NGL mit Anspruch: "Der Herr wird dich mit seiner Güte segnen"
"Lasst uns bedenken, was wir singen!" Das riet um 400 nach Christus Niketa von Remesiana, ein Bischof auf dem Balkangebiet, seiner Gemeinde in einer Predigt über den "Nutzen von Hymnen". Aber vielleicht gilt seine Aufforderung ja bis heute! Bei dem bald 25 Jahre alten neuen geistlichen Lied "Der Herr wird dich mit seiner Güte segnen" lässt sich Manches bedenken: der Entstehungsanlass und die Autoren, die Qualität des Wort-Ton-Verhältnisses und die Aufnahme in Liederbücher sowie in das Gebet- und Gesangbuch Gotteslob (2013), in dem das Stück unter der Rubrik "Segen" zu finden ist. Frei nach dem zitierten altkirchlichen Bischof lässt sich der spirituelle Gehalt der sieben Strophen mitsamt Kehrvers zunächst so zusammenfassen: "Lasst uns besingen, wie wir segnen!"
Das Lied ist ein Beitrag aus dem poetisch-musikalisch bunten Genre des "NGL", des Neuen geistlichen Liedes. Das erkennt man etwa an den Akkordsymbolen über den Noten. Sie zeigen überdies an, dass diese Musik nicht für unbegleitetes Singen gedacht ist. Die Melodie erschließt sich nämlich über ihr "harmonisches Gewand". Sogar die wechselnden Vorzeichen gelingen mit Hilfe der akkordischen Begleitung: Wir singen fis und f, h und b, cis und c – eine insgesamt "farbige" Musik in D-Dur, die in einigen Passagen jedoch nach F-Dur tendiert.
Manches hat dieses Lied mit vielen anderen gemeinsam: Der Wortlaut wird am Sprachrhythmus entlang deklamiert, wobei die vielen kurzen Auftakte die Melodie im Schwung halten. Stimmig platzierte Viertelnoten unterstreichen die wichtigen Worte. Und eine Steigerung ergibt sich, wenn jede Strophe mit der längsten "Achtelkette" ans Ziel kommt. Eine Besonderheit noch: Der Schluss des Kehrverses, der beim ersten Erklingen zunächst vorgesungen und dann von allen wiederholt werden sollte, erklingt mit zwei verschiedenen Harmonien: "… und leuchten soll dir seines Friedens Licht" öffnet sich harmonisch bei "Licht", mit dem Akkord auf A-Dur, und drängt so zur Wiederholung und zu den Strophen hin. Ganz am Schluss jedoch rückt diese Harmonie etwas weiter nach vorn auf die Worte "(sei-)nes Friedens", damit zu "Licht" D-Dur erklingen kann. Erst jetzt sind wir "zu Hause" angekommen, in der Grundtonart. Diese abschließende Wendung gelingt am besten, wenn sie mit einer Verbreiterung des Tempos einhergeht, was man "Schluss-Ritardando" nennt.
Wort und Musik als Koproduktion zweier Autoren
Blicken wir in die Liedgeschichte. Als das 1973 gegründete Amt für Kirchenmusik der Erzdiözese Freiburg seinem 25-jährigen Jubiläum entgegenging, suchte man nach einem passenden Segenslied für den Dankgottesdienst. Als poetischer Vorschlag kam der Text "Der Herr wird dich mit seiner Güte segnen" aus der Feder des Franziskanerpaters Helmut Schlegel ins Spiel. Von ihm, der fast 12 Jahre in Frankfurt-Bornheim das "Zentrum für christliche Meditation und Spiritualität" geleitet hat und heute im Franziskanischen Zentrum für Stille und Begegnung in Hofheim am Taunus lebt, stammen etwa 300 Liedtexte, darunter das Marienlied "Glauben können wie du". Auch etliche oratorische Werke hat er verfasst, neuerdings gemeinsam mit Eugen Eckert den Text zum Pop-Oratorium "EINS" für den digitalen Ökumenischen Kirchentag 2021.
Schlegels Segenstext ist 1983 entstanden und bald darauf von Winfried Heurich vertont worden. In Freiburg entschied man sich 1998 jedoch für eine neue Komposition durch den Kirchenmusiker Thomas Gabriel. Er war damals in Saarbrücken tätig, anschließend als Regionalkantor in Seligenstadt, Bistum Mainz, mit dem Schwerpunkt "Neues Geistliches Lied". Er gibt Konzerte als Organist und Cembalist und wirkt auch bei Fernsehgottesdiensten mit. Zahlreiche Messvertonungen und Oratorien sowie Stücke für Katholikentage und den Weltjugendtag 2005 stammen von ihm. Zudem ist er Pianist des Thomas Gabriel Trios, dessen Schwerpunkt auf Jazz-Bearbeitungen von Werken Johann Sebastian Bachs liegt. Beim Gotteslob 2013 war Thomas Gabriel federführend am zweibändigen Klavierbuch beteiligt.
Uraufführung im Freiburger Münster
"Der Herr wird dich mit seiner Güte segnen" erklang erstmals am Samstag, 3. Oktober 1998 im Freiburger Münster beim "Dankgottesdienst 25 Jahre Amt für Kirchenmusik der Erzdiözese Freiburg". Damals war das Lied die Einstimmung auf den Segen. Im Notenheft lautete die "Regieanweisung" für die vielen mitfeiernden neben- und hauptberuflichen Kirchenmusiker*innen: "Kehrvers alle, Strophen jedoch aufgeteilt auf die beiden Chorseiten", was mit I und II in den Noten markiert ist (siehe Abb.) und ins Gotteslob nicht übernommen wurde.
Am Ende des Chorheftes schrieb der damalige Diözesankirchenmusikdirektor Matthias Kreuels: "Wir danken dem Textautor für die freundliche Erlaubnis zu einer neuen musikalischen Fassung; zugleich danken wir dem Komponisten für seine Bereitschaft, eine solche Aufgabe (… das Lied soll in die Diözese gehen!) zu übernehmen."
Ob sich ein Lied durchsetzt und "ankommt", ja vielleicht sogar zum "Ohrwurm" wird – das sind spannende Fragen der Rezeption und, musikalisch ausgedrückt, der Resonanz. Niemand kann gewiss voraussagen, ob, wann und wie der Funke überspringt. Bei diesem Lied hat sich der Wunsch, dass es "in die Diözese gehen" soll, rasch erfüllt. Nicht zuletzt auf Kursen der kirchenmusikalischen C-Ausbildung wurde und wird es gern gesungen. Die Aufnahme ins Gotteslob war dennoch nicht selbstverständlich. Die besten Chancen haben hier Lieder, die ebenso qualitätsvoll wie praxistauglich sind. Und das trifft wohl bei diesem Segenslied par excellence zu.
Die Worte: biblisch inspiriert und musikalisch inspirierend
Die spirituelle "Tonart" ist biblisch. Im alttestamentlichen Buch Numeri steht der "Aaronitische Segen". Er heißt so, weil Aaron, der Bruder des Mose, das Volk mit diesen Worten segnen soll. Helmut Schlegel wählt als Inspirationsquelle seines Refrains (und der Strophen von 1 bis 7) diese Verse in der Luther-Übersetzung:
"Der HERR sprach zu Mose: Sag zu Aaron und seinen Söhnen: So sollt ihr die Israeliten segnen; sprecht zu ihnen: Der HERR (vgl. Strophe 1) segne dich (2) und behüte dich (3). Der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir (4) und sei dir gnädig (5); der HERR hebe sein Angesicht über dich (6) und gebe dir Frieden (7). So sollen sie meinen Namen auf die Israeliten legen und ich werde sie segnen" (Numeri 6,22–27).
An den biblischen und liturgisch in allen Konfessionen bedeutsamen Worten orientiert sich zunächst der Kehrvers. Die sieben Strophen sind dann Variationen darüber. Jeder Vers widmet sich einem Aspekt des Aaronitischen Segens, der somit gleichsam "aufgeblättert" und entfaltet wird. Fast könnte man – ganz musikalisch – sagen, dass die Strophen die einzelnen Themen des Segens "orchestrieren".
Im Einzelnen: Mit dem "Herrn" (1) ist der Schöpfer gemeint: "Der Herr ist Gott, er schuf das Universum". Das ist sozusagen die Perspektive des "Makrokosmus". Das Lied erinnert aber auch an den "Mikrokosmos", denn jedem einzelnen Menschen gilt Gottes Zusage gemäß Jesaja 14,16: "Sieh her: Ich habe dich eingezeichnet in meine Hände."
Auf die Schöpfung folgt in der zweiten Strophe die Erhaltung. Damit ist gemeint, dass Gott seine Schöpfung bewahrt. Sogar der theologisch beliebte "Dreiklang" von Schöpfung, Bewahrung und Vollendung kommt zur Geltung, ausgehend von einem biblisch-liturgischen Zitat, das in der Formulierung "Vollenden möge er, was du begonnen" aufklingt. In der Liturgie der Weihe und auch beim Begräbnis heißt es: "Gott selbst vollende das gute Werk, das er in dir begonnen hat." Die biblische Quelle steht im Philipperbrief des Apostels Paulus: "Ich vertraue darauf, dass er, der bei euch das gute Werk begonnen hat, es auch vollenden wird bis zum Tag Christi Jesu" (Philipper 1,6).
Gemeinschaft und Friede als Liedthemen
Ab der vierten Strophe tritt zum Handeln Gottes jeweils ein Impuls für das eigene Tun. Segen empfangen ist das Eine. Hinzu kommt das Weitergeben, ohne das der Segen unfruchtbar bliebe. Der Gesegnete wird so zum "Werkzeug für Gott in dieser Zeit". Hier steht poetisch nicht die Bibel Pate, sondern das Zweite Vatikanische Konzil, das die Kirche "Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit" nennt (Konstitution über die Kirche "Lumen gentium", 1).
Strophe 5 ergänzt die Zuwendung des Segens mit der Abwendung des Unheilvollen: "und lösche aus, was dich von ihm entzweit". Wenn diese Last genommen ist, kann der Mensch neu aufatmen. Die vorletzte Strophe bringt eine weitere wichtige Ergänzung. Dieses Lied könnte individualistisch missverstanden werden: Gott und ich, sonst nichts! Das aber wäre falsch, weil das Ich ja in der Gemeinschaft des Wir steht – was beim Singen besonders intensiv erlebbar wird. Im Hintergrund steht wieder eine biblische Einsicht: Der Geist stiftet Gemeinschaft, was der Apostel Paulus "Koinonia" nennt. Im Wort "Friede" (Strophe 7) sind alle Aspekte versammelt. Segen empfangen, das heißt: mit Friede erfüllt sein, so dass das Empfangen zum Weiterschenken wird: "… dass selber du zum Frieden bist bereit"
Einheit und Vielfalt: ein perspektivenreiches Lied
Dieses Lied ist reich an Worten und Tönen, aber auch an "Obertönen", die zu bedenken sich lohnt. Vielleicht wird es deshalb so breit rezipiert, weil es ebenso anspruchsvoll wie ansprechend ist. Auch verbindet sich die leichtfüßige Achtelbewegung mit einer im Bereich des Neuen geistlichen Liedes nicht selbstverständlichen Feierlichkeit, zumal der Komponist das Lied in der Korrespondenz mit seinen Auftraggebern als "hymnisch und kraftvoll" charakterisiert.
Letztlich kommt dem Lied zugute, dass seine vielen Aspekte durch den Aaronitischen Segen gleichsam zusammengehalten werden. Auch der Wechsel der Perspektive vom aussagenden "Der Herr wird dich …" (1) über das zusagende "Gott segne dich …" (2) bis zum "Sich-Hineinsingen" in die Wir-Form "Er lebt mit uns, …" (6) wirkt abwechslungsreich, ohne dass die Einheit verloren geht. Dieses Lied ist biblisch fundiert und stimmig aufgebaut, musikalisch interessant und liturgisch anschlussfähig. Im Gotteslob zählt es gewiss zu den textlich wie musikalisch anspruchsvollen Stücken. Im Sinne einer "gestuften Feierlichkeit" brauchen wir in der Kirchenmusik beides: Lieder, die in vielen Situationen realisierbar sind und solche, die bestimmten Höhepunkten vorbehalten bleiben – wie etwa damals dem 25-jährigen Jubiläum des Amts für Kirchenmusik in Freiburg, dem im übernächsten Jahr bereits das 50-jährige folgen wird. Vielleicht auch mit diesem Lied, womöglich in einem neuen musikalischen Arrangement.
Der Autor
Der Musikwissenschaftler und Theologe Meinrad Walter (*1959) ist Referent im Amt für Kirchenmusik der Erzdiözese Freiburg und stellvertretender Leiter des Instituts für Kirchenmusik an der Musikhochschule Freiburg. Neben seiner Tätigkeit im Rundfunk hat er zahlreiche Bücher publiziert, unter anderem zu den Werken von Johann Sebastian Bach sowie zu Liedern des Gotteslob.
GL 452: Der Herr wird dich mit seiner Güte segnen
Kv. Der Herr wird dich mit seiner Güte segnen,
er zeige freundlich dir sein Angesicht,
der Herr wird mit Erbarmen dir begegnen,
und leuchten soll dir seines Friedens Licht.
1. Der Herr ist Gott, er schuf das Universum,
er hauchte Leben ein in Meer und Land.
Er schuf auch dich und gab dir einen Namen.
Geschrieben stehen wir in Gottes Hand.
2. Gott segne dich mit seinem reichen Segen,
er schenke Wachstum, dort wo du gesät.
Vollenden möge er, was du begonnen,
wenn er zum Mahl des Gottesreiches lädt.
3. Behüten soll er dich und all die Deinen,
und täglich sollst du sehn, dass er dich liebt.
Er schütze dich mit seinen guten Händen,
und sei das Haus, das bergend dich umgibt.
4. Sein Angesicht soll brüderlich dir leuchten,
sein Licht erhelle deine Dunkelheit.
An seiner Liebe sollst du Feuer fangen
und Werkzeug sein für Gott in dieser Zeit.
5. Er schenke dir Vergebung und Erbarmen
und lösche aus, was dich von ihm entzweit.
Erheben sollst du dich und wieder atmen,
der Herr hat dich von aller Last befreit.
6. Der Herr soll dich mit seinem Blick begleiten;
dir Zeichen geben, dass du dankbar weißt:
Er lebt mit uns, wir alle sind Geschwister,
uns führt zusammen Jesu guter Geist.
7. Der Herr und Gott erfülle dich mit Frieden,
mit Lebensmut und mit Gerechtigkeit,
er öffne dir das Herz und auch die Hände,
dass selber du zum Frieden bist bereit.
Text: Helmut Schlegel OFM (*1943)
Musik: Thomas Gabriel (*1957)