Maurizio Chiodi ist Mitglied der neunten Weltsynoden-Expertengruppe

Moraltheologe: Traditionelle Überlegungen zu Homosexualität überdenken

Veröffentlicht am 02.08.2024 um 00:01 Uhr – Von Mario Trifunovic – Lesedauer: 

Mailand/Bonn ‐ Vor kurzem wurde der italienische Moraltheologe Maurizio Chiodi von Papst Franziskus zum Mitglied der Expertengruppe zu strittigen Fragen ernannt. Manche hatten ihn zuvor für seine Haltung zu kontroversen Themen wie Homosexualität kritisiert. Nun spricht er im katholisch.de-Interview darüber.

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Im kommenden Herbst geht die Weltsynode in ihre zweite und letzte Sitzungsperiode. Doch damit wird der synodale Prozess nicht abgeschlossen sein, erklärt der italienische Moraltheologe Maurizio Chiodi im Interview mit katholisch.de. Die Weltsynode allein könne nicht alle Fragen sofort lösen, deshalb würden die zehn von Papst Franziskus eingesetzten Expertengruppen zu "heißen Eisen" im synodalen Geist auch nach der Weltsynode ihre Arbeit fortsetzen. Er gehört einer von ihnen an. Chiodi ist Priester der Diözese Bergamo und war von 1997 bis 2016 Dozent für Bioethik an der Theologischen Fakultät Norditalien in Mailand. Derzeit ist er Professor für Moraltheologie an derselben Fakultät, am Priesterseminar von Bergamo und am Institut für Religionswissenschaften in Mailand und Bergamo. Papst Franziskus ernannte ihn 2017 zum ordentlichen Mitglied der Päpstlichen Akademie für das Leben. Seit 2019 lehrt er am Päpstlichen Theologischen Institut Johannes Paul II. für Ehe- und Familienwissenschaften in Rom, das zur Päpstlichen Lateranuniversität gehört.

Frage: Professor Chiodi, Papst Franziskus hat Sie zum Mitglied der Expertengruppe für strittige pastorale und ethische Fragen ernannt. Was erwarten Sie von dieser Gruppe? 

Chiodi: Unsere Gruppe befasst sich mit dem Thema "Theologische Kriterien und synodale Methoden für eine gemeinsame Unterscheidung in lehrmäßigen, pastoralen und ethischen Streitfragen". Wir sind sehr verschieden in unseren Kompetenzen und in unserer Herkunft – Italien, Südamerika, Afrika (Kongo) –, wir sind Männer und Frauen, aber das ist eine große Chance und eine sehr wichtige Voraussetzung, um gute Arbeit zu leisten. Jeder von uns kann seine Kompetenz und seine Perspektive einbringen, um unsere Überlegungen als Theologen zu teilen. Das ist das allgemeine Ziel unserer Gruppe: Theologie zu treiben, über unseren Glauben und seine praktischen Auswirkungen in der heutigen Welt nachzudenken, einer Welt, die sich im Vergleich zu früher sehr verändert hat. 

Frage: Mit welchen konkreten Fragen wird sich Ihre Expertengruppe befassen? 

Chiodi: Der Auftrag unserer Expertengruppe hat zwei Schwerpunkte: Der erste ist die Erarbeitung von Unterscheidungskriterien, der zweite die Behandlung einiger wichtiger lehrmäßiger, ethischer und pastoraler Fragen in der katholischen Kirche von heute. Wie das Instrumentum laboris sagt, geht es dabei auch um homosexuelle Christen sowie um Fragen im Zusammenhang mit Gender und Polygamie. Es ist klar, dass es unmöglich ist, all diese Fragen in einem kleinen Kreis von Theologen und Gläubigen zu "lösen". Wir befinden uns in einem Prozess mit der ganzen Weltkirche, auch wenn die Fragen sehr unterschiedlich sind: Polygamie ist ein typisch afrikanisches Thema, während die anderen Themen auch in westlichen Ländern viel diskutiert werden.  

Frage: Gibt es ein konkretes Ziel? 

Chiodi: Das Hauptziel unserer Gruppe besteht also darin, Kriterien vorzuschlagen, d.h. eine Methode, einen Stil und eine Art und Weise, wie man mit kontroversen Fragen und Themen umgehen kann. Zwischen den Kriterien und den konkreten Themen besteht natürlich eine Art positiver Kreislauf. Letztlich ist die Verbindung zwischen Kriterien und konkreten Fragen sehr eng mit dem Verhältnis von Praxis und Theorie in der Kirche, aber auch ganz allgemein im menschlichen Leben verbunden. Ich denke, dass wir angesichts der aktuellen Probleme nicht so vorgehen können, dass wir aus abstrakten Prinzipien sogenannte "Lösungen" ableiten. Wir sollten immer von der Erfahrung, der konkreten Geschichte der Menschen ausgehen, natürlich ohne dabei die Frage nach dem universellen Gut zu vergessen, das in jeder Situation enthalten ist. Erst am Ende dieses Prozesses sind wir in der Lage, dass konkret mögliche Gute zu erkennen. 

Beratungen bei der Weltsynode
Bild: ©Cristian Gennari/Romano Siciliani/KNA

Der erste Schritt der Unterscheidung besteht darin, jeden zu Wort kommen zu lassen und den Fragen, die er stellt, aufmerksam zuzuhören. Ohne die Akzeptanz des Anderen – die eine Akzeptanz der Andersheit ist – kann es keinen echten Dialog geben, so Chiodi.

Frage: Was erwarten Sie von den weiteren Expertengruppen der Weltsynode? 

Chiodi: Ich bin mir der großen Geschichte der Kirche bewusst und weiß sehr wohl, dass diese Zeit eine Zeit der Krise ist, eine Zeit, in der wir angesichts neuer Möglichkeiten und Schwierigkeiten nachdenken und entscheiden müssen. Aber ich glaube, dass jede Kultur ihre Chancen und Herausforderungen hat, die es zu bewältigen gilt. Die Synode zur Synodalität sagt uns, dass wir, besonders in der Kirche, den Herausforderungen dieser Zeit nicht allein begegnen können, sondern, dass wir dazu einen Geist benötigen, der das Evangelium ins Heute übersetzt. Die zehn Gruppen werden ihre Arbeit auch nach dem Ende der Synode fortsetzen, denn Papst Franziskus und wir alle sind uns sehr bewusst, dass diese Herausforderungen zu den großen Themen unserer Zeit gehören. 

Frage: Hat Papst Franziskus die Weltsynode entschärft, indem er so genannte "heiße Eisen" wie das Frauendiakonat ausgelagert hat? 

Chiodi: Ich glaube nicht, dass Papst Franziskus damit die Synode entschärfen wollte. Wichtiger ist, dass wir nicht denken sollten, dass eine Synode wie ein Allheilmittel alles lösen kann. Wir können nicht erwarten, dass eine Versammlung, auch wenn sie sehr wichtig ist, alle Probleme lösen kann. Im Gegenteil, ich glaube, dass die Synodalität einen Weg eröffnet, um die Unterschiede und die Einheit in der Kirche in einem Prozess zu verbinden, der nie abgeschlossen sein wird. 

Frage: In konservativen Kreisen werden Sie der "italienische James Martin" genannt, wegen eines Interviews, das Sie 2019 der Zeitung "Avvenire" gegeben haben. Darin betonten Sie unter anderem, dass die Kirche ihre Haltung zur Homosexualität überdenken müsse. Können Sie das präzisieren? 

Chiodi: Ich bin nicht in der pastoralen Begleitung von LGBT+-Gruppen tätig, sondern nur ein Theologe, der sich ebenfalls mit diesen Fragen beschäftigt. Zunächst möchte ich sagen, dass es natürlich unmöglich ist, in wenigen Zeilen einen neuen – aber notwendigen – Zugang zur Homosexualität zu entwickeln. Ich glaube, dass wir heute die traditionellen – und für unsere Zeit unverständlichen – ethischen Überlegungen zur Homosexualität überdenken müssen. Wenn wir in der Vergangenheit von Homosexualität als "contra naturam" gesprochen haben, müssen wir uns heute fragen: Was bedeutet "natura"? Dieses lateinische Wort hat viele – sehr unterschiedliche – Bedeutungen, vor allem die Bedeutung der Universalität, und wir müssen anerkennen, dass die Universalität für die moralische Erkenntnis notwendig ist. Aber wir können die Universalität (das Gute und das Gesetz) nicht ohne die Singularität (das Gewissen) denken, die im Sinne der Kulturanthropologie immer zu einer bestimmten Kultur gehört. Moral kann nicht auf eine Vernunft reduziert werden, die nicht in tiefer Verpflichtung gegenüber der Erfahrung und dem gelebten Leben eines individuellen Gewissens mit seiner spezifischen Kultur steht. 

Bild: ©Vatican Media/Romano Siciliani/KNA

Moraltheologe Chiodi zur Auslagerung der "heißen Eisen" aus der Weltsynode: "Ich glaube nicht, dass Papst Franziskus damit die Synode entschärfen wollte. Wichtiger ist, dass wir nicht denken sollten, dass eine Synode wie ein Allheilmittel alles lösen kann."

Frage: Das heißt? 

Chiodi: Ich glaube, dass die sexuelle Differenz konstitutiv für die menschliche Existenz ist, denn sie ist der Ursprung unseres Lebens: Wir alle wissen, dass wir als Kind von einer Mutter und einem Vater abstammen. Ein homosexueller Mensch leugnet dies nicht. Aber er empfindet diesen Unterschied für sich selbst nicht als attraktiv. Diese sexuelle Orientierung hängt nicht von seiner Entscheidung ab. Wir müssen uns fragen: Was ist das mögliche Gute für eine solche Person? Die Frage einer homosexuellen Person besteht darin, ihre Sexualität zu leben, indem sie ihre Berufung zu Beziehungen anerkennt, die fähig sind zu Nähe, Sorge, Gemeinschaft und Treue zum anderen, und indem sie nach dem Guten sucht, das ihr konkret möglich ist. 

Frage: Das würde auch Segnungen einschließen, allerdings hat die Segnungserklärung "Fiducia supplicans" weltweit unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen: In Afrika wurde sie abgelehnt, in Deutschland als "Segen light" bezeichnet. Warum? 

Chiodi: "Fiducia supplicans" hat ein klares Ziel: Einerseits will es das traditionelle Urteil der Kirche über Homosexualität nicht ändern, andererseits schlägt das vatikanische Dokument einen neuen pastoralen Umgang mit der Bitte homosexueller Paare um einen Segen für ihr Leben vor. Das Papier unterscheidet diesen Segen aber klar von jeder Art liturgischen Segens und der sakramentalen Eheschließung. Diese Antwort des Vatikan wirft jedoch eine weitere Frage auf: Wie können wir ausgehend von dieser neuen pastoralen Haltung unseren theoretischen Ansatz neu formulieren? Das ist eine Aufgabe für die gesamte Kirche. 

Frage: Eine Neuformulierung würde sicherlich auch Kontroversen auslösen. Aber wie kann die Kirche stärker mit Menschen ins Gespräch kommen, die eine Diskussion über solche Themen völlig ablehnen? 

Chiodi: Ich glaube, wir müssen die Bedeutung der Unterscheidung erkennen. Unterscheidung bedeutet nicht, zu akzeptieren, dass es verschiedene Wahrheiten gibt, sondern anzuerkennen, dass die Wahrheit Gottes in der Geschichte Christi Fleisch geworden ist. Die Wahrheit Gottes braucht einen Zuhörer und einen Gesprächspartner. Wir müssen also ernsthaft akzeptieren, was die Geschichtlichkeit des christlichen Glaubens, seine moralische Erfahrung und die damit verbundenen Zeugnisse bedeuten. Der erste Schritt der Unterscheidung besteht darin, jeden zu Wort kommen zu lassen und den Fragen, die er stellt, aufmerksam zuzuhören. Ohne die Akzeptanz des Anderen – die eine Akzeptanz der Andersheit ist – kann es keinen echten Dialog geben. Natürlich geht der Prozess – oder die Tugend – der Unterscheidung weiter, indem man gemeinsam über das "Gute" nachdenkt, das in allen konkreten Situationen und Positionen enthalten ist: das ist der zweite Schritt. Am Ende der Unterscheidung steht die Entscheidung über das moralisch Gute, das in dieser komplexen und unklaren Situation möglich ist. 

„Ich glaube, dass wir heute die traditionellen – und für unsere Zeit unverständlichen – ethischen Überlegungen zur Homosexualität überdenken müssen.“

—  Zitat: Moraltheologe Chiodi

Frage: Damit sind wir auch bei einem weiteren Thema: der künstlichen Empfängnisverhütung. Nun ist die Kirche dafür bekannt, dass sie eine Sexualmoral vertritt, die von vielen als nicht mehr zeitgemäß empfunden wird. Sie haben 2019 in einem Vortrag an der Päpstlichen Universität Gregoriana hinsichtlich der künstlichen Empfängnisverhütung mit Amoris laetitia argumentiert, um zu betonen, dass diese unter bestimmten Umständen sogar geboten sein kann. Muss die Kirche ihre Sexualmoral komplett überdenken und neu formulieren? 

Chiodi: Es gab einen italienischen katholischen Philosophen, Pietro Prini, der noch Ende des letzten Jahrhunderts von einem "versteckten Schisma" in der katholischen Kirche gesprochen hat, vor allem in Bezug auf die Sexualmoral. Ich glaube nicht, dass wir unsere Tradition verwerfen müssen, aber wir müssen sie überdenken und neu formulieren, ausgehend von der Bibel, im Dialog mit Christen, um von ihren Erfahrungen zu hören. Das Ziel dieses schwierigen Prozesses mit seinen unvermeidlichen Spannungen ist es, das Gute Gottes für unsere Menschheit zu finden, heute, in dieser Zeit.  Die Theologie muss sich bemühen, einen neuen Stil – oder einen "Modellwechsel" – vorzuschlagen, um heute ethisch und theologisch zu denken, sowohl in der Bioethik als auch in einigen Fragen der Sexualmoral. 

Von Mario Trifunovic