschwimmen
Die Gedichte des Hohenlieds können nicht sicher datiert werden, man nimmt aber eine Entstehung im dritten oder vierten Jahrhundert vor Christus an. Bereits in der hebräischen Bibel wurden die Liebeslieder dem Sängerkönig Salomon zugeschrieben und allegorisch als Ausdruck der Liebe Gottes zu seinem Volk Israel gedeutet – obgleich die Texte an keiner Stelle direkte theologische Bezüge enthalten. Das Christentum knüpfte an diese Deutung an und übertrug sie auf die Kirche: Sie ist die Geliebte Christi, die nach ihm verlangt und seine Nähe sucht. Er ist der göttliche Bräutigam, der sich seine Braut erwählt.
Im Anschluss an die Predigten Augustinus', Bernhards von Clairvaux und anderer nimmt das Hohelied in der mittelalterlichen Mystik eine herausragende Rolle ein und verschwimmen die Identifikationen zwischen der Kirche, Maria und der Seele jedes einzelnen Gläubigen. Gleiches gilt für die ganz ähnlich klingende Beschreibung der apokalyptischen Frau aus der Offenbarung des Johannes: "Dann erschien ein großes Zeichen am Himmel: eine Frau, mit der Sonne bekleidet; der Mond war unter ihren Füßen und ein Kranz von zwölf Sternen auf ihrem Haupt" (Off 12,1). Auch sie wurde in der Theologiegeschichte zunächst mit der Kirche und später mit Maria identifiziert.
Wie im Hohenlied lässt auch Johannes Khuen in seinem Epithalamium eine ganze Reihe von Frauen auftreten, die schließlich von Maria überboten werden: Im ersten Lied der Sammlung, das "Sagt an, wer ist doch diese" unmittelbar vorausgeht, kommen die griechischen Schönheiten Aphrodite, Athena und Helena ebenso vor wie die biblischen Frauen Eva, Sara und Rebecca. Maria aber, die im folgenden Lied besungen wird, übertrifft in der Darstellung des Dichters alle ihre Vorgängerinnen – nicht an Schönheit, obwohl sie "Der Schönheit ein Spectackel" ist, sondern durch ihre Jungfräulichkeit:
Es wird an dir kein Flecken, / kein Mackel nit gespürt.
In Himmels Apotecken / bist worden balsamirt.
Ein Garten bleibst verschlossen / mit Himmels Thaw begossen,
der gut Frücht bringen wird.
Kernbekenntnisse der Gegenreformation
Der "Hortus conclusus" (verschlossener Garten) – ebenfalls eine Anleihe aus dem Hohenlied (Hld 4,12) – war seit dem Mittelalter ein verbreitetes Sinnbild für den Paradieszustand und Marias Jungfräulichkeit. Auf unzähligen Renaissance-Gemälden sieht man die Gottesmutter in einem eingezäunten Garten voller Blumen und zahmer Tiere sitzen. Mit dem Himmelstau, der gute Frucht bringt, umschreibt der Dichterpriester vornehm die Empfängnis Jesu. Zwar gehört die Jungfrauengeburt zum alten Überlieferungsgut des Christentums, doch zur Zeit der Gegenreformation avancierte sie regelrecht zu einem Kernbekenntnis des Katholizismus. In dieser Gedankenwelt war Khuen bei all seiner poetischen Versiertheit durch und durch verhaftet, und so tritt Maria beim ihm vor allem als Vorbild der Keuschheit auf: "Darumb kommt ihr Junckfrawen, / könt euch hierinn beschawen, / der Spiegel gwiß nit fählt."
Dass sich das Lied seit langem größter Beliebtheit erfreut, dürfte wesentlich auch an der Melodie des evangelischen Theologen und Liedkomponisten Joseph Clauder (1586-1653) liegen. Ob Khuen seinen Text gezielt für diese Melodie geschrieben hat oder ob sie erst später damit verbunden wurde, ist nicht bekannt. Ohne Zweifel aber verleiht sie dem Marienlied mit den gleichmäßig dahinschreitenden Achtel- und Viertelnoten, die immer wieder die Dur-Terz von oben und unten umspielen, einen äußerst feierlichen Duktus.
Die siebenversigen Strophen folgen dem Reimschema der sogenannten Lutherstrophe – ab/ab/cc/d – durch das die alleinstehende letzte Zeile jeweils als eine Art Conclusio hervorgehoben wird: "die Braut von Nazaret", "die Freude aller Welt".
Die heute verbreitete Fassung hat eine verzweigte Textgeschichte durchlaufen und hängt mit dem ursprünglichen Lied nur noch bruchstückhaft zusammen: Seine umfangreichste Bearbeitung erfuhr es durch den Jesuiten Guido Maria Dreves (1854-1909), der vor allem als Autor der "Analecta hymnica medii aevi" bekannt wurde, der bislang größten Sammlung mittelalterlicher lateinischer Dichtung. Dreves verband Versatzstücke des Khuenschen Textes gekonnt mit eigenen Gedanken und gab dem barocken Marienlied so einen romantischen Anstrich.
Die Fokussierung auf die Jungfräulichkeit Marias kam dem Hymnologen dabei gut zu Pass. In der Zeit des Kulturkampfes zwischen preußischem Staat und katholischer Minderheit wurden konfessionsspezifische Glaubensinhalte wie das Dogma der Jungfrauengeburt erneut forciert. Und so finden weitere charakteristische Formulierungen Eingang in das Lied: Maria wird nun die "Magd, die makellose" und "strahlt im Tugendkleide", die "Reinheit ihr Geschmeide". Als Ergebnis dieser Überarbeitung sehen Hermann Kurzke und Christiane Schäfer in dem großen Sammelband "Die Lieder des Gotteslobs" ein Lied, das "gekonnt auf alt gemacht" ist und "lauter alte Flecken zu einem neuen Stoff zusammen montiert".
Christologische Deutung des Mariendogmas
Gerade diese Verbindung von Alt und Neu sowie die bildreiche Sprache Khuens und Dreves' dürften "Sagt an, wer ist doch diese" jedoch so populär gemacht haben. Mit der Aufnahme in die Sammlung "Kirchenlied" von 1938 trat das Lied seinen endgültigen Siegeszug in den katholischen Gemeinden an. Von den damals fünf Strophen wurden zwei in das Gotteslob von 1975 übernommen und um eine neu gedichtete Strophe ergänzt. Mit dieser wollte man dem Marienlied eine christologische Deutung geben. Schließlich ist der Glaube an die Jungfräulichkeit kein theologischer Selbstzweck – so die intendierte Aussage –, sondern steht in engem Zusammenhang mit dem Erlösungswerk Jesu:
Du strahlst im Glanz der Sonne, / Maria, hell und rein;
von deinem lieben Sohne / kommt all das Leuchten dein.
Durch diesen Glanz der Gnaden / sind wir aus Todes Schatten
kommen zum wahren Schein.
Pate stand bei diesen Versen das Bild von Sonne und Mond als Symbol für das Verhältnis Christi zur Kirche, wie es etwa auf vielen mittelalterlichen Turmspitzen zu sehen ist: Der Mond (im Lateinischen weiblich: luna) schmiegt sich an die Sonne (männlich: sol) – so wie der Mond nur leuchtet, weil er von der Sonne angestrahlt wird, hat die Kirche ihre Berechtigung nur, wenn sie auf Christus hinweist.
Im neuen Gotteslob von 2013 wurde die christologische Strophe wieder fallengelassen und durch die der Vorgängerfassung – "Sie strahlt im Tugendkleide …" – ersetzt. Bei aller Wertschätzung für die Richtlinie, beim Erstellen des neuen Gesangbuchs auf größtmögliche textliche Authentizität zu achten, muss man diese Entscheidung der Liedkommission bedauern: Gerade in einer Zeit, in der auch in der Kirche um Rollenbilder und das Verhältnis der Geschlechter gerungen wird, wären Anknüpfungspunkte an ein Marienbild, das nicht auf die Reinheit und Jungfräulichkeit reduziert ist, wichtiger denn je. Die changierenden Identifikationsmöglichkeiten im Hohenlied der Liebe bieten hierfür eine lange Tradition: "Sagt an, wer ist doch diese" – Maria, die Kirche, jede und jeder Christgläubige oder einfach ein Mensch, der Sehnsucht nach Gott hat?
Linktipp
Die Bayerischen Staatsbibliothek stellt ein Digitalisat des "Epithalamium Marianum" von Johannes Khuen in der Ausgabe von 1644 bereit.
GL 531: Sagt an, wer ist doch diese
Sagt an, wer ist doch diese, / die auf am Himmel geht,
die überm Paradiese / als Morgenröte steht?
Sie kommt hervor von ferne, / es schmückt sie Mond und Sterne,
die Braut von Nazaret.
Sie ist die reinste Rose, / ganz schön und auserwählt,
die Magd, die makellose, / die sich der Herr vermählt.
O eilet, sie zu schauen, / die schönste aller Frauen,
die Freude aller Welt!
Sie strahlt im Tugendkleide, / kein Engel gleichet ihr;
die Reinheit ihr Geschmeide, / die Demut ihre Zier,
ein Blumengart verschlossen, / mit Himmelstau begossen,
so blüht sie für und für.
[Sie ist der Himmelsheere, / der Engel Königin,
der Heilgen Lust und Ehre, / der Menschen Trösterin,
die Zuflucht aller Sünder, / die Hilfe ihrer Kinder,
die beste Mittlerein.
Drum fallen wir zu Füßen / der Jungfrau gnadenreich
und sie mit Andacht grüßen / aus Herz und Mund zugleich;
ihr Leib und Seel und Leben / wir gänzlich übergeben
zur Hut ins Himmelreich.]
Text: nach Johannes Khuen (1638) und Guido Maria Dreves (1885)
Melodie: nach Joseph Clauder (1631)
Die [eingeklammerten Strophen] sind im Gotteslob nicht abgedruckt.